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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Nach seiner Heimkehr trat Bitzius wieder in das Vicariat bei seinem
Vater in Utzensdors ein und blieb hier bis zum Tode des letzteren, welcher
im Jahr erfolgte. Dieses Vicariat war seine erste praktische Schule
und gab ihm vielfache Gelegenheit, seinen ganzen aufs Thun und Wirken
gerichteten Sinn zu bethätigen. Wo er helfen konnte, stund er ein, handelte
mehr als er raisonnirte, trat dem Unrecht entgegen, wo er es zu finden glaubte,
und griff ohne Absichtlichkeit und eigennützige Berechnung da ein, wo er nützen
und bessern konnte. Ganz besonders lag ihm das Schulwesen am Herzen.
Er besuchte nicht nur sehr fleißig die Schulen, sondern er half oft selbst dem
Schulmeister, wenn dieser der großen Last nicht gewachsen schien, ganze Tage
Schule halten.

1824 wurde er als Vicar nach dem Kirchdorfe Herzogenbuchsee versetzt,
wo er fünf Jahre zubrachte. Diese Zeit wurde besonders dadurch ein wich¬
tiger Abschnitt seines Lebens, daß er hier noch mehr als in seiner frühern
Station sich in das Leben des Volkes, in dessen Sitten, Gebräuche, An¬
schauungsweise einlebte und sich keine Zeit und Mühe verdrießen ließ, es von
allen Seiten kennen zu lernen. Er hatte von der Natur jenen Sinn erhalten,
der die kleinen Interessen, Sorgen, Hoffnungen des Einzelnen, auch des Gering¬
sten kennen zu lernen nicht unter seiner Würde hält. Er besaß die Eigen¬
schaften, welche ihm die Herzen des Volkes ausschlossen: das freie uneigen¬
nützige Wohlwollen und die aus diesem Wohlwollen hervorgehende Geduld,
jeden anzuhören und eines jeden Angelegenheit, wie geringfügig sie auch für
einen Fremden war, Momentan zu der seinigen zu machen. Er hatte Zeit für
alle, und seine behagliche Umgangsweise mahnte weder zur Eile und Kürze,
noch zum vorschnellen Abbrechen einer angesponnenen Unterhaltung. Als ihm
späterhin einst ein Amtsbruder über langweilige und ermüdende Audienzen
und so viele unabweisbare, unnütze Gespräche klagte, antwortete er ihm,
grade das seien seine glücklichsten Stunden, man müsse nur so ein Mütterchen
nicht stören und eS recht sich ausreden lassen, dann schließe es sein ganzes
Herz auf und lasse in sein Innerstes blicken. Er machte überhaupt viel Haus¬
besuche, und wußte sich dabei so zu benehmen, daß er gleich das Vertrauen
der Leute erwarb. Er hatte immer viel zu fragen, und bekam oft die naivsten
Antworten, die ihn tief in das Innerste der Menschen blicken ließen. Wen"
er zwei oder drei Male in einem Hause war, so hatte er die ganze Haus¬
ordnung bis ins Kuchigenterli und die sämmtlichen Familienverhältnisse bis
in den hintersten Winkel. Auf diese Art erwarb er sich die gründliche Kennt¬
niß des Volkslebens, wie sie vor ihm kein Volksschriftsteller hatte. Er war
unermüdlich thätig bei den Gemeindeverhältnissen und dem Armenwesen, sogar
bei den Gesangvereinen, obschon er selbst kein Sänger war. Er konnte mit
einem Mädchen scherzen, oder mit einer Hausfrau über ihren KabiSplätz


Nach seiner Heimkehr trat Bitzius wieder in das Vicariat bei seinem
Vater in Utzensdors ein und blieb hier bis zum Tode des letzteren, welcher
im Jahr erfolgte. Dieses Vicariat war seine erste praktische Schule
und gab ihm vielfache Gelegenheit, seinen ganzen aufs Thun und Wirken
gerichteten Sinn zu bethätigen. Wo er helfen konnte, stund er ein, handelte
mehr als er raisonnirte, trat dem Unrecht entgegen, wo er es zu finden glaubte,
und griff ohne Absichtlichkeit und eigennützige Berechnung da ein, wo er nützen
und bessern konnte. Ganz besonders lag ihm das Schulwesen am Herzen.
Er besuchte nicht nur sehr fleißig die Schulen, sondern er half oft selbst dem
Schulmeister, wenn dieser der großen Last nicht gewachsen schien, ganze Tage
Schule halten.

