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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Perfectibilität deS Menschengeschlechts die Vervollkommnung der materiellen
Mittel für daS menschliche Wohlergehen mit der Vervollkommnung deS Men¬
schen selbst verwechselt. Jerome Paturot auf der Pilgerfahrt nach der besten
Republik, mit andern Worten der Spießbürger, der in Fanatismus geraes,
ist für alle Satiriker Frankreichs ein beliebter Stoff, und wol mag es schwer
sein, sich der Satire zu enthalten, wenn man die abscheulichen Folgen dieser
Mischung von Schwärmerei und Pedanterie prophetisch vorausempfindet.
Lange vor der Februarrevolution (1837) warnte Alfred de Musset vor diesen
Berirrungen. Er klagte, daß es in Frankreich keine Vorurtheile, daß eS
keine Bewunderung mehr gebe, daß der Idealismus sich in ohnmächtigen
Wünschen erschöpfe, während als einzige solide Macht auf Erden das Geld
in stiller Thätigkeit fortwirkte. ES ist ein Mißverständniß von dem Geist
unserer Zeit, wenn man sich künstlich zu extremen Wünschen eraltirt; weil
man sich nicht Rechenschaft ablegt über pas, was man kann und was man
will!, glaubt man alles zu können; man will mehr, als man kann, und will
schließlich gar nichts. Die Signatur unseres Zeitalters ist nicht der Fanatis¬
mus, sondern die Gleichgiltigkeit. Die Weltverbesserer zehren von alten
Schätzen.'


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Vivux gillons Ilousseau, nouo^no alö Volssii o,
^iiimüFiiolk vn Kuillons volsö <" liobösniorrö,
l'K"i'Mi>use A"rcliz-robo on sons ummaillosss
vu peunlo souvor"in les oourlissns erossss;
l?üis villa, tout. un I>"s, l" llvrniüre cle ondes,
I^n livvriz cle pes l'vus ami s'vn vont, psr los routss
^rraoller I" elisrruo aux msins ein Isboureur,
Dur" l'.isciliei' clösizrs eorromnrv le milllivur,
now et'un Diou pinx c^ni nous nrosvril, l'uumono
Irüinvr "u cui-rvtour lo piluvrv c^ni t>i"our"z,
N un l'er rouill"; cle s-ing "rmsr su inuigrv in"in,
tut se sauver "l-ins I'ambre, en pressant t'usssssin.

Die Stelle ist aus einem Gedicht an die Faulheit (1842), in der er seine
Muse besingt. So treibt ihn sein Widerwille gegen das eine Ertrem in daS
entgegengesetzte; die Verachtung gegen die Phrasen der Humanitätsapostel
führt zum Skepticismus, zur Blasirtheit, wol gar zum Behagen am Schlech¬
ten. Im Gegensatz gegen die seichten Tugendhelden erfreut man sich an den
kecken oder liebenswürdigen Zügen, die man auch in dem Laster entdeckt, und
verfällt dann in die sonderbare Verirrung, diese guten Eigenschaften als solida¬
risch mit dem Laster verbunden zu betrachten. So schwärmt nicht allein Alfred
de Musset, sondern die ganze junge Schule für das unreine Bild der Manon
LeScaut, indem sie die Kunst deS Dichters mit der Natur deS dargestellten


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Perfectibilität deS Menschengeschlechts die Vervollkommnung der materiellen
Mittel für daS menschliche Wohlergehen mit der Vervollkommnung deS Men¬
schen selbst verwechselt. Jerome Paturot auf der Pilgerfahrt nach der besten
Republik, mit andern Worten der Spießbürger, der in Fanatismus geraes,
ist für alle Satiriker Frankreichs ein beliebter Stoff, und wol mag es schwer
sein, sich der Satire zu enthalten, wenn man die abscheulichen Folgen dieser
Mischung von Schwärmerei und Pedanterie prophetisch vorausempfindet.
Lange vor der Februarrevolution (1837) warnte Alfred de Musset vor diesen
Berirrungen. Er klagte, daß es in Frankreich keine Vorurtheile, daß eS
keine Bewunderung mehr gebe, daß der Idealismus sich in ohnmächtigen
Wünschen erschöpfe, während als einzige solide Macht auf Erden das Geld
in stiller Thätigkeit fortwirkte. ES ist ein Mißverständniß von dem Geist
unserer Zeit, wenn man sich künstlich zu extremen Wünschen eraltirt; weil
man sich nicht Rechenschaft ablegt über pas, was man kann und was man
will!, glaubt man alles zu können; man will mehr, als man kann, und will
schließlich gar nichts. Die Signatur unseres Zeitalters ist nicht der Fanatis¬
mus, sondern die Gleichgiltigkeit. Die Weltverbesserer zehren von alten
Schätzen.'


