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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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nimmt, was er der gnädigen Frau am Kamin zu sägen weiß. Die Sprache
erinnert durch ihre Anmuth und Beweglichkeit an die besten Zeiten des alten
Classicismus; nur ist die Stimmung unklar, der Humor scheint zu spielen und
zu scherzen, während er doch zugleich etwas Trübes und selbst Desperates hat.
Ein großer Aufwand von Gefühlen Und doch kein Gemüth ; sehr viel Scharf¬
sinn, aber kein Ernst und keine Festigkeit. Die Erfindung der Situationen
und Charaktere ist launenhaft und springend, nur im Lampenlicht glaubt man
an ihre Wahrheit; bei Tage würden sie verfliegen wie Gespenster. Fast ebenso
zahlreich alö die Proverdes*) sind die kleinen Novellen**) die sämmtlich in
der Creme der Gesellschaft spielen; sie sprudeln von glänzenden Einfällen, aber
auch in ihnen waltet unumschränkt die Laune, und man muß mitunter sehr
scharf aufmerken, um Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Einzelne
dieser Novelle" sind nur eine schwache Nachbildung von Manon Lescaut. -- Seit
führte man seine Sprichwörter auf dem Theatre franyais auf, und
sie fanden großen Beifall, was um so mehr verwundern muß, da trotz der
geistreichen Genremalerei und des sprudelnden Dialogs die dramatische Com-
position absichtlich alles Interesse an der Handlung tödtet. Wir Deutsche ge¬
rathen völlig außer Fassung, wenn wir erfahren, daß zu den aufgeführten
Stücken auch 1.6 cdanäklier gehörte, eine Zote, der man nicht leicht etwas an
die Seite setzen kann. Ueberhaupt stieg seine Popularität in diesen Jahren, wo
seine Kraft abnahm, sehr bedeutend, weil man gegen die Frescomalerei der
bisherigen Lieblinge allmälig abgestumpft war. Er wurde Januar 4 832 in
die Akademie aufgenommen, nachdem er vorher zweimal, zuerst von Nisard,
dann von Montalembert, besiegt war; und trotz der großen Ausstellungen, die
wir an ihm zu machen haben, können wir dieser Wahl unsere Anerkennung
nicht versagen. A. de Musset ist darum nicht, wie seine übrigen romantischen
Glaubensbrüder, in der öffentlichen Meinung gesunken, weil er trotz der fremd¬
artigen Elemente, die ihn bestimmten, in dem innersten Kern seines Empfin¬
dens und Dichtens ein Franzose blieb. Dir Kraft, die Bestimmtheit, die Leb¬
haftigkeit, welche die altfranzösische Poesie guszeichneten, finden sich auch bei
ihm in hohem Grade. So wild zuweilen seine Gedanken sind, er hat für sie
stets einen einfachen, geistreichen und feinen Ausdruck gefunden. Durch seinen
gesunden Menschenverstand und seinen Esprit, der ihn nie verläßt, wo er
sich seinen Abstraktionen entwindet, schließt er sich an die Schriftsteller der




*) I.SS oaxi-less as Marianne 1833. ^mars <1si Larto 1833. I?g,reg,vio 1834. ()n us
i>"6ins pss s,of<: l'^mour 1834. Is gusnmMs 6s Larbstrins 1835. Is skaaäslisr 1835.
^srsnüaoeia 1836. II us taut jursr 6s risn 183ß- IIr vaxriss 1837. II Aut pu'uno xoi-to
soit ouvsrts on t'si'oss 1845. I^ouison 1847. Lsttios 1851.
**) Is sssrst 6s -lavotts. I,Sö Ävsnwro" 6s I^suMn. LmmeUns 1837. I,v8 6sux
ins,itr<ZS8S8 1837. I"'r>-ävrio se Lernsretts 1838. Jo AIs 6s litisn 1838. Hlargot 1838.
Vroisillss 1839.

nimmt, was er der gnädigen Frau am Kamin zu sägen weiß. Die Sprache
erinnert durch ihre Anmuth und Beweglichkeit an die besten Zeiten des alten
Classicismus; nur ist die Stimmung unklar, der Humor scheint zu spielen und
zu scherzen, während er doch zugleich etwas Trübes und selbst Desperates hat.
Ein großer Aufwand von Gefühlen Und doch kein Gemüth ; sehr viel Scharf¬
sinn, aber kein Ernst und keine Festigkeit. Die Erfindung der Situationen
und Charaktere ist launenhaft und springend, nur im Lampenlicht glaubt man
an ihre Wahrheit; bei Tage würden sie verfliegen wie Gespenster. Fast ebenso
zahlreich alö die Proverdes*) sind die kleinen Novellen**) die sämmtlich in
der Creme der Gesellschaft spielen; sie sprudeln von glänzenden Einfällen, aber
auch in ihnen waltet unumschränkt die Laune, und man muß mitunter sehr
scharf aufmerken, um Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Einzelne
dieser Novelle» sind nur eine schwache Nachbildung von Manon Lescaut. — Seit
führte man seine Sprichwörter auf dem Theatre franyais auf, und
sie fanden großen Beifall, was um so mehr verwundern muß, da trotz der
geistreichen Genremalerei und des sprudelnden Dialogs die dramatische Com-
position absichtlich alles Interesse an der Handlung tödtet. Wir Deutsche ge¬
rathen völlig außer Fassung, wenn wir erfahren, daß zu den aufgeführten
Stücken auch 1.6 cdanäklier gehörte, eine Zote, der man nicht leicht etwas an
die Seite setzen kann. Ueberhaupt stieg seine Popularität in diesen Jahren, wo
seine Kraft abnahm, sehr bedeutend, weil man gegen die Frescomalerei der
bisherigen Lieblinge allmälig abgestumpft war. Er wurde Januar 4 832 in
die Akademie aufgenommen, nachdem er vorher zweimal, zuerst von Nisard,
dann von Montalembert, besiegt war; und trotz der großen Ausstellungen, die
wir an ihm zu machen haben, können wir dieser Wahl unsere Anerkennung
nicht versagen. A. de Musset ist darum nicht, wie seine übrigen romantischen
Glaubensbrüder, in der öffentlichen Meinung gesunken, weil er trotz der fremd¬
artigen Elemente, die ihn bestimmten, in dem innersten Kern seines Empfin¬
dens und Dichtens ein Franzose blieb. Dir Kraft, die Bestimmtheit, die Leb¬
haftigkeit, welche die altfranzösische Poesie guszeichneten, finden sich auch bei
ihm in hohem Grade. So wild zuweilen seine Gedanken sind, er hat für sie
stets einen einfachen, geistreichen und feinen Ausdruck gefunden. Durch seinen
gesunden Menschenverstand und seinen Esprit, der ihn nie verläßt, wo er
sich seinen Abstraktionen entwindet, schließt er sich an die Schriftsteller der




*) I.SS oaxi-less as Marianne 1833. ^mars <1si Larto 1833. I?g,reg,vio 1834. ()n us
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soit ouvsrts on t'si'oss 1845. I^ouison 1847. Lsttios 1851.
**) Is sssrst 6s -lavotts. I,Sö Ävsnwro« 6s I^suMn. LmmeUns 1837. I,v8 6sux
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/437>, abgerufen am 01.09.2024.