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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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andern Seite mußte ich wirklich so schreiben, wenn ich einschlagen wollte
ins Volk."

Aus diesen Stimmungen ging seine erste Schrift: Der Bauernspiegel,
oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf, Sommer 1836, hervor.
Wenn er auch in diesem Buch flüchtiger zeichnet, als in seinen spätern, so
findet man doch alle Keime seiner Dichtung darin bereits enthalten. Das
Buch verzichtet von vorn herein auf künstlerische Einheit und gibt nur eine
Reihe von Scenen aus dem Bauernleben, die durch das Anknüpfen an das
Schicksal eines Einzelnen ein fortlaufendes Interesse erhalten. Die Geschichte
drängt nicht in Anlage und Fortgang auf einen glücklichen oder unglücklichen
Ausgang. Der Weg ist dem Verfasser wichtiger, als daS Ziel. Das Inter¬
esse knüpft sich an den Charakter deS Helden, dessen kerngesunde Natur aus
dem Kampf gegen die schlimmen Seiten der Welt, die hintereinander ihn
bedrängen, siegreich hervorgeht. Es werden vorzugsweise die Schattenseiten
deS Bauernlebens hervorgehoben, aber Gotthelf söhnt uns in seinem kräftigen
Naturwuchs mit diesen grellen Schilderungen aus und läßt uns zum Volks-
geist Vertrauen fassen, welcher noch so viel Gesundheit und Ursprünglichkeit
hervorbringt. Das Buch machte im Canton großes Aufsehn, wurde aber
namentlich von der kirchlichen Kritik scharf angefochten: das christliche Element
trete zu wenig hervor, das Böse sei zu nackt und unverhüllt dargestellt und
die treue Schilderung gewisser Dinge, z. B. deS Kiltgangs, könne eher reizend
als abschreckend wirken. Vor allem nahm man an der derben Form Anstoß-
Der Verfasser ließ sich aber dadurch nicht irren, und seine nächste Schrift, die
Wassernoth, die wieder eine bestimmte locale Veranlassung hatte, ist nicht
weniger derb, als das Vorhergehende. Bei einer großen Ueberschwemmung
im Emmenthal sah Gotthelf die Selbstsucht, den unerhörten Eigennutz und
die Herzlosigkeit der Menschen, die das Unglück anderer ausbeuteten, eine
Art Strandrecht geltend machten oder habgierig bei kleinem Schaden sich
die Steuern drängten, welche vor allem dem großen Schaden, der tiefen Noth
der Aermeren galten.

1838--1839 erschienen die Leiden und Freuden eines Schulmeisters,
ein meisterhaftes Werk, das den Namen des Verfassers auch in Deutschland
bekannt machte. Ein armer Schulmeister erzählt seine Lebensgeschichte und
berichtet vorerst von seiner völlig verwahrlosten Erziehung, wie er aus einem
armen Weberjungen zum Schulmeister geworden. Er erzählt die Zufälligkeiten
und Schwankungen seines früheren Lebens, dann seinen Kampf mit bitterer
Noth, seine Hoffnungen, Enttäuschungen und Leiden. Die außerordentlichen
Schwierigkeiten, die der durchgreifenden Reform eines so sehr durch positive
und bestehende Verhältnisse bedingten Verwaltungszweiges, wie es das Volks¬
schulwesen ist, entgegenstehen, werden an dem Lebenslauf eines einzelnen


andern Seite mußte ich wirklich so schreiben, wenn ich einschlagen wollte
ins Volk."

Aus diesen Stimmungen ging seine erste Schrift: Der Bauernspiegel,
oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf, Sommer 1836, hervor.
Wenn er auch in diesem Buch flüchtiger zeichnet, als in seinen spätern, so
findet man doch alle Keime seiner Dichtung darin bereits enthalten. Das
Buch verzichtet von vorn herein auf künstlerische Einheit und gibt nur eine
Reihe von Scenen aus dem Bauernleben, die durch das Anknüpfen an das
Schicksal eines Einzelnen ein fortlaufendes Interesse erhalten. Die Geschichte
drängt nicht in Anlage und Fortgang auf einen glücklichen oder unglücklichen
Ausgang. Der Weg ist dem Verfasser wichtiger, als daS Ziel. Das Inter¬
esse knüpft sich an den Charakter deS Helden, dessen kerngesunde Natur aus
dem Kampf gegen die schlimmen Seiten der Welt, die hintereinander ihn
bedrängen, siegreich hervorgeht. Es werden vorzugsweise die Schattenseiten
deS Bauernlebens hervorgehoben, aber Gotthelf söhnt uns in seinem kräftigen
Naturwuchs mit diesen grellen Schilderungen aus und läßt uns zum Volks-
geist Vertrauen fassen, welcher noch so viel Gesundheit und Ursprünglichkeit
hervorbringt. Das Buch machte im Canton großes Aufsehn, wurde aber
namentlich von der kirchlichen Kritik scharf angefochten: das christliche Element
trete zu wenig hervor, das Böse sei zu nackt und unverhüllt dargestellt und
die treue Schilderung gewisser Dinge, z. B. deS Kiltgangs, könne eher reizend
als abschreckend wirken. Vor allem nahm man an der derben Form Anstoß-
Der Verfasser ließ sich aber dadurch nicht irren, und seine nächste Schrift, die
Wassernoth, die wieder eine bestimmte locale Veranlassung hatte, ist nicht
weniger derb, als das Vorhergehende. Bei einer großen Ueberschwemmung
im Emmenthal sah Gotthelf die Selbstsucht, den unerhörten Eigennutz und
die Herzlosigkeit der Menschen, die das Unglück anderer ausbeuteten, eine
Art Strandrecht geltend machten oder habgierig bei kleinem Schaden sich
die Steuern drängten, welche vor allem dem großen Schaden, der tiefen Noth
der Aermeren galten.

1838—1839 erschienen die Leiden und Freuden eines Schulmeisters,
ein meisterhaftes Werk, das den Namen des Verfassers auch in Deutschland
bekannt machte. Ein armer Schulmeister erzählt seine Lebensgeschichte und
berichtet vorerst von seiner völlig verwahrlosten Erziehung, wie er aus einem
armen Weberjungen zum Schulmeister geworden. Er erzählt die Zufälligkeiten
und Schwankungen seines früheren Lebens, dann seinen Kampf mit bitterer
Noth, seine Hoffnungen, Enttäuschungen und Leiden. Die außerordentlichen
Schwierigkeiten, die der durchgreifenden Reform eines so sehr durch positive
und bestehende Verhältnisse bedingten Verwaltungszweiges, wie es das Volks¬
schulwesen ist, entgegenstehen, werden an dem Lebenslauf eines einzelnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/382>, abgerufen am 28.07.2024.