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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Die echte Berneraristokratie lebt in keiner Weise mehr im Volk oder für das
Volk. Ihr Vermögen ist größtentheils in der Fremde; ihre Carriere macht
sie ebenfalls in der Fremde. Vom Vaterlande erwartet und will sie nichts als
etwa die obersten Regierungsstellen; das Volk ist ihr ein moll ins tsnKörs.
Da sich Beruf Geschichte demokratisch entwickelt, wird sie vom Patriziat förm¬
lich ignorirt. Die gegenwärtigen Zustände sind ihm nicht vorhanden, wie eS
auch für sie nicht vorhanden ist. Es thut einem ordentlich im Herzen weh,
wenn man hier nach den Nachkommen der Erlach, Grafenried, Mülinen,
Simmer, Wattewyl, Dießbach und all der guten Männer des edlen alten Bern
fragt und dann diese Jünglinge mit den Dandys und Löwen unserer großen
Städte wetteifern sieht. Indessen sind auch schöne Ausnahmen vorhanden.
Du hast in den Zeitungen genug von den politischen Kämpfen Beruf zu lesen
bekommen und dich wahrscheinlich rasch' übersättigt gefühlt. Sie sind für den
Fremden auch gar so unerquicklich gewesen und man wußte kaum, ob die
pietistisch-conservative oder die kommunistisch-radicale Partei weniger Sympa¬
thien verdiene. ES war ein, wenn auch nothgedrungener, doch immer hoch¬
herziger Schritt, als die beiden erbitterten Parteien sich das Wort "Ver¬
söhnung" zuriefen. Die einsichtigen und patriotischen Männer beider Seiten
hatten es klar genug erkannt, daß nur auf diesem Wege das Heil des Ean-
tons liege, das schwer bedrohte. Denn du glaubst es nicht, wie sehr dieser
unter den ewigen Parteifehden gelitten hat, wie tief diese im ganzen Lande
alle öffentlichen Zustände unterfressen haben. Ich könnte dir stundenlang da¬
von erzählen, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, namentlich aber von
dem Unfug, den die Sachwalter und Juristen gewisser Sorte, sowie die Dorf¬
matadore mit dem armen Volke treiben. Doch ich verweise dich darüber auf
die Schriften des Jeremias Gotthelf; da werden dir die Augen auf- und wol
übergehen. Bitzius übertreibt schwerlich. Zu allen seinen Figuren lassen sich
die Modelle im Leben nachweisen; aber er schildert einseitig und parteiisch-
Im Ganzen spürt man in Bern außer in Anwesenheit der Bundesversammlung
wenig davon, daß es zur schweizerischen Hauptstadt erhoben wurde. Der im
Bau begriffene großartige Bundespalast wird ihr zur hohen Zierde gereichen-
Ich benutzte öfter die Gelegenheit, den Sitzungen des Nationalrathes und
des Bundesrathes beizuwohnen und gestehe gern, daß ich einen sehr vortheil¬
haften Eindruck aus den Rathsälen mitgenommen habe. Rein politische
Debatten und Klopffechtereien, wie anderwärts, habe ich nicht gehört. D>e
Räthe beschäftigen sich fast ausschließlich mit gründlichen und einsichtsvollen
Berathungen über die Hebung der materiellen Zustände der Schweiz und zwar
mit vielem parlamentarischen Takte. Regen sich auch oft cantonale Interessen,
so geschieht es doch mit Mäßigung. Einen seltsamen Eindruck aber macht
das Sprachengewirr in den Rathssälen, wo stets deutsch, italienisch und fr""-


Die echte Berneraristokratie lebt in keiner Weise mehr im Volk oder für das
Volk. Ihr Vermögen ist größtentheils in der Fremde; ihre Carriere macht
sie ebenfalls in der Fremde. Vom Vaterlande erwartet und will sie nichts als
etwa die obersten Regierungsstellen; das Volk ist ihr ein moll ins tsnKörs.
Da sich Beruf Geschichte demokratisch entwickelt, wird sie vom Patriziat förm¬
lich ignorirt. Die gegenwärtigen Zustände sind ihm nicht vorhanden, wie eS
auch für sie nicht vorhanden ist. Es thut einem ordentlich im Herzen weh,
wenn man hier nach den Nachkommen der Erlach, Grafenried, Mülinen,
Simmer, Wattewyl, Dießbach und all der guten Männer des edlen alten Bern
fragt und dann diese Jünglinge mit den Dandys und Löwen unserer großen
Städte wetteifern sieht. Indessen sind auch schöne Ausnahmen vorhanden.
