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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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gefehlt, und im Gegensatz declamiren Barbier und ähnliche Rhetoren, wie
Jeremias auf den Ruinen einer völlig verwitterten Civilisation. Das bedenk¬
lichste Zeugniß dürste" die Theater sein, auf denen man dem Publicum Dinge
vorzuführen wagt, die bei uns allgemeines Entsetzen erregen würden. Indeß
mildert sich bei näherem Zusehen das Gefährliche dieser Zustände um ein Be¬
trächtliches. Wenn man davon abstrahirt, was durch die Concentration einer
Weltstadt an Liederlichkeit zusammengehäuft wird, ferner den Einfluß eines
verwahrlosten Hofes, der ein halbes Jahrhundert hindurch dem Reich ein
schlimmes Beispiel gab, wenn man sich ferner daran erinnert, daß in den
romanischen und katholischen Ländern durch die zu hohe Anspannung der kirch¬
lichen Forderungen das weltliche Leben zu einer leidenschaftlichen Reaction
verleitet wird, nicht blos in Thaten, sondern auch in Worten, so entdeckt man
doch noch einen sehr starken Nest sittlicher Zustände, die von den unsrigen
wenig oder gar nicht abweichen; man findet mit einiger Verwunderung, daß
nicht blos die französischen Provinzen, sondern die Bewohner der Hauptstadt
selbst von dem Leben, welches Mercier und Balzac schildern, ebensowenig
wissen als wir. Aber die schlechte Literatur trägt ihre Früchte. Der junge
Mensch, der Genialität genug in sich entdeckt, um auf die spießbürgerliche
Welt verächtlich herabzusehen, sucht seine Ideale in Manon Lescaut oder in
den I.ig,i8or>5 ctkNLsreusys und phantasirt sich in Zustände herein, die eigentlich
nur in der Zeit Neros und Heliogabals eristirt haben. Die verführerische
Gestalt Don Juans, wie ihn Hoffmann oder Byron schildern, quält seine
Einbildungskraft und sucht seine Träume heim. Wenn man unbefangen
die Gesammtliteratur ins Auge faßt, namentlich diejenige Galtung derselben,
welche die herrschende Bildung repräsentirt, so findet man, daß jene socialen
Gebrechen allerdings vorhanden sind, aber doch nur als Ausnahmezustände.
Es besteht nicht blos eine lebhafte Opposition gegen diese poetischen Gas-
connaden, sondern was viel mehr sagen will, eine ruhige, gemessene, leiden¬
schaftlose Opposition, die ihrer Sache sicher ist. Ja-man könnte aus den
Dichtungen Alfred de Müssets selber nachweisen, daß eS nicht so schlimm ist,
als er vorgibt. So viel er sich mit dem Laster beschäftigt, er weiß, daß es
Laster ist, und sein Behagen wechselt mit Abscheu. In diesem Abscheu sucht
^ sich davurch vor sich,selber zu rechtfertigen, daß er die individuelle Schuld
verallgemeinert. Er leitet die Liederlichkeit seiner Kreise aus dem Mangel an
Religion her, und häuft die schwersten Anklagen nicht blos gegen Voltaire,
ändern gegen den Dichter des Werther, gegen Byron und andere zusammen,
welche die poetische Jugend gelehrt haben, das Ideal da zu suchen, wo eS
nicht ist. Diese Art der Anklage ist charakteristisch. Der Dichter des Werther
würde freilich die angebliche Verwandtschaft mit Ren" und Roll" entschieden
Zurückweisen können; aber die Hauptsache ist, der Quell des Uebels liegt


gefehlt, und im Gegensatz declamiren Barbier und ähnliche Rhetoren, wie
Jeremias auf den Ruinen einer völlig verwitterten Civilisation. Das bedenk¬
lichste Zeugniß dürste» die Theater sein, auf denen man dem Publicum Dinge
vorzuführen wagt, die bei uns allgemeines Entsetzen erregen würden. Indeß
mildert sich bei näherem Zusehen das Gefährliche dieser Zustände um ein Be¬
trächtliches. Wenn man davon abstrahirt, was durch die Concentration einer
Weltstadt an Liederlichkeit zusammengehäuft wird, ferner den Einfluß eines
verwahrlosten Hofes, der ein halbes Jahrhundert hindurch dem Reich ein
schlimmes Beispiel gab, wenn man sich ferner daran erinnert, daß in den
romanischen und katholischen Ländern durch die zu hohe Anspannung der kirch¬
lichen Forderungen das weltliche Leben zu einer leidenschaftlichen Reaction
verleitet wird, nicht blos in Thaten, sondern auch in Worten, so entdeckt man
doch noch einen sehr starken Nest sittlicher Zustände, die von den unsrigen
wenig oder gar nicht abweichen; man findet mit einiger Verwunderung, daß
nicht blos die französischen Provinzen, sondern die Bewohner der Hauptstadt
selbst von dem Leben, welches Mercier und Balzac schildern, ebensowenig
wissen als wir. Aber die schlechte Literatur trägt ihre Früchte. Der junge
Mensch, der Genialität genug in sich entdeckt, um auf die spießbürgerliche
Welt verächtlich herabzusehen, sucht seine Ideale in Manon Lescaut oder in
den I.ig,i8or>5 ctkNLsreusys und phantasirt sich in Zustände herein, die eigentlich
nur in der Zeit Neros und Heliogabals eristirt haben. Die verführerische
Gestalt Don Juans, wie ihn Hoffmann oder Byron schildern, quält seine
Einbildungskraft und sucht seine Träume heim. Wenn man unbefangen
die Gesammtliteratur ins Auge faßt, namentlich diejenige Galtung derselben,
welche die herrschende Bildung repräsentirt, so findet man, daß jene socialen
Gebrechen allerdings vorhanden sind, aber doch nur als Ausnahmezustände.
Es besteht nicht blos eine lebhafte Opposition gegen diese poetischen Gas-
connaden, sondern was viel mehr sagen will, eine ruhige, gemessene, leiden¬
schaftlose Opposition, die ihrer Sache sicher ist. Ja-man könnte aus den
Dichtungen Alfred de Müssets selber nachweisen, daß eS nicht so schlimm ist,
als er vorgibt. So viel er sich mit dem Laster beschäftigt, er weiß, daß es
Laster ist, und sein Behagen wechselt mit Abscheu. In diesem Abscheu sucht
^ sich davurch vor sich,selber zu rechtfertigen, daß er die individuelle Schuld
verallgemeinert. Er leitet die Liederlichkeit seiner Kreise aus dem Mangel an
Religion her, und häuft die schwersten Anklagen nicht blos gegen Voltaire,
ändern gegen den Dichter des Werther, gegen Byron und andere zusammen,
welche die poetische Jugend gelehrt haben, das Ideal da zu suchen, wo eS
nicht ist. Diese Art der Anklage ist charakteristisch. Der Dichter des Werther
würde freilich die angebliche Verwandtschaft mit Ren« und Roll« entschieden
Zurückweisen können; aber die Hauptsache ist, der Quell des Uebels liegt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/423>, abgerufen am 28.07.2024.