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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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nach Regel und Gesetz, und dieses entdeckt sie nur durch Analyse. Die Kunst
dagegen soll individuelle Gestaltung geben, und diese ist unmöglich, wenn sie
bei der Farbe stehen bleibt. Der Pantheist kann nicht einmal eine starke durch¬
greifende Leidenschaft schildern, denn dazu 'gehört die Repulsion, das Bewußt¬
sein der Freiheit, die Fähigkeit des Hasses; und der echte Pantheist hat diese
Fähigkeit nicht, da ihm der Unterschied des Guten und Bösen aushört. Die¬
jenigen Stimmungen, die sich innerhalb des Naturprocesses bewegen, schildert
Schefer mit einer wunderbaren Virtuosität; aber wo sie in die Welt der Frei¬
heit, der sittlichen Folgen, der Zurechnung übergehen, da erlahmt seine Kraft,
seine Zeichnung wird verwaschen, und über seine Bilder breitet sich der trübe
Flor eines halb melancholischen, halb ironischen Skepticismus.

Wenn der Pantheist auf diese Weise der Individualität Unrecht thut, in¬
dem er sie chemisch zersetzt, so übertreibt er sie wieder, indem er sie von dem
Gattungsleben der Menschheit und der bestimmten Gesellschaft, zu der sie ge¬
hört, isolirt. Die Verblendung des Pantheismus tritt am klarsten hervor,
wenn wir die Thiere mit den Menschen vergleichen. Die individuellen Be¬
ziehungen sind bis zu einer gewissen Grenze beiden gemein. Auch die Thiere
kennen das Gefühl der Anhänglichkeit, der Abneigung, des Neides, der Gro߬
mut!) :c.; aber diese Gefühle beziehen sich immer nur auf Einzelnes, sie haben
nicht das Gefühl der Gattung. Durch die Sprache gliedert sich der einzelne
Mensch als integrirender Theil eines organischen Ganzen, dem er mit seinein
ganzen Leben, mit seinen Begriffen, mit seinem Rechtsgefühl und Gewissen
angehört. Diese nothwendige Stellung des Menschen innerhalb der Gesell¬
schaft und der Geschichte läßt Schefer aus den Augen. Er kennt nur Indi¬
viduen, bei denen das Allgemeingesühl höchstens im Keim vorhanden ist. Bis
zur vollste" Konsequenz läßt sich das freilich nicht treiben, ohne daß man in
den bodenlosesten Unsinn verfällt, denn in diesem Fall müßte man dem Einzelnen
auch die Sprache nehmen. Aber Schefer hat es weit genug getrieben, um
aus der Unwahrscheinlichkeit seiner Erfindungen, die schon sein Freund an ihm
rügt, wirkliche Unwahrheit zu machen. Zum Theil wird das versteckt durch die
Unbestimmte, in fieberhafter Erregung zitternde Sprache, und so vergißt man
Zuweilen über der Ungenauigkeit der Erzählung die Ungenauigkeit der Charak¬
teristik. Aber beides geht aus derselben Quelle hervor.

Es ist ein übereilter Schluß, wenn man aus der Krankhaftigkeit der
Dichtung auf die Krankhaftigkeit des Dichters schließt. Schefer, wie wir ihn
aus dieser Biographie kennen lernen, ist eine kerngesunde, tüchtige Natur, bei
der der Pantheismus nur auf der Oberfläche schwimmt; aber hie Liebenswür¬
digkeit des-Dichters, sein rechtschaffenes Gefühl und seine edeln Neigungen
können auch die Sünden seiner Dichtung nicht gut machen, die ihn überdauern,
größer das Talent ist, das sich in diesen Novellen entwickelt, je glänzender


Gi'enzbottn. II. 49

nach Regel und Gesetz, und dieses entdeckt sie nur durch Analyse. Die Kunst
dagegen soll individuelle Gestaltung geben, und diese ist unmöglich, wenn sie
bei der Farbe stehen bleibt. Der Pantheist kann nicht einmal eine starke durch¬
greifende Leidenschaft schildern, denn dazu 'gehört die Repulsion, das Bewußt¬
sein der Freiheit, die Fähigkeit des Hasses; und der echte Pantheist hat diese
Fähigkeit nicht, da ihm der Unterschied des Guten und Bösen aushört. Die¬
jenigen Stimmungen, die sich innerhalb des Naturprocesses bewegen, schildert
Schefer mit einer wunderbaren Virtuosität; aber wo sie in die Welt der Frei¬
heit, der sittlichen Folgen, der Zurechnung übergehen, da erlahmt seine Kraft,
seine Zeichnung wird verwaschen, und über seine Bilder breitet sich der trübe
Flor eines halb melancholischen, halb ironischen Skepticismus.