Du hast in den Zeitungen genug von den politischen Kämpfen Beruf zu lesen
bekommen und dich wahrscheinlich rasch' übersättigt gefühlt. Sie sind für den
Fremden auch gar so unerquicklich gewesen und man wußte kaum, ob die
pietistisch-conservative oder die kommunistisch-radicale Partei weniger Sympa¬
thien verdiene. ES war ein, wenn auch nothgedrungener, doch immer hoch¬
herziger Schritt, als die beiden erbitterten Parteien sich das Wort „Ver¬
söhnung" zuriefen. Die einsichtigen und patriotischen Männer beider Seiten
hatten es klar genug erkannt, daß nur auf diesem Wege das Heil des Ean-
tons liege, das schwer bedrohte. Denn du glaubst es nicht, wie sehr dieser
unter den ewigen Parteifehden gelitten hat, wie tief diese im ganzen Lande
alle öffentlichen Zustände unterfressen haben. Ich könnte dir stundenlang da¬
von erzählen, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, namentlich aber von
dem Unfug, den die Sachwalter und Juristen gewisser Sorte, sowie die Dorf¬
matadore mit dem armen Volke treiben. Doch ich verweise dich darüber auf
die Schriften des Jeremias Gotthelf; da werden dir die Augen auf- und wol
übergehen. Bitzius übertreibt schwerlich. Zu allen seinen Figuren lassen sich
die Modelle im Leben nachweisen; aber er schildert einseitig und parteiisch-
Im Ganzen spürt man in Bern außer in Anwesenheit der Bundesversammlung
wenig davon, daß es zur schweizerischen Hauptstadt erhoben wurde. Der im
Bau begriffene großartige Bundespalast wird ihr zur hohen Zierde gereichen-
Ich benutzte öfter die Gelegenheit, den Sitzungen des Nationalrathes und
des Bundesrathes beizuwohnen und gestehe gern, daß ich einen sehr vortheil¬
haften Eindruck aus den Rathsälen mitgenommen habe. Rein politische
Debatten und Klopffechtereien, wie anderwärts, habe ich nicht gehört. D>e
Räthe beschäftigen sich fast ausschließlich mit gründlichen und einsichtsvollen
Berathungen über die Hebung der materiellen Zustände der Schweiz und zwar
mit vielem parlamentarischen Takte. Regen sich auch oft cantonale Interessen,
so geschieht es doch mit Mäßigung. Einen seltsamen Eindruck aber macht
das Sprachengewirr in den Rathssälen, wo stets deutsch, italienisch und fr«»-


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[0402] Die echte Berneraristokratie lebt in keiner Weise mehr im Volk oder für das Volk. Ihr Vermögen ist größtentheils in der Fremde; ihre Carriere macht sie ebenfalls in der Fremde. Vom Vaterlande erwartet und will sie nichts als etwa die obersten Regierungsstellen; das Volk ist ihr ein moll ins tsnKörs. Da sich Beruf Geschichte demokratisch entwickelt, wird sie vom Patriziat förm¬ lich ignorirt. Die gegenwärtigen Zustände sind ihm nicht vorhanden, wie eS auch für sie nicht vorhanden ist. Es thut einem ordentlich im Herzen weh, wenn man hier nach den Nachkommen der Erlach, Grafenried, Mülinen, Simmer, Wattewyl, Dießbach und all der guten Männer des edlen alten Bern fragt und dann diese Jünglinge mit den Dandys und Löwen unserer großen Städte wetteifern sieht. Indessen sind auch schöne Ausnahmen vorhanden. Du hast in den Zeitungen genug von den politischen Kämpfen Beruf zu lesen bekommen und dich wahrscheinlich rasch' übersättigt gefühlt. Sie sind für den Fremden auch gar so unerquicklich gewesen und man wußte kaum, ob die pietistisch-conservative oder die kommunistisch-radicale Partei weniger Sympa¬ thien verdiene. ES war ein, wenn auch nothgedrungener, doch immer hoch¬ herziger Schritt, als die beiden erbitterten Parteien sich das Wort „Ver¬ söhnung" zuriefen. Die einsichtigen und patriotischen Männer beider Seiten hatten es klar genug erkannt, daß nur auf diesem Wege das Heil des Ean- tons liege, das schwer bedrohte. Denn du glaubst es nicht, wie sehr dieser unter den ewigen Parteifehden gelitten hat, wie tief diese im ganzen Lande alle öffentlichen Zustände unterfressen haben. Ich könnte dir stundenlang da¬ von erzählen, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, namentlich aber von dem Unfug, den die Sachwalter und Juristen gewisser Sorte, sowie die Dorf¬ matadore mit dem armen Volke treiben. Doch ich verweise dich darüber auf die Schriften des Jeremias Gotthelf; da werden dir die Augen auf- und wol übergehen. Bitzius übertreibt schwerlich. Zu allen seinen Figuren lassen sich die Modelle im Leben nachweisen; aber er schildert einseitig und parteiisch- Im Ganzen spürt man in Bern außer in Anwesenheit der Bundesversammlung wenig davon, daß es zur schweizerischen Hauptstadt erhoben wurde. Der im Bau begriffene großartige Bundespalast wird ihr zur hohen Zierde gereichen- Ich benutzte öfter die Gelegenheit, den Sitzungen des Nationalrathes und des Bundesrathes beizuwohnen und gestehe gern, daß ich einen sehr vortheil¬ haften Eindruck aus den Rathsälen mitgenommen habe. Rein politische Debatten und Klopffechtereien, wie anderwärts, habe ich nicht gehört. D>e Räthe beschäftigen sich fast ausschließlich mit gründlichen und einsichtsvollen Berathungen über die Hebung der materiellen Zustände der Schweiz und zwar mit vielem parlamentarischen Takte. Regen sich auch oft cantonale Interessen, so geschieht es doch mit Mäßigung. Einen seltsamen Eindruck aber macht das Sprachengewirr in den Rathssälen, wo stets deutsch, italienisch und fr«»-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/402>, abgerufen am 27.07.2024.