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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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vilegirtes Straßenorchester vor den Kirchthüren sitzt, blind, lahm oder wie im¬
mer verkrüppelt, verrichtet unablässig Bettelmessen und läßt den Rosenkranz
höchstens auf einen Augenblick aus der Hand, wenn z. B. auf dem Capitol
der Acquavitaverkäuser mit seinem schlimme" Feuerwasser die Runde macht.
Auf der neuen Brücke von Arriccia bieten die Bettelnden Marmor- und andere
Steinsp^leder dem Vorübergehenden an. An der Hundsgrotte, an den Wasser¬
fallen von Temi kommen die Bittsteller mit Blumensträußen; der Eremit im
Kolosseum wird nicht unterlassen Gelbveigelein anzubieten, sobald sich die
Trümmer deS alten Baus mit den goldnen Frühblumen schmücken; in Atrani, wo
Abends alle Beleuchtung fehlt, sind Kinder Mit Lune, Lune! bei der Hand,
um dem Fremden durch das schnnnige Straßenwirrsal mit dem Lichtstumpf als
Führer zu dienen; und sitzen in Capri Mädchen auf den Platten Dächern und regen
sich in ihnen Bettelgelüste, so nehmen sie das Tambourin zur Hand und lassen
sich nicht lange nöthigen, die Tarantella zu tanzen; am Strande von Bajä
möchten die Jungen für ein Billiges ihre Fertigkeit im Tauchen zur Schau
stellen'; auf der Solfatara schleppen sie Steine herbei, um durch Niederwerfen
derselben den Boden klingen zu machen; auf dem Vesuv verführt die italienische
Beredtsamkeit selbst geschworn? Eierhasser, ein frisch vom Schwefeldampf gesott-
neS El zu kosten; zwischen Corea und Amalfi bleibt jedes Mädchen, jeder
Bursche wie eine Bildsäule stehen, sobald sie aus BleisW und Skizzen¬
buch deS Fremden die Aussicht gewinnen, ihm Modelldienste zu thun; in Scala
und Ravello leiht jeder sofort Stühle her, um seine Absichten auf die aus¬
ländische Börse durch eine Gefälligkeit Milder auszudrücken; ja, wenn es auf
schlechten Wegstrecken regnet, wie es uns Unweit Capua geschah, so finden sich
dienstfertige Ohnehosen, welche dem Veturin als Pilot zwischen den Tiefen
und Untiefen deS aufgeschwemmten Bodens vorauftraben und in jede Pfütze
hineintreten, um deutlich zu machen, daß eS sich besser neben ihr, als in ihr
kutschirt.

Dieses Bestreben, sich im Kleinen und für ein Billiges nützlich zu machen,
ist vorwiegend neapolitanisch, kömmt aber auch in andern Gegenden oft genug
zum Vorschein. Es hängt mit jenem, von Goethe schon gerühmten Thätig¬
keitstriebe des Neapolitaners eng zusammen. Es gibt nichts Abgerißneres
als so einen arMen Teufel von Ragazzo, wie ihn jeder neapolitanische Kut¬
scher aus irgend eine Weise an seinem Räderkasten unterbringt, aber eS gibt
auch nichts Geschäftigeres, Dienstwilligeres. Alle Vorübergehenden ruft er an,
allenthalben hat er seine Augen, und passirt eS ja, daß ein andrer Kutscher
dem Wagen, welchem der Ragazzo dient, zu nahe kommt, so ficht er, groß oder
klein, mit der Peitsche seines ruhig auf dem Sitze verbleibenden Brodherrn die
erbittertsten Kämpfe gegen den Widersacher aus.

Der nämliche Thätigkeitstrieb erklärt die uns ungewohnte Erscheinung,


vilegirtes Straßenorchester vor den Kirchthüren sitzt, blind, lahm oder wie im¬
mer verkrüppelt, verrichtet unablässig Bettelmessen und läßt den Rosenkranz
höchstens auf einen Augenblick aus der Hand, wenn z. B. auf dem Capitol
der Acquavitaverkäuser mit seinem schlimme» Feuerwasser die Runde macht.
Auf der neuen Brücke von Arriccia bieten die Bettelnden Marmor- und andere
Steinsp^leder dem Vorübergehenden an. An der Hundsgrotte, an den Wasser¬
fallen von Temi kommen die Bittsteller mit Blumensträußen; der Eremit im
Kolosseum wird nicht unterlassen Gelbveigelein anzubieten, sobald sich die
Trümmer deS alten Baus mit den goldnen Frühblumen schmücken; in Atrani, wo
Abends alle Beleuchtung fehlt, sind Kinder Mit Lune, Lune! bei der Hand,
um dem Fremden durch das schnnnige Straßenwirrsal mit dem Lichtstumpf als
Führer zu dienen; und sitzen in Capri Mädchen auf den Platten Dächern und regen
sich in ihnen Bettelgelüste, so nehmen sie das Tambourin zur Hand und lassen
sich nicht lange nöthigen, die Tarantella zu tanzen; am Strande von Bajä
möchten die Jungen für ein Billiges ihre Fertigkeit im Tauchen zur Schau
stellen'; auf der Solfatara schleppen sie Steine herbei, um durch Niederwerfen
derselben den Boden klingen zu machen; auf dem Vesuv verführt die italienische
Beredtsamkeit selbst geschworn? Eierhasser, ein frisch vom Schwefeldampf gesott-
neS El zu kosten; zwischen Corea und Amalfi bleibt jedes Mädchen, jeder
Bursche wie eine Bildsäule stehen, sobald sie aus BleisW und Skizzen¬
buch deS Fremden die Aussicht gewinnen, ihm Modelldienste zu thun; in Scala
und Ravello leiht jeder sofort Stühle her, um seine Absichten auf die aus¬
ländische Börse durch eine Gefälligkeit Milder auszudrücken; ja, wenn es auf
schlechten Wegstrecken regnet, wie es uns Unweit Capua geschah, so finden sich
dienstfertige Ohnehosen, welche dem Veturin als Pilot zwischen den Tiefen
und Untiefen deS aufgeschwemmten Bodens vorauftraben und in jede Pfütze
hineintreten, um deutlich zu machen, daß eS sich besser neben ihr, als in ihr
kutschirt.

