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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Leser haben in diesem wunderlichen Verfahren nur die Krankheit deS Rene
gesucht, indeß liegt noch ein Hautgout darin. Octave hat einen physischen
Grund, sich vor der Hochzeitsnacht zu todten. Ueber den physiologischen Sinn
dieses Uebels hat sich Beyle in seinen Briefen an Merimee weitläufig aus¬
gesprochen. Es ist nicht leicht, sich einen widerlichem Eindruck zu denken.
Ein zweiter Katzenberger, sucht Beyle das Originelle in der Monstrosität, und
als Materialist verlegt er ins medicinische Gebiet, was V. Hugo wenigstens
im Ganzen auf dem Felde der sittlichen Conflicte verarbeitete. Der Scandal
hat nicht gewirkt, weil die Farbe zu verwaschen war; daS Buch ist unbeachtet
vorübergegangen. Neben der leitenden Idee hat es den Zweck, die vornehme
Welt jener Zeit, namentlich die Kongregation und ihre Einwirkungen zu schil¬
dern; doch verräth die Schilderung mehr Haß als Sachkenntnis Der Fau-
bourg Se. Germain war damals den Schriftstellern noch verschlossen.

Der zweite Roman: I^e ron^e et Is rioir, ekroniqus neu eux-neuvlsms
giöele (1830) gründet sich auf eine wirkliche Criminalgeschichte. Er machte
Glück, weil dies Mal das naturwidrige Problem durch eine mannigfaltige
Handlung und durch interessante Einzelnheiten getragen war. Der Anfang
ist vortrefflich. Die Schilderung der lächerlichen Aristokratie in den kleinen
Städten erinnert an die besten Genremalereien von Balzac. Aber bald be¬
ginnt die Caprice. Herr von Renal, der Aristokrat jener kleinen Stadt, will
für seine Kinder einen Hauslehrer halten. Ein Bauerssohn, Julien Sorel,
wird dazu auserwählt. Noch ein halbes Kind, schüchtern und voll Thränen
tritt er in das fremde Haus; Frau von Renal nimmt sich mütterlich seiner an.
Aber das anscheinende Kind ist innerlich durch einen brennenden Ehrgeiz und
eine wilde Eitelkeit bereits verdorben. Er hat seinem Leben ein Gesetz ent¬
worfen; er will Glück machen und jede seiner Capricen durchsetzen. Unter
Napoleon, den er heimlich anbetet, wäre er mit Freuden Soldat geworden;
unter der Restauration wird er Priester, obgleich ausgesprochener Atheist. Um
sich mächtige Verbindungen zu verschaffen, will er die reiche und schöne Frau
verführen. Er setzt sich dazu einen bestimmten Termin; wenn eS ihm bis da¬
hin nicht gelingt, will er sich eine Kugel durch den Kopf jagen. Es gelingt
ihm, denn der junge Tartüffe wendet die raffinirtesten Mittel an; Frau von
Renal, in welcher Beyle alles Zarte und Edle hat vereinigen wollen, dessen
seine Phantasie fähig war, ergibt sich ihm. Aber die Sache wird öffentlich,
Julien muß das Haus verlassen und tritt in ein Seminar. Hier werden nun
mit grellen Farben die Mittel geschildert, deren sich die Kongregation bedient,
um in die jungen Seelen das Gift verderblicher Doctrinen einzuflößen. Als
vollendeter Jesuit kommt Julien in ein vornehmes Haus, wo sich die erste
Gesellschaft der Zeit zusammenfindet, sämmtliche Personen wegen ihrer Thaten
wie wegen ihrer Ideen des Galgens würdig -- Julien verführt die Tochter


Leser haben in diesem wunderlichen Verfahren nur die Krankheit deS Rene
gesucht, indeß liegt noch ein Hautgout darin. Octave hat einen physischen
Grund, sich vor der Hochzeitsnacht zu todten. Ueber den physiologischen Sinn
dieses Uebels hat sich Beyle in seinen Briefen an Merimee weitläufig aus¬
gesprochen. Es ist nicht leicht, sich einen widerlichem Eindruck zu denken.
Ein zweiter Katzenberger, sucht Beyle das Originelle in der Monstrosität, und
als Materialist verlegt er ins medicinische Gebiet, was V. Hugo wenigstens
im Ganzen auf dem Felde der sittlichen Conflicte verarbeitete. Der Scandal
hat nicht gewirkt, weil die Farbe zu verwaschen war; daS Buch ist unbeachtet
vorübergegangen. Neben der leitenden Idee hat es den Zweck, die vornehme
Welt jener Zeit, namentlich die Kongregation und ihre Einwirkungen zu schil¬
dern; doch verräth die Schilderung mehr Haß als Sachkenntnis Der Fau-
bourg Se. Germain war damals den Schriftstellern noch verschlossen.

Der zweite Roman: I^e ron^e et Is rioir, ekroniqus neu eux-neuvlsms
giöele (1830) gründet sich auf eine wirkliche Criminalgeschichte. Er machte
Glück, weil dies Mal das naturwidrige Problem durch eine mannigfaltige
Handlung und durch interessante Einzelnheiten getragen war. Der Anfang
ist vortrefflich. Die Schilderung der lächerlichen Aristokratie in den kleinen
Städten erinnert an die besten Genremalereien von Balzac. Aber bald be¬
ginnt die Caprice. Herr von Renal, der Aristokrat jener kleinen Stadt, will
für seine Kinder einen Hauslehrer halten. Ein Bauerssohn, Julien Sorel,
wird dazu auserwählt. Noch ein halbes Kind, schüchtern und voll Thränen
tritt er in das fremde Haus; Frau von Renal nimmt sich mütterlich seiner an.
Aber das anscheinende Kind ist innerlich durch einen brennenden Ehrgeiz und
eine wilde Eitelkeit bereits verdorben. Er hat seinem Leben ein Gesetz ent¬
worfen; er will Glück machen und jede seiner Capricen durchsetzen. Unter
Napoleon, den er heimlich anbetet, wäre er mit Freuden Soldat geworden;
unter der Restauration wird er Priester, obgleich ausgesprochener Atheist. Um
sich mächtige Verbindungen zu verschaffen, will er die reiche und schöne Frau
verführen. Er setzt sich dazu einen bestimmten Termin; wenn eS ihm bis da¬
hin nicht gelingt, will er sich eine Kugel durch den Kopf jagen. Es gelingt
ihm, denn der junge Tartüffe wendet die raffinirtesten Mittel an; Frau von
Renal, in welcher Beyle alles Zarte und Edle hat vereinigen wollen, dessen
seine Phantasie fähig war, ergibt sich ihm. Aber die Sache wird öffentlich,
Julien muß das Haus verlassen und tritt in ein Seminar. Hier werden nun
mit grellen Farben die Mittel geschildert, deren sich die Kongregation bedient,
um in die jungen Seelen das Gift verderblicher Doctrinen einzuflößen. Als
vollendeter Jesuit kommt Julien in ein vornehmes Haus, wo sich die erste
Gesellschaft der Zeit zusammenfindet, sämmtliche Personen wegen ihrer Thaten
wie wegen ihrer Ideen des Galgens würdig — Julien verführt die Tochter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/118>, abgerufen am 23.07.2024.