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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Winkel ungekannt zu sterben. Es bleibt mir daher nichts übrig, als so viel
Kenntnisse wie möglich zu erwerben, mich nach Vermögen gesellschaftlich zu
bilden, damit ich dereinst, nicht in der gelehrten Welt, wol aber in der mensch¬
lichen Gesellschaft als ein tüchtiges Glied eingreifen, schaffen und wirken könne."
Diese Ausgabe glaubte er am besten im Predigcrstande lösen zu können. "Bil¬
dung der Menschen in der mir anvertrauten Gemeinde wird meine erste und
einzige Pflicht sein. Sollte ich so hoch mich heben können, daß ich in mir
Macht genug fühlte, ein veränderliches Publicum auf immer an mich fesseln
zu können, so werde ich eine Stelle in der Stadt nicht ausschlagen, beson¬
ders wenn die Frömmelei zunehmen sollte, welcher man mit Macht entgegen¬
zuarbeiten hat, wenn sie nicht alles ergreifen soll." Es war ein Glück für
seine Bildung, daß die Zeit, in der der Charakter sich formt, eine ruhige und
gesunde war. Die Jugend, welche früh in die Bewegung hineingestoßen wird,
und eine Periode ruhigen Sammelns und geistigen Erwerbens nie kennen lernt,
wird zwar früh klug und geschult, srui) deS Lebens kundig, aber auch früh
ungläubig und zu früh auf das Positive der Dinge, aus die Betrachtung der
wirklichen Welt und ihrer unabweislichen Kollisionen gerichtet. Der heitere,
innere Grund, auf welchem pas spätere Leben ruhen sollte, das Ideale, die
Begeisterung, wird verdunkelt oder ganz zerstört. Bitzius und seine Mitstudirenden
konnten sich in Ruhe und Freiheit entwickeln, und für sie wenigstens war jene Zeit
eine hoffnungsreiche und gläubige. Er war als Bürger einer alten Republik
aufgewachsen und verbrachte seine Studienjahre in einer durch und durch pro¬
testantischen Stadt, unter einem ganz protestantischen Unterrichtssystem. Wenn
auch die damalige Verfassung Beruf eine aristokratische war, so trat man doch
von oben herab den geistigen Einflüssen der Zeit nirgend hemmend entgegen.
Deutsche Bildung war in Bern vorherrschend und drang zu allen Poren ein.
Die großen deutschen Klassiker waren in den Händen aller Studenten. Man
ließ die Jugend gewähren. Wo Beschränkung eintrat, galt sie mehr dem
Aeußerlichen, Diöciplinarischen. So konnte sich in der Jugend der Glaube
mit gleicher Stärke wie die Freiheit entwickeln.

Nachdem Bitzius Kandidat geworden, ging er, um seine Bildung zu voll¬
enden, im Frühling" 1821 nach Göttingen. Es studirten damals etwa vierzig
Schweizer dort, welche, ohne eine landsmannschaftliche Verbindung im deut¬
schen Sinn zu bilden, sich wöchentlich vereinigten und auch sonst in vielfachem
Verkehr standen. BitziuS hielt sich indessen von dem eigentlichen Studenten¬
leben fern und studirte eifrig unter der Leitung von Planck, Heeren und Bou-
terweck; doch blieb er stets ein guter Kamerad. Er war offen, von heiterer
Laune, und wenn auch zuweilen seine Sarkasmen und seine Satire verletzten,
so machte er das Uebel gleich selbst wieder gut, und die Gutmüthigkeit, welche
den Grundton seines Wesens bildete, hatte den Verletzten schnell wieder versöhnt.


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Winkel ungekannt zu sterben. Es bleibt mir daher nichts übrig, als so viel
Kenntnisse wie möglich zu erwerben, mich nach Vermögen gesellschaftlich zu
bilden, damit ich dereinst, nicht in der gelehrten Welt, wol aber in der mensch¬
lichen Gesellschaft als ein tüchtiges Glied eingreifen, schaffen und wirken könne."
Diese Ausgabe glaubte er am besten im Predigcrstande lösen zu können. „Bil¬
dung der Menschen in der mir anvertrauten Gemeinde wird meine erste und
einzige Pflicht sein. Sollte ich so hoch mich heben können, daß ich in mir
Macht genug fühlte, ein veränderliches Publicum auf immer an mich fesseln
zu können, so werde ich eine Stelle in der Stadt nicht ausschlagen, beson¬
ders wenn die Frömmelei zunehmen sollte, welcher man mit Macht entgegen¬
zuarbeiten hat, wenn sie nicht alles ergreifen soll." Es war ein Glück für
seine Bildung, daß die Zeit, in der der Charakter sich formt, eine ruhige und
gesunde war. Die Jugend, welche früh in die Bewegung hineingestoßen wird,
und eine Periode ruhigen Sammelns und geistigen Erwerbens nie kennen lernt,
wird zwar früh klug und geschult, srui) deS Lebens kundig, aber auch früh
ungläubig und zu früh auf das Positive der Dinge, aus die Betrachtung der
wirklichen Welt und ihrer unabweislichen Kollisionen gerichtet. Der heitere,
innere Grund, auf welchem pas spätere Leben ruhen sollte, das Ideale, die
Begeisterung, wird verdunkelt oder ganz zerstört. Bitzius und seine Mitstudirenden
konnten sich in Ruhe und Freiheit entwickeln, und für sie wenigstens war jene Zeit
eine hoffnungsreiche und gläubige. Er war als Bürger einer alten Republik
aufgewachsen und verbrachte seine Studienjahre in einer durch und durch pro¬
testantischen Stadt, unter einem ganz protestantischen Unterrichtssystem. Wenn
auch die damalige Verfassung Beruf eine aristokratische war, so trat man doch
von oben herab den geistigen Einflüssen der Zeit nirgend hemmend entgegen.
Deutsche Bildung war in Bern vorherrschend und drang zu allen Poren ein.
Die großen deutschen Klassiker waren in den Händen aller Studenten. Man
ließ die Jugend gewähren. Wo Beschränkung eintrat, galt sie mehr dem
Aeußerlichen, Diöciplinarischen. So konnte sich in der Jugend der Glaube
mit gleicher Stärke wie die Freiheit entwickeln.

