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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Jahrhunderts fällt. Gemähre mit den Ideen nationaler Größe, mit der Er¬
innerung glänzender Siege fand sie in der Wirklichkeit eine dumpfe Ruhe,
die sie niederdrückte, an Stelle der mannhaften Helden traten finstere
Priester, eine heuchlerische Religiosität suchte alles frische und warme Leben
zu ersticken, und hinter dieser Maske entdeckte sie einen geistlosen Materialis¬
mus, der mit den Illusionen auch allen Glauben ausgegeben hatte. In dieser
Zeit wurden Goethes Faust und Byrons Gedichte in Frankreich eingeführt,
und an ihnen fand die Schwermuth, ja die Verzweiflung, die poetische Nah¬
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sie angeregt, lagerte sich aus den Trümmern aller Religionen die eitle Selbst¬
sucht, die bald mit den glühenden Bildern Fausts das Herz verzehrte, bald
in der Mephistophelesmaske den bittersten Hohn und Trotz den sittlichen
Mächten ins Gesicht schleuderte. Der Himmel hatte sich den Augen dieser
Jugend entzogen und über die ideenlose Welt breitete sich eine trübe Däm¬
merung, in der man das unheimliche Gefühl der Einsamkeit durch freche
Lästerungen zu übertäuben suchte. Eins von diesen frühreifen Genies, Octave,
ist der Held dieser Geschichte. Er liebt ein Mädchen mit aller Wärme, die
man überhaupt bei Liebenden antrifft, er entdeckt, daß sie ihm treulos ist,
treulos mit seinem genauesten Freunde (DesgenaiS). In dem Augenblick
verfällt Octave in die Krankheit des Zeitalters; er vertieft sich wie sein Vor¬
bild Stenio in die sinnlosesten Schwelgereien und führt das Leben eines
Rvue, bis eine neue Liebe ihn heilt. Der Gegenstand ist dies Mal eine ein¬
fache, sanfte, etwas fromme Frau, Brigitte, die ihm mit vollem Herzen ent¬
gegenkommt; aber die Vergangenheit ist mächtig über ihn, er zerreißt in einem
wilden Augenblick vor ihren Augen alle Illusionen des Lebens und zeigt ihr
die bittere Wirklichkeit. Das Herz BrigittenS wird ihm "erschlossen, und er
entdeckt bald daraus, daß in ihr die Neigung zu einem andern erwacht, ^r
ist einen Augenblick unschlüssig, ob er sie nicht ermorden soll; aber das bessere
Gefühl siegt, er entsagt, und die beiden reisen nach Italien ab. --
Composition des Ganzen ist schwach, sie wirb nicht durch die Einheit der
Charaktere, sondern nur durch den Wechsel der leidenschaftlichen Stimmungen
zusammengehalten, obgleich der Stil, der an Manon Lescaut erinnert, von
einer bezaubernden Einfachheit und Plastik ist. In der Schilderung der un¬
sittlichen Zustände Frankreichs zu Anfang des Buchs herrscht ein grausames
Behagen der Analyse, daS nicht Kraft, sondern Schwäche verräth. Dest"
reizender ist die Schilderung der zweiten Liebe; ein idyllisches Bild voll warmer
Poesie. Hier konnte der Dichter schließen und die Heilung eintreten lassen,


Jahrhunderts fällt. Gemähre mit den Ideen nationaler Größe, mit der Er¬
innerung glänzender Siege fand sie in der Wirklichkeit eine dumpfe Ruhe,
die sie niederdrückte, an Stelle der mannhaften Helden traten finstere
Priester, eine heuchlerische Religiosität suchte alles frische und warme Leben
zu ersticken, und hinter dieser Maske entdeckte sie einen geistlosen Materialis¬
mus, der mit den Illusionen auch allen Glauben ausgegeben hatte. In dieser
Zeit wurden Goethes Faust und Byrons Gedichte in Frankreich eingeführt,
und an ihnen fand die Schwermuth, ja die Verzweiflung, die poetische Nah¬
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sie angeregt, lagerte sich aus den Trümmern aller Religionen die eitle Selbst¬
sucht, die bald mit den glühenden Bildern Fausts das Herz verzehrte, bald
in der Mephistophelesmaske den bittersten Hohn und Trotz den sittlichen
Mächten ins Gesicht schleuderte. Der Himmel hatte sich den Augen dieser
Jugend entzogen und über die ideenlose Welt breitete sich eine trübe Däm¬
merung, in der man das unheimliche Gefühl der Einsamkeit durch freche
Lästerungen zu übertäuben suchte. Eins von diesen frühreifen Genies, Octave,
ist der Held dieser Geschichte. Er liebt ein Mädchen mit aller Wärme, die
man überhaupt bei Liebenden antrifft, er entdeckt, daß sie ihm treulos ist,
treulos mit seinem genauesten Freunde (DesgenaiS). In dem Augenblick
verfällt Octave in die Krankheit des Zeitalters; er vertieft sich wie sein Vor¬
bild Stenio in die sinnlosesten Schwelgereien und führt das Leben eines
