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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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spanischen Theater, weil der herrliche Calderon so viel Conventionelles habe,
daß sein bis zum Unwahren gesteigertes Talent kaum durch die Theater¬
etikette durchzuerkennen sei, aber auch der deutschen Ausbildung schädlich werden
müsse. -- Nichtsdestoweniger mag dahingestellt bleiben, ob nicht Goethe wenig¬
stens einzelne Züge des Gracioso, sonderlich seine auf Linderung starker Ein¬
drücke gerichtete Tendenz, in dem "Treuen" anbringen wollte; denn dessen
Erwähnung in den kurzgedrängten Bruchstücken, wonach er doch so gut als
gar keinen Einfluß aus die Handlung zu haben scheint, wird nur durch eine
charakteristische Bedeutung dieser Person erklärt werden können und dafür, daß
deren Charakter kein tiefer, sondern mehr ein heiterer sein sollte, dürfte die im
ersten Augenblick befremdende Andeutung in der Skizzirung des zweiten Aus¬
zugs sprechen, daß der Treue, als er nebst Begleitern kommt, um den Leich¬
nam seines Gebieters zu holen und diesen wider Erwarten lebend findet, sich
mit ihm verbinde, mit wenigem Anstalt mache und dann fortgehe "froh, als
ob nichts gewesen wäre." Dieses Benehmen gilt zwar den Begleitern mit,
allein sie sind eben die Genossen jener eigenthümlich leichtfertigen Person und
stehen auch dem Lebendiggewordenen serner, als der Treue, so daß bei ihnen
das schnelle Vergessen der Trauer weniger ausfällig ist, als bei diesem. Selbst
die Bezeichnung "der Treue" kann auf eine dem Gracioso entnommene Eigen¬
schaft zielen. Doch, wie gesagt, sind die Andeutungen über den Treuen in
den Bruchstücken zu unbestimmt gehalten, als daß die nähere Feststellung seiner
Persönlichkeit mehr als eine Vermuthung sein könnte.

Endlich wollen wir noch prüfen, ob die Zeit der Abfassung der Bruch¬
stücke die hier aufgestellte Ansicht ihres Spanierthums bestätigt. Hat Goethe
sie in der Absicht versaßt, sich mit Calderon und namentlich mit dem stand¬
haften Prinzen abzufinden, so kann ihre Entstehung nur zwischen die Jahre
180i und 1810 fallen. Denn daß Goethe vor dem Januar 1804 noch nichts
zu diesem Zwecke gethan, folgt daraus, daß er, indem er damals zuerst dem Freunde
und Jdeengeuvssen Kenntniß von dem Genusse gibt, den ihm der standhafte
Prinz bereitete, ohne Zweifel mindestens eine Andeutung würde haben fallen
lassen, wenn derselbe schon befruchtend auf ihn gewirkt hätte, was über¬
dies an sich gar nicht glaublich wäre, da Goethe nicht zu den Herren von
kurzem Gedärm gehörte. Auch war derselbe zu jener Zeit und dis in den
August 1804 mit der Bühnenbearbeitung des "Götz von Berlichingen" beschäf¬
tigt; den übrigen Theil des Jahres bis 1803 hinein nahm ihn die Uebersetzung
von "Rameaus Neffen" ganz in Anspruch; nach Schillers Tode gedachte er
anfangs den "Demetrius" zu vollenden und schildert sich selbst nach Ausgeben
dieses Vorhabens als ganz unfähig und unthätig; die Abhandlung "Winckel-
mann und sein Jahrhundert," die Umgestaltung der "Stella" behufs ihrer
Wiederaufnahme zur Darstellung, die nochmalige Vornahme des Epos "Tell",


Grenzboten. II. 62

spanischen Theater, weil der herrliche Calderon so viel Conventionelles habe,
daß sein bis zum Unwahren gesteigertes Talent kaum durch die Theater¬
etikette durchzuerkennen sei, aber auch der deutschen Ausbildung schädlich werden
müsse. — Nichtsdestoweniger mag dahingestellt bleiben, ob nicht Goethe wenig¬
stens einzelne Züge des Gracioso, sonderlich seine auf Linderung starker Ein¬
drücke gerichtete Tendenz, in dem „Treuen" anbringen wollte; denn dessen
Erwähnung in den kurzgedrängten Bruchstücken, wonach er doch so gut als
gar keinen Einfluß aus die Handlung zu haben scheint, wird nur durch eine
charakteristische Bedeutung dieser Person erklärt werden können und dafür, daß
deren Charakter kein tiefer, sondern mehr ein heiterer sein sollte, dürfte die im
ersten Augenblick befremdende Andeutung in der Skizzirung des zweiten Aus¬
zugs sprechen, daß der Treue, als er nebst Begleitern kommt, um den Leich¬
nam seines Gebieters zu holen und diesen wider Erwarten lebend findet, sich
mit ihm verbinde, mit wenigem Anstalt mache und dann fortgehe „froh, als
ob nichts gewesen wäre." Dieses Benehmen gilt zwar den Begleitern mit,
allein sie sind eben die Genossen jener eigenthümlich leichtfertigen Person und
stehen auch dem Lebendiggewordenen serner, als der Treue, so daß bei ihnen
das schnelle Vergessen der Trauer weniger ausfällig ist, als bei diesem. Selbst
die Bezeichnung „der Treue" kann auf eine dem Gracioso entnommene Eigen¬
schaft zielen. Doch, wie gesagt, sind die Andeutungen über den Treuen in
den Bruchstücken zu unbestimmt gehalten, als daß die nähere Feststellung seiner
Persönlichkeit mehr als eine Vermuthung sein könnte.

Endlich wollen wir noch prüfen, ob die Zeit der Abfassung der Bruch¬
stücke die hier aufgestellte Ansicht ihres Spanierthums bestätigt. Hat Goethe
sie in der Absicht versaßt, sich mit Calderon und namentlich mit dem stand¬
haften Prinzen abzufinden, so kann ihre Entstehung nur zwischen die Jahre
180i und 1810 fallen. Denn daß Goethe vor dem Januar 1804 noch nichts
zu diesem Zwecke gethan, folgt daraus, daß er, indem er damals zuerst dem Freunde
und Jdeengeuvssen Kenntniß von dem Genusse gibt, den ihm der standhafte
Prinz bereitete, ohne Zweifel mindestens eine Andeutung würde haben fallen
lassen, wenn derselbe schon befruchtend auf ihn gewirkt hätte, was über¬
dies an sich gar nicht glaublich wäre, da Goethe nicht zu den Herren von
kurzem Gedärm gehörte. Auch war derselbe zu jener Zeit und dis in den
August 1804 mit der Bühnenbearbeitung des „Götz von Berlichingen" beschäf¬
tigt; den übrigen Theil des Jahres bis 1803 hinein nahm ihn die Uebersetzung
von „Rameaus Neffen" ganz in Anspruch; nach Schillers Tode gedachte er
anfangs den „Demetrius" zu vollenden und schildert sich selbst nach Ausgeben
dieses Vorhabens als ganz unfähig und unthätig; die Abhandlung „Winckel-
mann und sein Jahrhundert," die Umgestaltung der „Stella" behufs ihrer
Wiederaufnahme zur Darstellung, die nochmalige Vornahme des Epos „Tell",


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/497>, abgerufen am 01.09.2024.