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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Gegenstandes verwechseln. DaS Genie muß nicht allein die Jmmoralität und
das Laster,, sondern auch die Schwache und die Gemeinheit rechtfertigen.
Wenn die classische Schule den conventionellen Inhalt der Moral und die
Gemeinsätze des Kor ssns als unumstößlich auffaßte, so verfallen die Roman¬
tiker in einen Skepticismus, in dem man zuletzt über das Entsetzliche lacht
und vor dem Lächerlichen Grauen empfindet. Ihre Originalität ist schließlich
nichts Anderes, als eine krankhafte Umkehr deS Idealismus.

Am meisten fällt es bei seinen Dramen auf, daß er durch die Lectüre
angeregt ist und nur für die Lectüre schreibt: er kann sich nicht enthalten,
mitten in der Darstellung der Geschichte plötzlich auf einen literarischen Gegen¬
stand zu kommen und darüber zu discutiren; ja, in der höchsten Leidenschaft
vergleichen sich seine Helden und Heldinnen mit irgend einer Theatersigur.
Alfred de Musset hat über diese Einseitigkeit seiner Dichtungen ein vollstän¬
diges Bewußtsein; er überschreibt die eine Sammlung seiner Dramen: IZn
sveetaels clans un lautem! (.1833), die andere: l^es ocimL<Zie8 in^ouadlos
(1838). Später hat er sich vorzugsweise auf das Proverbe geworfen, und den
Ruhm davongetragen, der geistvollste und graziöseste Dichter dieser Spielart zu
sein. Sie hat sich nach und nach so frei entwickelt, daß der Name seinen ur¬
sprünglichen Sinn verloren, hat. Ihre erste Bestimmung war eine gesellige
Unterhaltung in gebildeten Kreisen, in denen man durch einen leicht skizzirten
Dialog, dessen Detail improvisirt wurde, mit etwas hinzugefügter Handlung
ein Sprichwort zu errathen gab. Das große Talent der Franzosen aber, an¬
muthig zu plaudern, und ihre Freude an dem zierlichen Detail einer sich in
leichten, bequemen Formen bewegenden Unterhaltung hat diesen Zweck zur
Nebensache gemacht. Man improvisirt nicht mehr die Sprichwörter für eine
muntere Abendgesellschaft, sondern man schreibt sie für das gebildete Publicum,
und sie unterscheiden sich von dem eigentlichen Lustspiel im Wesentlichen nur
durch die kürzere Dauer, durch die geringere Anzahl von Personen und die
Rücksichtslosigkeit gegen die äußern Formen des Theaters. DaS Proverbe ist
für den Salon berechnet, während das Vaudeville sich an das Volk wendet.
DaS letztere operirt mit derbern Stichwörtern und Sympathien, es gibt nur
allgemeine Umrisse und verlangt nichts als eine liebenswürdige Soubrette und
einen routinirten Buffo. Während das Vaudeville daher leicht zur Triviali¬
tät verleitet, führt das Proverbe die Gefahr eines zu großen Raffinements
mit sich. Wenn der Dialog sich gar zu zierlich zuspitzt, so wird er zuletzt ge¬
ziert. Doch ist es eine Studie, dem Dialog eine bestimmtere Farbe und eine
größere Mannigfaltigkeit zu geben und dadurch daS Handwerksmäßige, welches
in den Fabrikarbeiter der Komödienschreiber liegt, einigermaßen zu mildern-
ES ist alle Fülle deS französischen Esprit darin aufgeboten, und eS ist mit¬
unter zum Erstaunen, wo ein Franzose alles das Artige und Geistreiche her-


Gegenstandes verwechseln. DaS Genie muß nicht allein die Jmmoralität und
das Laster,, sondern auch die Schwache und die Gemeinheit rechtfertigen.
Wenn die classische Schule den conventionellen Inhalt der Moral und die
Gemeinsätze des Kor ssns als unumstößlich auffaßte, so verfallen die Roman¬
tiker in einen Skepticismus, in dem man zuletzt über das Entsetzliche lacht
und vor dem Lächerlichen Grauen empfindet. Ihre Originalität ist schließlich
nichts Anderes, als eine krankhafte Umkehr deS Idealismus.

