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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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liegt aus der Hand; er wollte daher in der Fragment gebliebenen Tragödie
das Christenthum im Gegensatz zu einer im Untergange begriffenen Cultur zur
Erscheinung bringen. Dabei läßt er -- und das zeigt wieder eine auffällige
Aehnlichkeit mit dem standhaften Prinzen -- wie in diesem neben den religiösen
Beweggründen auch politische wirken. In dem Schauspiele Calderons ist be¬
kanntlich die Herausgabe Ceutas der Lösepreis für Doll Fernando, den dieser
selbst verwirft, und in der Skizze zur zweiten Scene des vierten Auszugs im
Fragment tritt auch zwischen Vater und Sohn der Conflict, außer in religiö¬
ser, noch in politischer Beziehung an den Tag. Dieser Conflict führt uns
abermals zu einer neuen Berührung der Bruchstücke des Trauerspiels mit Cal¬
derons Kunst. Goethe hebt in dem Aufsatz über Calderons Tochter der Luft
hervor, daß die innern Hauptmotive bei diesem Dichter immer dieselben seien:
Widerstreit der Pflichten, Leidenschaften, Bedingnisse, aus dem Gegensatz der
Charaktere, aus den jedesmaligen Verhältnissen abgeleitet. Ein derartiger
Widerstreit besteht nun augenscheinlich auch nach den Bruchstücken und zwar
zwischen der Anhänglichkeit an den alten Glauben, so wie der Kindespflicht
gegen den diesem Glauben treuergebener Vater einerseits und der aus der
Ueberzeugung entspringenden Begeisterung für den neuen Glauben und der
Liebe zu dem. ihm anhängenden Jüngling andererseits. Da Goethes Plan
nur stückweise der Nachwelt hingeworfen ist, so sind freilich alle die dargelegten
Ähnlichkeiten mit der spanischen Bühne und vorzugsweise mit den Werken
Calderons nur in Spuren vorhanden, so daß eine einzelne derselben keinen
Beweis für die Ableitung der namenlosen Tragödie aus jenem Quell liefern
würde; allein die vielen Spuren sowol in der Form, als im Stoff, welche
alle zu demselben Ausgangspunkte zurückweisen, lassen keinen begründeten
Zweifel gegen den hier dargelegten Ursprung zu. Zwar könnte eingeworfen
werden, daß der Gracivso ein so in die Augen springendes Zubehör calderon-
scher Komödien sei, daß eine Nachahmung derselben ohne jenen gar nicht denkbar
sei und daß in den Bruchstücken des Trauerspiels ein solcher nicht vorkomme.
Allein daß Goethes Nachahmung keine knechtische sein konnte, steht außer
Zweifel und es ist auch bekannt, daß sie es bei seine" mannigfachen Nach¬
ahmungen fremder Literaturwerke niemals war. Berücksichtigen wir nun dazu,
daß die aufdringliche Laune des Gracioso in einem ernsten Schauspiele einem
reinen Kunstprincip und überdies auch dem deutschen Geschmack entschieden
widerspricht, so werden wir eS nicht länger auffällig finden, wenn Goethe, ob-
schon Calderons Wegen folgend, den Gracioso wegließ. -- Zum Ueberflusse
warnt auch unser Dichter in dem "Verschiednes Einzelne über Kunst" über-
schriebenen Aphorismen'^) ausdrücklich vor völliger Gleichstellung mit dem



2°) Werke, B, S, S. 272 hö.

liegt aus der Hand; er wollte daher in der Fragment gebliebenen Tragödie
das Christenthum im Gegensatz zu einer im Untergange begriffenen Cultur zur
Erscheinung bringen. Dabei läßt er — und das zeigt wieder eine auffällige
Aehnlichkeit mit dem standhaften Prinzen — wie in diesem neben den religiösen
Beweggründen auch politische wirken. In dem Schauspiele Calderons ist be¬
kanntlich die Herausgabe Ceutas der Lösepreis für Doll Fernando, den dieser
selbst verwirft, und in der Skizze zur zweiten Scene des vierten Auszugs im
Fragment tritt auch zwischen Vater und Sohn der Conflict, außer in religiö¬
ser, noch in politischer Beziehung an den Tag. Dieser Conflict führt uns
abermals zu einer neuen Berührung der Bruchstücke des Trauerspiels mit Cal¬
derons Kunst. Goethe hebt in dem Aufsatz über Calderons Tochter der Luft
hervor, daß die innern Hauptmotive bei diesem Dichter immer dieselben seien:
Widerstreit der Pflichten, Leidenschaften, Bedingnisse, aus dem Gegensatz der
Charaktere, aus den jedesmaligen Verhältnissen abgeleitet. Ein derartiger
Widerstreit besteht nun augenscheinlich auch nach den Bruchstücken und zwar
zwischen der Anhänglichkeit an den alten Glauben, so wie der Kindespflicht
gegen den diesem Glauben treuergebener Vater einerseits und der aus der
Ueberzeugung entspringenden Begeisterung für den neuen Glauben und der
Liebe zu dem. ihm anhängenden Jüngling andererseits. Da Goethes Plan
nur stückweise der Nachwelt hingeworfen ist, so sind freilich alle die dargelegten
Ähnlichkeiten mit der spanischen Bühne und vorzugsweise mit den Werken
Calderons nur in Spuren vorhanden, so daß eine einzelne derselben keinen
Beweis für die Ableitung der namenlosen Tragödie aus jenem Quell liefern
würde; allein die vielen Spuren sowol in der Form, als im Stoff, welche
alle zu demselben Ausgangspunkte zurückweisen, lassen keinen begründeten
Zweifel gegen den hier dargelegten Ursprung zu. Zwar könnte eingeworfen
werden, daß der Gracivso ein so in die Augen springendes Zubehör calderon-
scher Komödien sei, daß eine Nachahmung derselben ohne jenen gar nicht denkbar
sei und daß in den Bruchstücken des Trauerspiels ein solcher nicht vorkomme.
Allein daß Goethes Nachahmung keine knechtische sein konnte, steht außer
Zweifel und es ist auch bekannt, daß sie es bei seine» mannigfachen Nach¬
ahmungen fremder Literaturwerke niemals war. Berücksichtigen wir nun dazu,
daß die aufdringliche Laune des Gracioso in einem ernsten Schauspiele einem
reinen Kunstprincip und überdies auch dem deutschen Geschmack entschieden
widerspricht, so werden wir eS nicht länger auffällig finden, wenn Goethe, ob-
schon Calderons Wegen folgend, den Gracioso wegließ. — Zum Ueberflusse
warnt auch unser Dichter in dem „Verschiednes Einzelne über Kunst" über-
schriebenen Aphorismen'^) ausdrücklich vor völliger Gleichstellung mit dem