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now et'un Diou pinx c^ni nous nrosvril, l'uumono
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tut se sauver «l-ins I'ambre, en pressant t'usssssin.

Die Stelle ist aus einem Gedicht an die Faulheit (1842), in der er seine
Muse besingt. So treibt ihn sein Widerwille gegen das eine Ertrem in daS
entgegengesetzte; die Verachtung gegen die Phrasen der Humanitätsapostel
führt zum Skepticismus, zur Blasirtheit, wol gar zum Behagen am Schlech¬
ten. Im Gegensatz gegen die seichten Tugendhelden erfreut man sich an den
kecken oder liebenswürdigen Zügen, die man auch in dem Laster entdeckt, und
verfällt dann in die sonderbare Verirrung, diese guten Eigenschaften als solida¬
risch mit dem Laster verbunden zu betrachten. So schwärmt nicht allein Alfred
de Musset, sondern die ganze junge Schule für das unreine Bild der Manon
LeScaut, indem sie die Kunst deS Dichters mit der Natur deS dargestellten


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[0435] 427 Perfectibilität deS Menschengeschlechts die Vervollkommnung der materiellen Mittel für daS menschliche Wohlergehen mit der Vervollkommnung deS Men¬ schen selbst verwechselt. Jerome Paturot auf der Pilgerfahrt nach der besten Republik, mit andern Worten der Spießbürger, der in Fanatismus geraes, ist für alle Satiriker Frankreichs ein beliebter Stoff, und wol mag es schwer sein, sich der Satire zu enthalten, wenn man die abscheulichen Folgen dieser Mischung von Schwärmerei und Pedanterie prophetisch vorausempfindet. Lange vor der Februarrevolution (1837) warnte Alfred de Musset vor diesen Berirrungen. Er klagte, daß es in Frankreich keine Vorurtheile, daß eS keine Bewunderung mehr gebe, daß der Idealismus sich in ohnmächtigen Wünschen erschöpfe, während als einzige solide Macht auf Erden das Geld in stiller Thätigkeit fortwirkte. ES ist ein Mißverständniß von dem Geist unserer Zeit, wenn man sich künstlich zu extremen Wünschen eraltirt; weil man sich nicht Rechenschaft ablegt über pas, was man kann und was man will!, glaubt man alles zu können; man will mehr, als man kann, und will schließlich gar nichts. Die Signatur unseres Zeitalters ist nicht der Fanatis¬ mus, sondern die Gleichgiltigkeit. Die Weltverbesserer zehren von alten Schätzen.' i^1^ttWV>!H?'>)z'irt<i" -'stI"' Vivux gillons Ilousseau, nouo^no alö Volssii o, ^iiimüFiiolk vn Kuillons volsö <» liobösniorrö, l'K»i'Mi>use A«rcliz-robo on sons ummaillosss vu peunlo souvor»in les oourlissns erossss; l?üis villa, tout. un I>»s, l» llvrniüre cle ondes, I^n livvriz cle pes l'vus ami s'vn vont, psr los routss ^rraoller I» elisrruo aux msins ein Isboureur, Dur« l'.isciliei' clösizrs eorromnrv le milllivur, now et'un Diou pinx c^ni nous nrosvril, l'uumono Irüinvr »u cui-rvtour lo piluvrv c^ni t>i«our«z, N un l'er rouill«; cle s-ing »rmsr su inuigrv in»in, tut se sauver «l-ins I'ambre, en pressant t'usssssin. Die Stelle ist aus einem Gedicht an die Faulheit (1842), in der er seine Muse besingt. So treibt ihn sein Widerwille gegen das eine Ertrem in daS entgegengesetzte; die Verachtung gegen die Phrasen der Humanitätsapostel führt zum Skepticismus, zur Blasirtheit, wol gar zum Behagen am Schlech¬ ten. Im Gegensatz gegen die seichten Tugendhelden erfreut man sich an den kecken oder liebenswürdigen Zügen, die man auch in dem Laster entdeckt, und verfällt dann in die sonderbare Verirrung, diese guten Eigenschaften als solida¬ risch mit dem Laster verbunden zu betrachten. So schwärmt nicht allein Alfred de Musset, sondern die ganze junge Schule für das unreine Bild der Manon LeScaut, indem sie die Kunst deS Dichters mit der Natur deS dargestellten si*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/435>, abgerufen am 27.07.2024.