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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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die in der Regel mit dem Grundzug des Charakters nicht zusammenkommen
(z. B. ein hektischer, verweichlichter GestchtsauSdruck bei einem Helden), in
einen wesentlichen und nothwenigen Rapport mit demselben zu setzen, und wird
dadurch nicht blos unsicher, sondern auch unwahr.

Der nationalste aller französischen Dichter, Moliere, stellt in kühner FreSco-
malerei typische Gestalten dar, die man augenblicklich erkennt. Seit der Be¬
kanntschaft mit der deutschen Literatur dagegen suchten die Dichter hauptsächlich
solche Züge auf, die nur dem bewaffneten Auge wahrnehmbar sind. Man
warf sich auf die Beobachtung jener sonderbaren Wesen, die nur unter Be¬
dingungen möglich sind, welche schon den folgenden Tag verschwinden. Man
schränkte die Scenen auf distinguirte Personen ein, gebrochene Existenzen, die
nur in allgemeinen culturhistorischen Verhältnissen ihre Auflösung fanden. Es
waren zierliche Nococobilver; die starken Farben verloren sich in Nuancen, die
dreiste, derbe Sprache in einen Ertract aus weit hergeholten poetischen und
literarischen Beziehungen. Um Interesse zu erregen, mußte man Marquis sein
und nur noch der Salon wurde aus dem Theater geduldet. Diese physiogno¬
mielosen Personen, in ihrer Gestalt mit dem Erbfehler ihres Ursprungs befleckt,
hinterließen dem Gedächtniß keinen Eindruck; sie glichen den blassen, welken
Kindern, auf deren ermüdeten interessantem Gesicht sich das bleiche Abbild
eines verweichlichten, in frühen Lüsten erschöpften Vaters ausprägt. Die ein¬
fachen Grisetten und die Trunkenbolde BörangerS sind viel ansprechender, als
diese blassen Figuren A. de Müssets, die alles Mögliche wissen und nichts
wollen, deren Lustigkeit die Spuren des Liqueurs trägt. Sie sind nur in
einer Gesellschaft denkbar, die durch die rafftnirteste Genußsucht und durch ein
ZU frühzeitiges Leben sich alle Freude an dem einfach Schönen verkümmert hat,
und nur noch nach jenen überschwenglichen Emotionen jagt, wie sie sonst ei¬
gentlich nur in der Seele nervöser Weiber sich finden. Seine Dichtung über¬
rascht durch feine Züge, in denen auch die Willkür und Caprice ihr geistiges
Gesetz hat, aber sie ist nicht im Stande dauernd zu fesseln, denn sie hat
keinen wirklichen Inhalt; sie ist "Caviar fürs Volk". Sie resultirt endlich
in eine Philosophie der Verzweiflung. Dieser beständige Wechsel hingebender
Empfindung und wilden Hohnes erinnert an Lord Byron; aber grade darin
liegt der Unterschied zwischen beiden Dichtern. A. de Musset hat seine Em¬
pfindungen und seine Ideale aus zweiter Hand, und wenn er sich ein Kind
des Jahrhunderts nennt, so hat er wol am meisten darüber zu klagen, daß
nicht blos die Gespenster seiner eignen Vergangenheit ihn quälen, sondern die
Schatten früherer Dichtungen, die mächtiger auf ihn einwirkten, als die Ein¬
gebungen seiner eignen Einbildungskraft.

In den ^ontessions et'un enlÄnl ein sisele 1836 stellt der Dichter das
traurige Schicksal der Jugend dar, deren Geburt in das erste Jahrzehnt dieses


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die in der Regel mit dem Grundzug des Charakters nicht zusammenkommen
(z. B. ein hektischer, verweichlichter GestchtsauSdruck bei einem Helden), in
einen wesentlichen und nothwenigen Rapport mit demselben zu setzen, und wird
dadurch nicht blos unsicher, sondern auch unwahr.