Wenn der Pantheist auf diese Weise der Individualität Unrecht thut, in¬
dem er sie chemisch zersetzt, so übertreibt er sie wieder, indem er sie von dem
Gattungsleben der Menschheit und der bestimmten Gesellschaft, zu der sie ge¬
hört, isolirt. Die Verblendung des Pantheismus tritt am klarsten hervor,
wenn wir die Thiere mit den Menschen vergleichen. Die individuellen Be¬
ziehungen sind bis zu einer gewissen Grenze beiden gemein. Auch die Thiere
kennen das Gefühl der Anhänglichkeit, der Abneigung, des Neides, der Gro߬
mut!) :c.; aber diese Gefühle beziehen sich immer nur auf Einzelnes, sie haben
nicht das Gefühl der Gattung. Durch die Sprache gliedert sich der einzelne
Mensch als integrirender Theil eines organischen Ganzen, dem er mit seinein
ganzen Leben, mit seinen Begriffen, mit seinem Rechtsgefühl und Gewissen
angehört. Diese nothwendige Stellung des Menschen innerhalb der Gesell¬
schaft und der Geschichte läßt Schefer aus den Augen. Er kennt nur Indi¬
viduen, bei denen das Allgemeingesühl höchstens im Keim vorhanden ist. Bis
zur vollste» Konsequenz läßt sich das freilich nicht treiben, ohne daß man in
den bodenlosesten Unsinn verfällt, denn in diesem Fall müßte man dem Einzelnen
auch die Sprache nehmen. Aber Schefer hat es weit genug getrieben, um
aus der Unwahrscheinlichkeit seiner Erfindungen, die schon sein Freund an ihm
rügt, wirkliche Unwahrheit zu machen. Zum Theil wird das versteckt durch die
Unbestimmte, in fieberhafter Erregung zitternde Sprache, und so vergißt man
Zuweilen über der Ungenauigkeit der Erzählung die Ungenauigkeit der Charak¬
teristik. Aber beides geht aus derselben Quelle hervor.

Es ist ein übereilter Schluß, wenn man aus der Krankhaftigkeit der
Dichtung auf die Krankhaftigkeit des Dichters schließt. Schefer, wie wir ihn
aus dieser Biographie kennen lernen, ist eine kerngesunde, tüchtige Natur, bei
der der Pantheismus nur auf der Oberfläche schwimmt; aber hie Liebenswür¬
digkeit des-Dichters, sein rechtschaffenes Gefühl und seine edeln Neigungen
können auch die Sünden seiner Dichtung nicht gut machen, die ihn überdauern,
größer das Talent ist, das sich in diesen Novellen entwickelt, je glänzender


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[0393] nach Regel und Gesetz, und dieses entdeckt sie nur durch Analyse. Die Kunst dagegen soll individuelle Gestaltung geben, und diese ist unmöglich, wenn sie bei der Farbe stehen bleibt. Der Pantheist kann nicht einmal eine starke durch¬ greifende Leidenschaft schildern, denn dazu 'gehört die Repulsion, das Bewußt¬ sein der Freiheit, die Fähigkeit des Hasses; und der echte Pantheist hat diese Fähigkeit nicht, da ihm der Unterschied des Guten und Bösen aushört. Die¬ jenigen Stimmungen, die sich innerhalb des Naturprocesses bewegen, schildert Schefer mit einer wunderbaren Virtuosität; aber wo sie in die Welt der Frei¬ heit, der sittlichen Folgen, der Zurechnung übergehen, da erlahmt seine Kraft, seine Zeichnung wird verwaschen, und über seine Bilder breitet sich der trübe Flor eines halb melancholischen, halb ironischen Skepticismus. Wenn der Pantheist auf diese Weise der Individualität Unrecht thut, in¬ dem er sie chemisch zersetzt, so übertreibt er sie wieder, indem er sie von dem Gattungsleben der Menschheit und der bestimmten Gesellschaft, zu der sie ge¬ hört, isolirt. Die Verblendung des Pantheismus tritt am klarsten hervor, wenn wir die Thiere mit den Menschen vergleichen. Die individuellen Be¬ ziehungen sind bis zu einer gewissen Grenze beiden gemein. Auch die Thiere kennen das Gefühl der Anhänglichkeit, der Abneigung, des Neides, der Gro߬ mut!) :c.; aber diese Gefühle beziehen sich immer nur auf Einzelnes, sie haben nicht das Gefühl der Gattung. Durch die Sprache gliedert sich der einzelne Mensch als integrirender Theil eines organischen Ganzen, dem er mit seinein ganzen Leben, mit seinen Begriffen, mit seinem Rechtsgefühl und Gewissen angehört. Diese nothwendige Stellung des Menschen innerhalb der Gesell¬ schaft und der Geschichte läßt Schefer aus den Augen. Er kennt nur Indi¬ viduen, bei denen das Allgemeingesühl höchstens im Keim vorhanden ist. Bis zur vollste» Konsequenz läßt sich das freilich nicht treiben, ohne daß man in den bodenlosesten Unsinn verfällt, denn in diesem Fall müßte man dem Einzelnen auch die Sprache nehmen. Aber Schefer hat es weit genug getrieben, um aus der Unwahrscheinlichkeit seiner Erfindungen, die schon sein Freund an ihm rügt, wirkliche Unwahrheit zu machen. Zum Theil wird das versteckt durch die Unbestimmte, in fieberhafter Erregung zitternde Sprache, und so vergißt man Zuweilen über der Ungenauigkeit der Erzählung die Ungenauigkeit der Charak¬ teristik. Aber beides geht aus derselben Quelle hervor. Es ist ein übereilter Schluß, wenn man aus der Krankhaftigkeit der Dichtung auf die Krankhaftigkeit des Dichters schließt. Schefer, wie wir ihn aus dieser Biographie kennen lernen, ist eine kerngesunde, tüchtige Natur, bei der der Pantheismus nur auf der Oberfläche schwimmt; aber hie Liebenswür¬ digkeit des-Dichters, sein rechtschaffenes Gefühl und seine edeln Neigungen können auch die Sünden seiner Dichtung nicht gut machen, die ihn überdauern, größer das Talent ist, das sich in diesen Novellen entwickelt, je glänzender Gi'enzbottn. II. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/393>, abgerufen am 01.09.2024.