1824 wurde er als Vicar nach dem Kirchdorfe Herzogenbuchsee versetzt,
wo er fünf Jahre zubrachte. Diese Zeit wurde besonders dadurch ein wich¬
tiger Abschnitt seines Lebens, daß er hier noch mehr als in seiner frühern
Station sich in das Leben des Volkes, in dessen Sitten, Gebräuche, An¬
schauungsweise einlebte und sich keine Zeit und Mühe verdrießen ließ, es von
allen Seiten kennen zu lernen. Er hatte von der Natur jenen Sinn erhalten,
der die kleinen Interessen, Sorgen, Hoffnungen des Einzelnen, auch des Gering¬
sten kennen zu lernen nicht unter seiner Würde hält. Er besaß die Eigen¬
schaften, welche ihm die Herzen des Volkes ausschlossen: das freie uneigen¬
nützige Wohlwollen und die aus diesem Wohlwollen hervorgehende Geduld,
jeden anzuhören und eines jeden Angelegenheit, wie geringfügig sie auch für
einen Fremden war, Momentan zu der seinigen zu machen. Er hatte Zeit für
alle, und seine behagliche Umgangsweise mahnte weder zur Eile und Kürze,
noch zum vorschnellen Abbrechen einer angesponnenen Unterhaltung. Als ihm
späterhin einst ein Amtsbruder über langweilige und ermüdende Audienzen
und so viele unabweisbare, unnütze Gespräche klagte, antwortete er ihm,
grade das seien seine glücklichsten Stunden, man müsse nur so ein Mütterchen
nicht stören und eS recht sich ausreden lassen, dann schließe es sein ganzes
Herz auf und lasse in sein Innerstes blicken. Er machte überhaupt viel Haus¬
besuche, und wußte sich dabei so zu benehmen, daß er gleich das Vertrauen
der Leute erwarb. Er hatte immer viel zu fragen, und bekam oft die naivsten
Antworten, die ihn tief in das Innerste der Menschen blicken ließen. Wen»
er zwei oder drei Male in einem Hause war, so hatte er die ganze Haus¬
ordnung bis ins Kuchigenterli und die sämmtlichen Familienverhältnisse bis
in den hintersten Winkel. Auf diese Art erwarb er sich die gründliche Kennt¬
niß des Volkslebens, wie sie vor ihm kein Volksschriftsteller hatte. Er war
unermüdlich thätig bei den Gemeindeverhältnissen und dem Armenwesen, sogar
bei den Gesangvereinen, obschon er selbst kein Sänger war. Er konnte mit
einem Mädchen scherzen, oder mit einer Hausfrau über ihren KabiSplätz


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[0380] Nach seiner Heimkehr trat Bitzius wieder in das Vicariat bei seinem Vater in Utzensdors ein und blieb hier bis zum Tode des letzteren, welcher im Jahr erfolgte. Dieses Vicariat war seine erste praktische Schule und gab ihm vielfache Gelegenheit, seinen ganzen aufs Thun und Wirken gerichteten Sinn zu bethätigen. Wo er helfen konnte, stund er ein, handelte mehr als er raisonnirte, trat dem Unrecht entgegen, wo er es zu finden glaubte, und griff ohne Absichtlichkeit und eigennützige Berechnung da ein, wo er nützen und bessern konnte. Ganz besonders lag ihm das Schulwesen am Herzen. Er besuchte nicht nur sehr fleißig die Schulen, sondern er half oft selbst dem Schulmeister, wenn dieser der großen Last nicht gewachsen schien, ganze Tage Schule halten. 1824 wurde er als Vicar nach dem Kirchdorfe Herzogenbuchsee versetzt, wo er fünf Jahre zubrachte. Diese Zeit wurde besonders dadurch ein wich¬ tiger Abschnitt seines Lebens, daß er hier noch mehr als in seiner frühern Station sich in das Leben des Volkes, in dessen Sitten, Gebräuche, An¬ schauungsweise einlebte und sich keine Zeit und Mühe verdrießen ließ, es von allen Seiten kennen zu lernen. Er hatte von der Natur jenen Sinn erhalten, der die kleinen Interessen, Sorgen, Hoffnungen des Einzelnen, auch des Gering¬ sten kennen zu lernen nicht unter seiner Würde hält. Er besaß die Eigen¬ schaften, welche ihm die Herzen des Volkes ausschlossen: das freie uneigen¬ nützige Wohlwollen und die aus diesem Wohlwollen hervorgehende Geduld, jeden anzuhören und eines jeden Angelegenheit, wie geringfügig sie auch für einen Fremden war, Momentan zu der seinigen zu machen. Er hatte Zeit für alle, und seine behagliche Umgangsweise mahnte weder zur Eile und Kürze, noch zum vorschnellen Abbrechen einer angesponnenen Unterhaltung. Als ihm späterhin einst ein Amtsbruder über langweilige und ermüdende Audienzen und so viele unabweisbare, unnütze Gespräche klagte, antwortete er ihm, grade das seien seine glücklichsten Stunden, man müsse nur so ein Mütterchen nicht stören und eS recht sich ausreden lassen, dann schließe es sein ganzes Herz auf und lasse in sein Innerstes blicken. Er machte überhaupt viel Haus¬ besuche, und wußte sich dabei so zu benehmen, daß er gleich das Vertrauen der Leute erwarb. Er hatte immer viel zu fragen, und bekam oft die naivsten Antworten, die ihn tief in das Innerste der Menschen blicken ließen. Wen» er zwei oder drei Male in einem Hause war, so hatte er die ganze Haus¬ ordnung bis ins Kuchigenterli und die sämmtlichen Familienverhältnisse bis in den hintersten Winkel. Auf diese Art erwarb er sich die gründliche Kennt¬ niß des Volkslebens, wie sie vor ihm kein Volksschriftsteller hatte. Er war unermüdlich thätig bei den Gemeindeverhältnissen und dem Armenwesen, sogar bei den Gesangvereinen, obschon er selbst kein Sänger war. Er konnte mit einem Mädchen scherzen, oder mit einer Hausfrau über ihren KabiSplätz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/380>, abgerufen am 28.07.2024.