Der nationalste aller französischen Dichter, Moliere, stellt in kühner FreSco-
malerei typische Gestalten dar, die man augenblicklich erkennt. Seit der Be¬
kanntschaft mit der deutschen Literatur dagegen suchten die Dichter hauptsächlich
solche Züge auf, die nur dem bewaffneten Auge wahrnehmbar sind. Man
warf sich auf die Beobachtung jener sonderbaren Wesen, die nur unter Be¬
dingungen möglich sind, welche schon den folgenden Tag verschwinden. Man
schränkte die Scenen auf distinguirte Personen ein, gebrochene Existenzen, die
nur in allgemeinen culturhistorischen Verhältnissen ihre Auflösung fanden. Es
waren zierliche Nococobilver; die starken Farben verloren sich in Nuancen, die
dreiste, derbe Sprache in einen Ertract aus weit hergeholten poetischen und
literarischen Beziehungen. Um Interesse zu erregen, mußte man Marquis sein
und nur noch der Salon wurde aus dem Theater geduldet. Diese physiogno¬
mielosen Personen, in ihrer Gestalt mit dem Erbfehler ihres Ursprungs befleckt,
hinterließen dem Gedächtniß keinen Eindruck; sie glichen den blassen, welken
Kindern, auf deren ermüdeten interessantem Gesicht sich das bleiche Abbild
eines verweichlichten, in frühen Lüsten erschöpften Vaters ausprägt. Die ein¬
fachen Grisetten und die Trunkenbolde BörangerS sind viel ansprechender, als
diese blassen Figuren A. de Müssets, die alles Mögliche wissen und nichts
wollen, deren Lustigkeit die Spuren des Liqueurs trägt. Sie sind nur in
einer Gesellschaft denkbar, die durch die rafftnirteste Genußsucht und durch ein
ZU frühzeitiges Leben sich alle Freude an dem einfach Schönen verkümmert hat,
und nur noch nach jenen überschwenglichen Emotionen jagt, wie sie sonst ei¬
gentlich nur in der Seele nervöser Weiber sich finden. Seine Dichtung über¬
rascht durch feine Züge, in denen auch die Willkür und Caprice ihr geistiges
Gesetz hat, aber sie ist nicht im Stande dauernd zu fesseln, denn sie hat
keinen wirklichen Inhalt; sie ist „Caviar fürs Volk". Sie resultirt endlich
in eine Philosophie der Verzweiflung. Dieser beständige Wechsel hingebender
Empfindung und wilden Hohnes erinnert an Lord Byron; aber grade darin
liegt der Unterschied zwischen beiden Dichtern. A. de Musset hat seine Em¬
pfindungen und seine Ideale aus zweiter Hand, und wenn er sich ein Kind
des Jahrhunderts nennt, so hat er wol am meisten darüber zu klagen, daß
nicht blos die Gespenster seiner eignen Vergangenheit ihn quälen, sondern die
Schatten früherer Dichtungen, die mächtiger auf ihn einwirkten, als die Ein¬
gebungen seiner eignen Einbildungskraft.

In den ^ontessions et'un enlÄnl ein sisele 1836 stellt der Dichter das
traurige Schicksal der Jugend dar, deren Geburt in das erste Jahrzehnt dieses


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[0427] die in der Regel mit dem Grundzug des Charakters nicht zusammenkommen (z. B. ein hektischer, verweichlichter GestchtsauSdruck bei einem Helden), in einen wesentlichen und nothwenigen Rapport mit demselben zu setzen, und wird dadurch nicht blos unsicher, sondern auch unwahr. Der nationalste aller französischen Dichter, Moliere, stellt in kühner FreSco- malerei typische Gestalten dar, die man augenblicklich erkennt. Seit der Be¬ kanntschaft mit der deutschen Literatur dagegen suchten die Dichter hauptsächlich solche Züge auf, die nur dem bewaffneten Auge wahrnehmbar sind. Man warf sich auf die Beobachtung jener sonderbaren Wesen, die nur unter Be¬ dingungen möglich sind, welche schon den folgenden Tag verschwinden. Man schränkte die Scenen auf distinguirte Personen ein, gebrochene Existenzen, die nur in allgemeinen culturhistorischen Verhältnissen ihre Auflösung fanden. Es waren zierliche Nococobilver; die starken Farben verloren sich in Nuancen, die dreiste, derbe Sprache in einen Ertract aus weit hergeholten poetischen und literarischen Beziehungen. Um Interesse zu erregen, mußte man Marquis sein und nur noch der Salon wurde aus dem Theater geduldet. Diese physiogno¬ mielosen Personen, in ihrer Gestalt mit dem Erbfehler ihres Ursprungs befleckt, hinterließen dem Gedächtniß keinen Eindruck; sie glichen den blassen, welken Kindern, auf deren ermüdeten interessantem Gesicht sich das bleiche Abbild eines verweichlichten, in frühen Lüsten erschöpften Vaters ausprägt. Die ein¬ fachen Grisetten und die Trunkenbolde BörangerS sind viel ansprechender, als diese blassen Figuren A. de Müssets, die alles Mögliche wissen und nichts wollen, deren Lustigkeit die Spuren des Liqueurs trägt. Sie sind nur in einer Gesellschaft denkbar, die durch die rafftnirteste Genußsucht und durch ein ZU frühzeitiges Leben sich alle Freude an dem einfach Schönen verkümmert hat, und nur noch nach jenen überschwenglichen Emotionen jagt, wie sie sonst ei¬ gentlich nur in der Seele nervöser Weiber sich finden. Seine Dichtung über¬ rascht durch feine Züge, in denen auch die Willkür und Caprice ihr geistiges Gesetz hat, aber sie ist nicht im Stande dauernd zu fesseln, denn sie hat keinen wirklichen Inhalt; sie ist „Caviar fürs Volk". Sie resultirt endlich in eine Philosophie der Verzweiflung. Dieser beständige Wechsel hingebender Empfindung und wilden Hohnes erinnert an Lord Byron; aber grade darin liegt der Unterschied zwischen beiden Dichtern. A. de Musset hat seine Em¬ pfindungen und seine Ideale aus zweiter Hand, und wenn er sich ein Kind des Jahrhunderts nennt, so hat er wol am meisten darüber zu klagen, daß nicht blos die Gespenster seiner eignen Vergangenheit ihn quälen, sondern die Schatten früherer Dichtungen, die mächtiger auf ihn einwirkten, als die Ein¬ gebungen seiner eignen Einbildungskraft. In den ^ontessions et'un enlÄnl ein sisele 1836 stellt der Dichter das traurige Schicksal der Jugend dar, deren Geburt in das erste Jahrzehnt dieses 53*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/427>, abgerufen am 28.07.2024.