Am meisten fällt es bei seinen Dramen auf, daß er durch die Lectüre
angeregt ist und nur für die Lectüre schreibt: er kann sich nicht enthalten,
mitten in der Darstellung der Geschichte plötzlich auf einen literarischen Gegen¬
stand zu kommen und darüber zu discutiren; ja, in der höchsten Leidenschaft
vergleichen sich seine Helden und Heldinnen mit irgend einer Theatersigur.
Alfred de Musset hat über diese Einseitigkeit seiner Dichtungen ein vollstän¬
diges Bewußtsein; er überschreibt die eine Sammlung seiner Dramen: IZn
sveetaels clans un lautem! (.1833), die andere: l^es ocimL<Zie8 in^ouadlos
(1838). Später hat er sich vorzugsweise auf das Proverbe geworfen, und den
Ruhm davongetragen, der geistvollste und graziöseste Dichter dieser Spielart zu
sein. Sie hat sich nach und nach so frei entwickelt, daß der Name seinen ur¬
sprünglichen Sinn verloren, hat. Ihre erste Bestimmung war eine gesellige
Unterhaltung in gebildeten Kreisen, in denen man durch einen leicht skizzirten
Dialog, dessen Detail improvisirt wurde, mit etwas hinzugefügter Handlung
ein Sprichwort zu errathen gab. Das große Talent der Franzosen aber, an¬
muthig zu plaudern, und ihre Freude an dem zierlichen Detail einer sich in
leichten, bequemen Formen bewegenden Unterhaltung hat diesen Zweck zur
Nebensache gemacht. Man improvisirt nicht mehr die Sprichwörter für eine
muntere Abendgesellschaft, sondern man schreibt sie für das gebildete Publicum,
und sie unterscheiden sich von dem eigentlichen Lustspiel im Wesentlichen nur
durch die kürzere Dauer, durch die geringere Anzahl von Personen und die
Rücksichtslosigkeit gegen die äußern Formen des Theaters. DaS Proverbe ist
für den Salon berechnet, während das Vaudeville sich an das Volk wendet.
DaS letztere operirt mit derbern Stichwörtern und Sympathien, es gibt nur
allgemeine Umrisse und verlangt nichts als eine liebenswürdige Soubrette und
einen routinirten Buffo. Während das Vaudeville daher leicht zur Triviali¬
tät verleitet, führt das Proverbe die Gefahr eines zu großen Raffinements
mit sich. Wenn der Dialog sich gar zu zierlich zuspitzt, so wird er zuletzt ge¬
ziert. Doch ist es eine Studie, dem Dialog eine bestimmtere Farbe und eine
größere Mannigfaltigkeit zu geben und dadurch daS Handwerksmäßige, welches
in den Fabrikarbeiter der Komödienschreiber liegt, einigermaßen zu mildern-
ES ist alle Fülle deS französischen Esprit darin aufgeboten, und eS ist mit¬
unter zum Erstaunen, wo ein Franzose alles das Artige und Geistreiche her-


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[0436] Gegenstandes verwechseln. DaS Genie muß nicht allein die Jmmoralität und das Laster,, sondern auch die Schwache und die Gemeinheit rechtfertigen. Wenn die classische Schule den conventionellen Inhalt der Moral und die Gemeinsätze des Kor ssns als unumstößlich auffaßte, so verfallen die Roman¬ tiker in einen Skepticismus, in dem man zuletzt über das Entsetzliche lacht und vor dem Lächerlichen Grauen empfindet. Ihre Originalität ist schließlich nichts Anderes, als eine krankhafte Umkehr deS Idealismus. Am meisten fällt es bei seinen Dramen auf, daß er durch die Lectüre angeregt ist und nur für die Lectüre schreibt: er kann sich nicht enthalten, mitten in der Darstellung der Geschichte plötzlich auf einen literarischen Gegen¬ stand zu kommen und darüber zu discutiren; ja, in der höchsten Leidenschaft vergleichen sich seine Helden und Heldinnen mit irgend einer Theatersigur. Alfred de Musset hat über diese Einseitigkeit seiner Dichtungen ein vollstän¬ diges Bewußtsein; er überschreibt die eine Sammlung seiner Dramen: IZn sveetaels clans un lautem! (.1833), die andere: l^es ocimL<Zie8 in^ouadlos (1838). Später hat er sich vorzugsweise auf das Proverbe geworfen, und den Ruhm davongetragen, der geistvollste und graziöseste Dichter dieser Spielart zu sein. Sie hat sich nach und nach so frei entwickelt, daß der Name seinen ur¬ sprünglichen Sinn verloren, hat. Ihre erste Bestimmung war eine gesellige Unterhaltung in gebildeten Kreisen, in denen man durch einen leicht skizzirten Dialog, dessen Detail improvisirt wurde, mit etwas hinzugefügter Handlung ein Sprichwort zu errathen gab. Das große Talent der Franzosen aber, an¬ muthig zu plaudern, und ihre Freude an dem zierlichen Detail einer sich in leichten, bequemen Formen bewegenden Unterhaltung hat diesen Zweck zur Nebensache gemacht. Man improvisirt nicht mehr die Sprichwörter für eine muntere Abendgesellschaft, sondern man schreibt sie für das gebildete Publicum, und sie unterscheiden sich von dem eigentlichen Lustspiel im Wesentlichen nur durch die kürzere Dauer, durch die geringere Anzahl von Personen und die Rücksichtslosigkeit gegen die äußern Formen des Theaters. DaS Proverbe ist für den Salon berechnet, während das Vaudeville sich an das Volk wendet. DaS letztere operirt mit derbern Stichwörtern und Sympathien, es gibt nur allgemeine Umrisse und verlangt nichts als eine liebenswürdige Soubrette und einen routinirten Buffo. Während das Vaudeville daher leicht zur Triviali¬ tät verleitet, führt das Proverbe die Gefahr eines zu großen Raffinements mit sich. Wenn der Dialog sich gar zu zierlich zuspitzt, so wird er zuletzt ge¬ ziert. Doch ist es eine Studie, dem Dialog eine bestimmtere Farbe und eine größere Mannigfaltigkeit zu geben und dadurch daS Handwerksmäßige, welches in den Fabrikarbeiter der Komödienschreiber liegt, einigermaßen zu mildern- ES ist alle Fülle deS französischen Esprit darin aufgeboten, und eS ist mit¬ unter zum Erstaunen, wo ein Franzose alles das Artige und Geistreiche her-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/436>, abgerufen am 01.09.2024.