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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Reaction gegen den akademischen Idealismus. Die Emancipation des Unver¬
mittelten von der Regel und von der Idee überhaupt, die Verherrlichung der
Willkür und die Verachtung des allgemein Menschlichen sind nicht blos bei
ihm, sondern bei der ganzen Dichtung seiner Periode charakteristische Züge.
Man könnte sagen, daß "er aus seiner Neigung eine Doctrin gemacht hat.
Nachdem er einen seiner Helden, Hassan, als eine Mischung der widersinnigsten
Gegensätze dargestellt und eine fabelhafte Menge kleiner Züge von ihm ange¬
führt hat, von denen schon jeder einzelne unser Erstaunen erregen muß, die
aber in ihrer Zusammensetzung vollkommen unbegreiflich sind, fährt er fort:


Vene/, apres vein Liier "i'un lon lip muNrv,
Ouo v'oft lo eiZLur Kuman c^'un imlLur etoit eonnuilro!
I'oujours le ooe"r Kumsm pour moükle öl pour im.
I^e L0LUI' Iiumuin (le! c^ni? I^ö coeur Iiumain lec c^uai?
(^etui lie wor voisin u 5" muniör" <>'nlle.
Noi, wniblvu, vmiimk lui, j'ni man c-oeur Imaum, moi.
Lotte vio ü lou", el. "eilt! a,ne ^je me"",
>)uim"I le all->dle soisil, cssl uns ol" Inimuins.

Und doch hat er auf der vorhergehenden Seite die Natur Hassans als
die allgemein menschliche Natur dargestellt, und so geht aus der Verleugnung
des Ideals ein umgekehrter Idealismus hervor. Es scheint, als ob es zum
Wesen deS Menschen gehört, mit unbefleckten Händen. Blut zu vergießen,
schuldig und unschuldig zugleich zu sein u. s. w., und wenn er später darauf
kommt, daß Hassan bereits alö Original das Recht hat, zu eristiren, daß
Gott einmal die Menschen gemacht habe, und daß man ihn nicht corrigiren
dürfe u. f. w., so ist das nicht ganz ernst gemeint, es ist nur eine Verwechs¬
lung zwischen der Wahrheit des Weltlaufö, welcher dadurch, daß er To¬
talität ist, die in ihm vorkommenden Widersinnigkeiten durch eine richtige rela¬
tive Stellung ergänzt und vervollständigt, und der Wahrheit der Poesie, welche
in jedem einzelnen Bilde Totalität geben soll und ihre Sünden daher nicht
dem Weltgeist in die Schuhe schieben darf, der in ihr nur durchscheint. Mit der
Wirklichkeit darf man sich nicht entschuldigen, wenn man den Unsinn ZUM
Gegenstand de,r Poesie macht. A. de Müssets Monstrositäten machen eine"
um so peinlichern Eindruck, da sie den Menschen zugleich in seiner natürlichen
Nacktheit und in dem äußersten Extrem des gesellschaftlichen Raffinements dar¬
stellen. Diese Krankhaftigkeit der Gestaltung zeigt sich auch in den kleine"
psychologischen Beobachtungen, die viel Feinheit verrathen, die aber die Auf¬
merksamkeit ausschließlich auf unwesentliche und abnorme Momente lenken,
Momente, welche man sonst nur durch das Augenglas wahrnimmt, und die
dem Auge bei der Auffassung der Totalität entgehen. Dadurch kommt in v"s
Bild eine falsche Perspektive; der Dichter bemüht sich, einzelne Eigenschaften,


Reaction gegen den akademischen Idealismus. Die Emancipation des Unver¬
mittelten von der Regel und von der Idee überhaupt, die Verherrlichung der
Willkür und die Verachtung des allgemein Menschlichen sind nicht blos bei
ihm, sondern bei der ganzen Dichtung seiner Periode charakteristische Züge.
Man könnte sagen, daß "er aus seiner Neigung eine Doctrin gemacht hat.
Nachdem er einen seiner Helden, Hassan, als eine Mischung der widersinnigsten
Gegensätze dargestellt und eine fabelhafte Menge kleiner Züge von ihm ange¬
führt hat, von denen schon jeder einzelne unser Erstaunen erregen muß, die
aber in ihrer Zusammensetzung vollkommen unbegreiflich sind, fährt er fort:


