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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Keuschheit ablegt, und dann wird erwartet, daß er es hält. Wie weit der
Gehorsam sich erstreckt, den sie ihrem Schech erweisen, haben wir nicht in Er¬
fahrung bringen können. Dagegen bietet sich ein andrer Vergleichspunkt mit
christlichen Mönchen in dem Gebrauch einzelner Orden, nach welchem sich die
Mitglieder derselben zu gewissen Zeiten in die Einsamkeit zurückziehen und
fasten. Dies wird vierzig Tage fortgesetzt. Sie genießen dann vom Aufgang
bis zum Untergang der Sonne durchaus nichts, und kommen aus ihrer Zelle
nur zu den fünf täglichen Gebetszeiten hervor, um in die Moschee zu gehen.
Wer sie auf diesem Wege anredet, empfängt zur Antwort nur das: "La nada
illa las." Die neue Zeit, die mit Mehemed Ali in Aegypten angebrochen ist,
hat, wie sie den alten Glauben und das alte Recht vielfach erschütterte, auch
die Zahl dieser Asceten beträchtlich gemindert.

Bereits bemerkt ist, daß sehr viele Derwische sich als Handwerker, Krämer,
Soldaten oder Tagelöhner nähren und nur zuweilen den Drang fühlen, an
den religiösen Versammlungen und Uebungen ihrer Ordensbrüder sich zu be¬
theiligen.. Andere dagegen erwerben sich ihren Unterhalt lediglich dadurch, daß
sie bei den Geburtöfesten des Propheten die Zikrs ausführen, die übrigens auch
Feierlichkeiten frommer Privatpersonen, Entbindungs-, Beschneidungs- und
Hochzeitstage verherrlichen, oder daß sie Schulmeisterdienste verrichten oder bei
Begräbnissen die üblichen Lieder absingen. Verhältnißmäßig wenige unter den
ägyptische" Derwischen fristen ihr Leben als bettelnde Herumstreiche!, und selbst
von diesen haben viele in einem abgerichteten Thiere, meist einem Kalbe, das
Kunststücke macht, Treppen steigt, tanzt, nach Befehl auf die Knie fällt, dem
Fetial), der ihnen ein Almosen reicht, ein Entgelt zu bieten, mit dem sich noch
überdies der Glaube verbindet, daß es Glück in das Haus bringe.

Manchen Derwischen ist es gelungen, sich durch Uebungen und Büßungen
den Zustand frommen Blödstnnes, welcher bei den ZikrS auf einige Zeit ein¬
tritt, bleibend zu erwerben, und diese gelten dann für Heilige, obwol sie häufig
ein sehr unheiliges Aussehen haben und noch unheiligere Gelüste an den Tag
legen. Man nimmt von ihnen an, daß ihre Seele bereits bei Gott sei und
entschuldigt es, wenn der Körper sündhaften Leidenschaften fröhnt, damir, daß
er bei solcher Entrücktheit deS Denkvermögens und Willens ohne Aufsicht sei.
So übertreten diese Heiligen oft alle Gebote des Islam, begehen die unsinnig¬
sten Dinge, reißen Possen und Zoten der frechsten Art, kleiden sich wie Hans¬
wurste oder laufen nackt, wie sie geschaffen worden, durch die Straßen, essen
Koth, Häckerling ober gestoßenes Glas, ohne daß dies dem Ruf ihrer Heilig¬
keit im Geringsten schadete. Man gibt ihnen Almosen, ohne daß sie darum
bitten oder dasür danken. Man küßt ihnen die Hand und redet sie mit den
Ehrennamen "Schech" oder "Murebid" an. Man steht in ihnen "WeliS"
d- h. Günstlinge Allahs, welche sich durch ihre Frömmigkeit eine Stufe über


Keuschheit ablegt, und dann wird erwartet, daß er es hält. Wie weit der
Gehorsam sich erstreckt, den sie ihrem Schech erweisen, haben wir nicht in Er¬
fahrung bringen können. Dagegen bietet sich ein andrer Vergleichspunkt mit
christlichen Mönchen in dem Gebrauch einzelner Orden, nach welchem sich die
Mitglieder derselben zu gewissen Zeiten in die Einsamkeit zurückziehen und
fasten. Dies wird vierzig Tage fortgesetzt. Sie genießen dann vom Aufgang
bis zum Untergang der Sonne durchaus nichts, und kommen aus ihrer Zelle
nur zu den fünf täglichen Gebetszeiten hervor, um in die Moschee zu gehen.
Wer sie auf diesem Wege anredet, empfängt zur Antwort nur das: „La nada
illa las." Die neue Zeit, die mit Mehemed Ali in Aegypten angebrochen ist,
hat, wie sie den alten Glauben und das alte Recht vielfach erschütterte, auch
die Zahl dieser Asceten beträchtlich gemindert.

Bereits bemerkt ist, daß sehr viele Derwische sich als Handwerker, Krämer,
Soldaten oder Tagelöhner nähren und nur zuweilen den Drang fühlen, an
den religiösen Versammlungen und Uebungen ihrer Ordensbrüder sich zu be¬
theiligen.. Andere dagegen erwerben sich ihren Unterhalt lediglich dadurch, daß
sie bei den Geburtöfesten des Propheten die Zikrs ausführen, die übrigens auch
Feierlichkeiten frommer Privatpersonen, Entbindungs-, Beschneidungs- und
Hochzeitstage verherrlichen, oder daß sie Schulmeisterdienste verrichten oder bei
Begräbnissen die üblichen Lieder absingen. Verhältnißmäßig wenige unter den
ägyptische» Derwischen fristen ihr Leben als bettelnde Herumstreiche!, und selbst
von diesen haben viele in einem abgerichteten Thiere, meist einem Kalbe, das
Kunststücke macht, Treppen steigt, tanzt, nach Befehl auf die Knie fällt, dem
Fetial), der ihnen ein Almosen reicht, ein Entgelt zu bieten, mit dem sich noch
überdies der Glaube verbindet, daß es Glück in das Haus bringe.

Manchen Derwischen ist es gelungen, sich durch Uebungen und Büßungen
den Zustand frommen Blödstnnes, welcher bei den ZikrS auf einige Zeit ein¬
tritt, bleibend zu erwerben, und diese gelten dann für Heilige, obwol sie häufig
ein sehr unheiliges Aussehen haben und noch unheiligere Gelüste an den Tag
legen. Man nimmt von ihnen an, daß ihre Seele bereits bei Gott sei und
entschuldigt es, wenn der Körper sündhaften Leidenschaften fröhnt, damir, daß
er bei solcher Entrücktheit deS Denkvermögens und Willens ohne Aufsicht sei.
So übertreten diese Heiligen oft alle Gebote des Islam, begehen die unsinnig¬
sten Dinge, reißen Possen und Zoten der frechsten Art, kleiden sich wie Hans¬
wurste oder laufen nackt, wie sie geschaffen worden, durch die Straßen, essen
Koth, Häckerling ober gestoßenes Glas, ohne daß dies dem Ruf ihrer Heilig¬
keit im Geringsten schadete. Man gibt ihnen Almosen, ohne daß sie darum
bitten oder dasür danken. Man küßt ihnen die Hand und redet sie mit den
Ehrennamen „Schech" oder „Murebid" an. Man steht in ihnen „WeliS"
d- h. Günstlinge Allahs, welche sich durch ihre Frömmigkeit eine Stufe über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/503>, abgerufen am 01.09.2024.