2°) Werke, B, S, S. 272 hö.
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[0496] liegt aus der Hand; er wollte daher in der Fragment gebliebenen Tragödie das Christenthum im Gegensatz zu einer im Untergange begriffenen Cultur zur Erscheinung bringen. Dabei läßt er — und das zeigt wieder eine auffällige Aehnlichkeit mit dem standhaften Prinzen — wie in diesem neben den religiösen Beweggründen auch politische wirken. In dem Schauspiele Calderons ist be¬ kanntlich die Herausgabe Ceutas der Lösepreis für Doll Fernando, den dieser selbst verwirft, und in der Skizze zur zweiten Scene des vierten Auszugs im Fragment tritt auch zwischen Vater und Sohn der Conflict, außer in religiö¬ ser, noch in politischer Beziehung an den Tag. Dieser Conflict führt uns abermals zu einer neuen Berührung der Bruchstücke des Trauerspiels mit Cal¬ derons Kunst. Goethe hebt in dem Aufsatz über Calderons Tochter der Luft hervor, daß die innern Hauptmotive bei diesem Dichter immer dieselben seien: Widerstreit der Pflichten, Leidenschaften, Bedingnisse, aus dem Gegensatz der Charaktere, aus den jedesmaligen Verhältnissen abgeleitet. Ein derartiger Widerstreit besteht nun augenscheinlich auch nach den Bruchstücken und zwar zwischen der Anhänglichkeit an den alten Glauben, so wie der Kindespflicht gegen den diesem Glauben treuergebener Vater einerseits und der aus der Ueberzeugung entspringenden Begeisterung für den neuen Glauben und der Liebe zu dem. ihm anhängenden Jüngling andererseits. Da Goethes Plan nur stückweise der Nachwelt hingeworfen ist, so sind freilich alle die dargelegten Ähnlichkeiten mit der spanischen Bühne und vorzugsweise mit den Werken Calderons nur in Spuren vorhanden, so daß eine einzelne derselben keinen Beweis für die Ableitung der namenlosen Tragödie aus jenem Quell liefern würde; allein die vielen Spuren sowol in der Form, als im Stoff, welche alle zu demselben Ausgangspunkte zurückweisen, lassen keinen begründeten Zweifel gegen den hier dargelegten Ursprung zu. Zwar könnte eingeworfen werden, daß der Gracivso ein so in die Augen springendes Zubehör calderon- scher Komödien sei, daß eine Nachahmung derselben ohne jenen gar nicht denkbar sei und daß in den Bruchstücken des Trauerspiels ein solcher nicht vorkomme. Allein daß Goethes Nachahmung keine knechtische sein konnte, steht außer Zweifel und es ist auch bekannt, daß sie es bei seine» mannigfachen Nach¬ ahmungen fremder Literaturwerke niemals war. Berücksichtigen wir nun dazu, daß die aufdringliche Laune des Gracioso in einem ernsten Schauspiele einem reinen Kunstprincip und überdies auch dem deutschen Geschmack entschieden widerspricht, so werden wir eS nicht länger auffällig finden, wenn Goethe, ob- schon Calderons Wegen folgend, den Gracioso wegließ. — Zum Ueberflusse warnt auch unser Dichter in dem „Verschiednes Einzelne über Kunst" über- schriebenen Aphorismen'^) ausdrücklich vor völliger Gleichstellung mit dem 2°) Werke, B, S, S. 272 hö.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/496>, abgerufen am 01.09.2024.