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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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"ein altdeutsches Trauerspiel" nennt, so kann sich dies nur auf die Zeit, aus
welcher der Stoff genommen ist, beziehen; die Form der Bruchstücke dagegen
zeigt keinen Hauch, der diese Benennung rechtfertigen könnte.

Aber es kann auch nicht Eginhard, der Geheimschreiber Karls deS Gro
ßer, der Held des Trauerspiels haben sein sollen, wie Riemer ferner will;
denn dieser hat der Sage nach die Tochter deö Kaisers geheirathet, während
der Eginhard des Fragments um die Tochter eines dem Kaiser feindlich gegen¬
überstehenden Großen wirbt. Las daher Goethe in der That, wie Riemer
noch angibt, das Leben Karls des Großen von Eginhard und TurpinS
Chronik zum Zwecke der Ausarbeitung der Fragment gebliebenen Tragödie, so
mag es höchstens in der Absicht geschehen sein, daraus die Zustände der aus
dem Heidenthum zum Christenthum übergehenden Deutschen kennen zu lernen,
um sie im Stücke darzustellen. Glaubt aber endlich Riemer sich zu erinnern,
daß die Idee des entworfenen Stücks in ver bei einer andern Gelegenheit
von ,Go,else gemachten Bemerkung zu suchen sei: "Ehe man sichs versteht,
neigt einmal ein Sohn oder eine Tochter zu unserm Credo herüber" -- so
täuscht ihn zuverlässig sein Gedächtniß abermals, da dort im Gegentheil Sohn
und Tochter zusammen dem Credo des Vaters abwendig werden. Riemern
war es darum zu thun, irgend etwas über daS Fragment zu sagen, um sich
in den Credit der Mitwissenschaft aller Pläne deS Meisters zu setzen, und da
er hier ohne Kunde war, so ersann er sich einiges, was einen Anklang
an die Bruchstücke zu geben schien. Wie Goethe aber auf den Gegenstand
gerathen und was er damit gewollt, erfährt man von Riemer eigentlich gar
nicht. Kurz er empfiehlt sich so wenig zur Führerschaft, daß wir diese gleich
von der Hand weisen müssen.

Die Form des Fragments bietet uns zunächst einen Anhalt; denn ein
flüchtiger Blick auf die Verse desselben erinnert an die der spanischen Bühne-
Ohne jetzt näher auf d,en Nachweis dieser Aehnlichkeit einzugehen, wollen wir
uns umsehen, pb und wie viel sich Goethe mit ihr und namentlich mit dem
grade zu Goethes Zeit in Deutschland eindringenden Calderon beschäftigt hat.

Die Stellen, die dies bezeugen, folgen hier der Zeit nach geordnet, wo¬
bei eS dahingestellt bleiben mag, ob nicht noch hier und da eine Erwähnung
übersehen worden ist. Zuerst äußert Goethe in einem Briefe an A. W. Schlegel,
vom 2. April -1800 im Allgemeinen seine Theilnahme für spanische Literatur,
infolge der mündlichen Mittheilungen dieses Schriftstellers.^) In den Tag-
und Jahresheften berichtet er unter .1802, daß ihm Calderon, den er Zeit
seines Lebens gekannt, näher getreten sei und in Erstaunen gesetzt habe.")
In einem Briefchen an Frau von Stein von 1803 spielt er auf die caldervnsche




Briefe Schillers und Goethes an A. W. Schlegel. 1846. Seite 41.
") Goethes sämmtl, Werke in 40 Bänden. B. 27, S.

„ein altdeutsches Trauerspiel" nennt, so kann sich dies nur auf die Zeit, aus
welcher der Stoff genommen ist, beziehen; die Form der Bruchstücke dagegen
zeigt keinen Hauch, der diese Benennung rechtfertigen könnte.

Aber es kann auch nicht Eginhard, der Geheimschreiber Karls deS Gro
ßer, der Held des Trauerspiels haben sein sollen, wie Riemer ferner will;
denn dieser hat der Sage nach die Tochter deö Kaisers geheirathet, während
der Eginhard des Fragments um die Tochter eines dem Kaiser feindlich gegen¬
überstehenden Großen wirbt. Las daher Goethe in der That, wie Riemer
noch angibt, das Leben Karls des Großen von Eginhard und TurpinS
Chronik zum Zwecke der Ausarbeitung der Fragment gebliebenen Tragödie, so
mag es höchstens in der Absicht geschehen sein, daraus die Zustände der aus
dem Heidenthum zum Christenthum übergehenden Deutschen kennen zu lernen,
um sie im Stücke darzustellen. Glaubt aber endlich Riemer sich zu erinnern,
daß die Idee des entworfenen Stücks in ver bei einer andern Gelegenheit
von ,Go,else gemachten Bemerkung zu suchen sei: „Ehe man sichs versteht,
neigt einmal ein Sohn oder eine Tochter zu unserm Credo herüber" — so
täuscht ihn zuverlässig sein Gedächtniß abermals, da dort im Gegentheil Sohn
und Tochter zusammen dem Credo des Vaters abwendig werden. Riemern
war es darum zu thun, irgend etwas über daS Fragment zu sagen, um sich
in den Credit der Mitwissenschaft aller Pläne deS Meisters zu setzen, und da
er hier ohne Kunde war, so ersann er sich einiges, was einen Anklang
an die Bruchstücke zu geben schien. Wie Goethe aber auf den Gegenstand
gerathen und was er damit gewollt, erfährt man von Riemer eigentlich gar
nicht. Kurz er empfiehlt sich so wenig zur Führerschaft, daß wir diese gleich
von der Hand weisen müssen.

Die Form des Fragments bietet uns zunächst einen Anhalt; denn ein
flüchtiger Blick auf die Verse desselben erinnert an die der spanischen Bühne-
Ohne jetzt näher auf d,en Nachweis dieser Aehnlichkeit einzugehen, wollen wir
uns umsehen, pb und wie viel sich Goethe mit ihr und namentlich mit dem
grade zu Goethes Zeit in Deutschland eindringenden Calderon beschäftigt hat.

Die Stellen, die dies bezeugen, folgen hier der Zeit nach geordnet, wo¬
bei eS dahingestellt bleiben mag, ob nicht noch hier und da eine Erwähnung
übersehen worden ist. Zuerst äußert Goethe in einem Briefe an A. W. Schlegel,
vom 2. April -1800 im Allgemeinen seine Theilnahme für spanische Literatur,
infolge der mündlichen Mittheilungen dieses Schriftstellers.^) In den Tag-
und Jahresheften berichtet er unter .1802, daß ihm Calderon, den er Zeit
seines Lebens gekannt, näher getreten sei und in Erstaunen gesetzt habe.")
In einem Briefchen an Frau von Stein von 1803 spielt er auf die caldervnsche




Briefe Schillers und Goethes an A. W. Schlegel. 1846. Seite 41.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/490>, abgerufen am 01.09.2024.