Dieses Bestreben, sich im Kleinen und für ein Billiges nützlich zu machen,
ist vorwiegend neapolitanisch, kömmt aber auch in andern Gegenden oft genug
zum Vorschein. Es hängt mit jenem, von Goethe schon gerühmten Thätig¬
keitstriebe des Neapolitaners eng zusammen. Es gibt nichts Abgerißneres
als so einen arMen Teufel von Ragazzo, wie ihn jeder neapolitanische Kut¬
scher aus irgend eine Weise an seinem Räderkasten unterbringt, aber eS gibt
auch nichts Geschäftigeres, Dienstwilligeres. Alle Vorübergehenden ruft er an,
allenthalben hat er seine Augen, und passirt eS ja, daß ein andrer Kutscher
dem Wagen, welchem der Ragazzo dient, zu nahe kommt, so ficht er, groß oder
klein, mit der Peitsche seines ruhig auf dem Sitze verbleibenden Brodherrn die
erbittertsten Kämpfe gegen den Widersacher aus.

Der nämliche Thätigkeitstrieb erklärt die uns ungewohnte Erscheinung,


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[0085] vilegirtes Straßenorchester vor den Kirchthüren sitzt, blind, lahm oder wie im¬ mer verkrüppelt, verrichtet unablässig Bettelmessen und läßt den Rosenkranz höchstens auf einen Augenblick aus der Hand, wenn z. B. auf dem Capitol der Acquavitaverkäuser mit seinem schlimme» Feuerwasser die Runde macht. Auf der neuen Brücke von Arriccia bieten die Bettelnden Marmor- und andere Steinsp^leder dem Vorübergehenden an. An der Hundsgrotte, an den Wasser¬ fallen von Temi kommen die Bittsteller mit Blumensträußen; der Eremit im Kolosseum wird nicht unterlassen Gelbveigelein anzubieten, sobald sich die Trümmer deS alten Baus mit den goldnen Frühblumen schmücken; in Atrani, wo Abends alle Beleuchtung fehlt, sind Kinder Mit Lune, Lune! bei der Hand, um dem Fremden durch das schnnnige Straßenwirrsal mit dem Lichtstumpf als Führer zu dienen; und sitzen in Capri Mädchen auf den Platten Dächern und regen sich in ihnen Bettelgelüste, so nehmen sie das Tambourin zur Hand und lassen sich nicht lange nöthigen, die Tarantella zu tanzen; am Strande von Bajä möchten die Jungen für ein Billiges ihre Fertigkeit im Tauchen zur Schau stellen'; auf der Solfatara schleppen sie Steine herbei, um durch Niederwerfen derselben den Boden klingen zu machen; auf dem Vesuv verführt die italienische Beredtsamkeit selbst geschworn? Eierhasser, ein frisch vom Schwefeldampf gesott- neS El zu kosten; zwischen Corea und Amalfi bleibt jedes Mädchen, jeder Bursche wie eine Bildsäule stehen, sobald sie aus BleisW und Skizzen¬ buch deS Fremden die Aussicht gewinnen, ihm Modelldienste zu thun; in Scala und Ravello leiht jeder sofort Stühle her, um seine Absichten auf die aus¬ ländische Börse durch eine Gefälligkeit Milder auszudrücken; ja, wenn es auf schlechten Wegstrecken regnet, wie es uns Unweit Capua geschah, so finden sich dienstfertige Ohnehosen, welche dem Veturin als Pilot zwischen den Tiefen und Untiefen deS aufgeschwemmten Bodens vorauftraben und in jede Pfütze hineintreten, um deutlich zu machen, daß eS sich besser neben ihr, als in ihr kutschirt. Dieses Bestreben, sich im Kleinen und für ein Billiges nützlich zu machen, ist vorwiegend neapolitanisch, kömmt aber auch in andern Gegenden oft genug zum Vorschein. Es hängt mit jenem, von Goethe schon gerühmten Thätig¬ keitstriebe des Neapolitaners eng zusammen. Es gibt nichts Abgerißneres als so einen arMen Teufel von Ragazzo, wie ihn jeder neapolitanische Kut¬ scher aus irgend eine Weise an seinem Räderkasten unterbringt, aber eS gibt auch nichts Geschäftigeres, Dienstwilligeres. Alle Vorübergehenden ruft er an, allenthalben hat er seine Augen, und passirt eS ja, daß ein andrer Kutscher dem Wagen, welchem der Ragazzo dient, zu nahe kommt, so ficht er, groß oder klein, mit der Peitsche seines ruhig auf dem Sitze verbleibenden Brodherrn die erbittertsten Kämpfe gegen den Widersacher aus. Der nämliche Thätigkeitstrieb erklärt die uns ungewohnte Erscheinung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/85>, abgerufen am 01.09.2024.