Rvue, bis eine neue Liebe ihn heilt. Der Gegenstand ist dies Mal eine ein¬
fache, sanfte, etwas fromme Frau, Brigitte, die ihm mit vollem Herzen ent¬
gegenkommt; aber die Vergangenheit ist mächtig über ihn, er zerreißt in einem
wilden Augenblick vor ihren Augen alle Illusionen des Lebens und zeigt ihr
die bittere Wirklichkeit. Das Herz BrigittenS wird ihm »erschlossen, und er
entdeckt bald daraus, daß in ihr die Neigung zu einem andern erwacht, ^r
ist einen Augenblick unschlüssig, ob er sie nicht ermorden soll; aber das bessere
Gefühl siegt, er entsagt, und die beiden reisen nach Italien ab. —
Composition des Ganzen ist schwach, sie wirb nicht durch die Einheit der
Charaktere, sondern nur durch den Wechsel der leidenschaftlichen Stimmungen
zusammengehalten, obgleich der Stil, der an Manon Lescaut erinnert, von
einer bezaubernden Einfachheit und Plastik ist. In der Schilderung der un¬
sittlichen Zustände Frankreichs zu Anfang des Buchs herrscht ein grausames
Behagen der Analyse, daS nicht Kraft, sondern Schwäche verräth. Dest"
reizender ist die Schilderung der zweiten Liebe; ein idyllisches Bild voll warmer
Poesie. Hier konnte der Dichter schließen und die Heilung eintreten lassen,


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[0428] Jahrhunderts fällt. Gemähre mit den Ideen nationaler Größe, mit der Er¬ innerung glänzender Siege fand sie in der Wirklichkeit eine dumpfe Ruhe, die sie niederdrückte, an Stelle der mannhaften Helden traten finstere Priester, eine heuchlerische Religiosität suchte alles frische und warme Leben zu ersticken, und hinter dieser Maske entdeckte sie einen geistlosen Materialis¬ mus, der mit den Illusionen auch allen Glauben ausgegeben hatte. In dieser Zeit wurden Goethes Faust und Byrons Gedichte in Frankreich eingeführt, und an ihnen fand die Schwermuth, ja die Verzweiflung, die poetische Nah¬ rung. ?kr6onnsx-moi, sagt der Dichter, 6 Zranäs poetes, <Mi eres main- tknkmt un psu 6<? esnclrk et qui rspoge? sous la terre; pariZonnW-moi, vous et<Z8 ass clemi-ckisux, et r>«z suis ein'un erMnt sorrllre. IVlms en eerlvant tout aevi, je lo pais in'empeeker se vous inauülre, denn durch sie angeregt, lagerte sich aus den Trümmern aller Religionen die eitle Selbst¬ sucht, die bald mit den glühenden Bildern Fausts das Herz verzehrte, bald in der Mephistophelesmaske den bittersten Hohn und Trotz den sittlichen Mächten ins Gesicht schleuderte. Der Himmel hatte sich den Augen dieser Jugend entzogen und über die ideenlose Welt breitete sich eine trübe Däm¬ merung, in der man das unheimliche Gefühl der Einsamkeit durch freche Lästerungen zu übertäuben suchte. Eins von diesen frühreifen Genies, Octave, ist der Held dieser Geschichte. Er liebt ein Mädchen mit aller Wärme, die man überhaupt bei Liebenden antrifft, er entdeckt, daß sie ihm treulos ist, treulos mit seinem genauesten Freunde (DesgenaiS). In dem Augenblick verfällt Octave in die Krankheit des Zeitalters; er vertieft sich wie sein Vor¬ bild Stenio in die sinnlosesten Schwelgereien und führt das Leben eines Rvue, bis eine neue Liebe ihn heilt. Der Gegenstand ist dies Mal eine ein¬ fache, sanfte, etwas fromme Frau, Brigitte, die ihm mit vollem Herzen ent¬ gegenkommt; aber die Vergangenheit ist mächtig über ihn, er zerreißt in einem wilden Augenblick vor ihren Augen alle Illusionen des Lebens und zeigt ihr die bittere Wirklichkeit. Das Herz BrigittenS wird ihm »erschlossen, und er entdeckt bald daraus, daß in ihr die Neigung zu einem andern erwacht, ^r ist einen Augenblick unschlüssig, ob er sie nicht ermorden soll; aber das bessere Gefühl siegt, er entsagt, und die beiden reisen nach Italien ab. — Composition des Ganzen ist schwach, sie wirb nicht durch die Einheit der Charaktere, sondern nur durch den Wechsel der leidenschaftlichen Stimmungen zusammengehalten, obgleich der Stil, der an Manon Lescaut erinnert, von einer bezaubernden Einfachheit und Plastik ist. In der Schilderung der un¬ sittlichen Zustände Frankreichs zu Anfang des Buchs herrscht ein grausames Behagen der Analyse, daS nicht Kraft, sondern Schwäche verräth. Dest" reizender ist die Schilderung der zweiten Liebe; ein idyllisches Bild voll warmer Poesie. Hier konnte der Dichter schließen und die Heilung eintreten lassen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/428>, abgerufen am 28.07.2024.