Vene/, apres vein Liier «i'un lon lip muNrv,
Ouo v'oft lo eiZLur Kuman c^'un imlLur etoit eonnuilro!
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I^e L0LUI' Iiumuin (le! c^ni? I^ö coeur Iiumain lec c^uai?
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Und doch hat er auf der vorhergehenden Seite die Natur Hassans als
die allgemein menschliche Natur dargestellt, und so geht aus der Verleugnung
des Ideals ein umgekehrter Idealismus hervor. Es scheint, als ob es zum
Wesen deS Menschen gehört, mit unbefleckten Händen. Blut zu vergießen,
schuldig und unschuldig zugleich zu sein u. s. w., und wenn er später darauf
kommt, daß Hassan bereits alö Original das Recht hat, zu eristiren, daß
Gott einmal die Menschen gemacht habe, und daß man ihn nicht corrigiren
dürfe u. f. w., so ist das nicht ganz ernst gemeint, es ist nur eine Verwechs¬
lung zwischen der Wahrheit des Weltlaufö, welcher dadurch, daß er To¬
talität ist, die in ihm vorkommenden Widersinnigkeiten durch eine richtige rela¬
tive Stellung ergänzt und vervollständigt, und der Wahrheit der Poesie, welche
in jedem einzelnen Bilde Totalität geben soll und ihre Sünden daher nicht
dem Weltgeist in die Schuhe schieben darf, der in ihr nur durchscheint. Mit der
Wirklichkeit darf man sich nicht entschuldigen, wenn man den Unsinn ZUM
Gegenstand de,r Poesie macht. A. de Müssets Monstrositäten machen eine»
um so peinlichern Eindruck, da sie den Menschen zugleich in seiner natürlichen
Nacktheit und in dem äußersten Extrem des gesellschaftlichen Raffinements dar¬
stellen. Diese Krankhaftigkeit der Gestaltung zeigt sich auch in den kleine»
psychologischen Beobachtungen, die viel Feinheit verrathen, die aber die Auf¬
merksamkeit ausschließlich auf unwesentliche und abnorme Momente lenken,
Momente, welche man sonst nur durch das Augenglas wahrnimmt, und die
dem Auge bei der Auffassung der Totalität entgehen. Dadurch kommt in v"s
Bild eine falsche Perspektive; der Dichter bemüht sich, einzelne Eigenschaften,


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[0426] Reaction gegen den akademischen Idealismus. Die Emancipation des Unver¬ mittelten von der Regel und von der Idee überhaupt, die Verherrlichung der Willkür und die Verachtung des allgemein Menschlichen sind nicht blos bei ihm, sondern bei der ganzen Dichtung seiner Periode charakteristische Züge. Man könnte sagen, daß "er aus seiner Neigung eine Doctrin gemacht hat. Nachdem er einen seiner Helden, Hassan, als eine Mischung der widersinnigsten Gegensätze dargestellt und eine fabelhafte Menge kleiner Züge von ihm ange¬ führt hat, von denen schon jeder einzelne unser Erstaunen erregen muß, die aber in ihrer Zusammensetzung vollkommen unbegreiflich sind, fährt er fort: Vene/, apres vein Liier «i'un lon lip muNrv, Ouo v'oft lo eiZLur Kuman c^'un imlLur etoit eonnuilro! I'oujours le ooe«r Kumsm pour moükle öl pour im. I^e L0LUI' Iiumuin (le! c^ni? I^ö coeur Iiumain lec c^uai? (^etui lie wor voisin u 5» muniör» <>'nlle. Noi, wniblvu, vmiimk lui, j'ni man c-oeur Imaum, moi. Lotte vio ü lou», el. «eilt! a,ne ^je me»«, >)uim«I le all->dle soisil, cssl uns ol« Inimuins. Und doch hat er auf der vorhergehenden Seite die Natur Hassans als die allgemein menschliche Natur dargestellt, und so geht aus der Verleugnung des Ideals ein umgekehrter Idealismus hervor. Es scheint, als ob es zum Wesen deS Menschen gehört, mit unbefleckten Händen. Blut zu vergießen, schuldig und unschuldig zugleich zu sein u. s. w., und wenn er später darauf kommt, daß Hassan bereits alö Original das Recht hat, zu eristiren, daß Gott einmal die Menschen gemacht habe, und daß man ihn nicht corrigiren dürfe u. f. w., so ist das nicht ganz ernst gemeint, es ist nur eine Verwechs¬ lung zwischen der Wahrheit des Weltlaufö, welcher dadurch, daß er To¬ talität ist, die in ihm vorkommenden Widersinnigkeiten durch eine richtige rela¬ tive Stellung ergänzt und vervollständigt, und der Wahrheit der Poesie, welche in jedem einzelnen Bilde Totalität geben soll und ihre Sünden daher nicht dem Weltgeist in die Schuhe schieben darf, der in ihr nur durchscheint. Mit der Wirklichkeit darf man sich nicht entschuldigen, wenn man den Unsinn ZUM Gegenstand de,r Poesie macht. A. de Müssets Monstrositäten machen eine» um so peinlichern Eindruck, da sie den Menschen zugleich in seiner natürlichen Nacktheit und in dem äußersten Extrem des gesellschaftlichen Raffinements dar¬ stellen. Diese Krankhaftigkeit der Gestaltung zeigt sich auch in den kleine» psychologischen Beobachtungen, die viel Feinheit verrathen, die aber die Auf¬ merksamkeit ausschließlich auf unwesentliche und abnorme Momente lenken, Momente, welche man sonst nur durch das Augenglas wahrnimmt, und die dem Auge bei der Auffassung der Totalität entgehen. Dadurch kommt in v"s Bild eine falsche Perspektive; der Dichter bemüht sich, einzelne Eigenschaften,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/426>, abgerufen am 28.07.2024.