Nachdem Bitzius Kandidat geworden, ging er, um seine Bildung zu voll¬
enden, im Frühling» 1821 nach Göttingen. Es studirten damals etwa vierzig
Schweizer dort, welche, ohne eine landsmannschaftliche Verbindung im deut¬
schen Sinn zu bilden, sich wöchentlich vereinigten und auch sonst in vielfachem
Verkehr standen. BitziuS hielt sich indessen von dem eigentlichen Studenten¬
leben fern und studirte eifrig unter der Leitung von Planck, Heeren und Bou-
terweck; doch blieb er stets ein guter Kamerad. Er war offen, von heiterer
Laune, und wenn auch zuweilen seine Sarkasmen und seine Satire verletzten,
so machte er das Uebel gleich selbst wieder gut, und die Gutmüthigkeit, welche
den Grundton seines Wesens bildete, hatte den Verletzten schnell wieder versöhnt.


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[0379] Winkel ungekannt zu sterben. Es bleibt mir daher nichts übrig, als so viel Kenntnisse wie möglich zu erwerben, mich nach Vermögen gesellschaftlich zu bilden, damit ich dereinst, nicht in der gelehrten Welt, wol aber in der mensch¬ lichen Gesellschaft als ein tüchtiges Glied eingreifen, schaffen und wirken könne." Diese Ausgabe glaubte er am besten im Predigcrstande lösen zu können. „Bil¬ dung der Menschen in der mir anvertrauten Gemeinde wird meine erste und einzige Pflicht sein. Sollte ich so hoch mich heben können, daß ich in mir Macht genug fühlte, ein veränderliches Publicum auf immer an mich fesseln zu können, so werde ich eine Stelle in der Stadt nicht ausschlagen, beson¬ ders wenn die Frömmelei zunehmen sollte, welcher man mit Macht entgegen¬ zuarbeiten hat, wenn sie nicht alles ergreifen soll." Es war ein Glück für seine Bildung, daß die Zeit, in der der Charakter sich formt, eine ruhige und gesunde war. Die Jugend, welche früh in die Bewegung hineingestoßen wird, und eine Periode ruhigen Sammelns und geistigen Erwerbens nie kennen lernt, wird zwar früh klug und geschult, srui) deS Lebens kundig, aber auch früh ungläubig und zu früh auf das Positive der Dinge, aus die Betrachtung der wirklichen Welt und ihrer unabweislichen Kollisionen gerichtet. Der heitere, innere Grund, auf welchem pas spätere Leben ruhen sollte, das Ideale, die Begeisterung, wird verdunkelt oder ganz zerstört. Bitzius und seine Mitstudirenden konnten sich in Ruhe und Freiheit entwickeln, und für sie wenigstens war jene Zeit eine hoffnungsreiche und gläubige. Er war als Bürger einer alten Republik aufgewachsen und verbrachte seine Studienjahre in einer durch und durch pro¬ testantischen Stadt, unter einem ganz protestantischen Unterrichtssystem. Wenn auch die damalige Verfassung Beruf eine aristokratische war, so trat man doch von oben herab den geistigen Einflüssen der Zeit nirgend hemmend entgegen. Deutsche Bildung war in Bern vorherrschend und drang zu allen Poren ein. Die großen deutschen Klassiker waren in den Händen aller Studenten. Man ließ die Jugend gewähren. Wo Beschränkung eintrat, galt sie mehr dem Aeußerlichen, Diöciplinarischen. So konnte sich in der Jugend der Glaube mit gleicher Stärke wie die Freiheit entwickeln. Nachdem Bitzius Kandidat geworden, ging er, um seine Bildung zu voll¬ enden, im Frühling» 1821 nach Göttingen. Es studirten damals etwa vierzig Schweizer dort, welche, ohne eine landsmannschaftliche Verbindung im deut¬ schen Sinn zu bilden, sich wöchentlich vereinigten und auch sonst in vielfachem Verkehr standen. BitziuS hielt sich indessen von dem eigentlichen Studenten¬ leben fern und studirte eifrig unter der Leitung von Planck, Heeren und Bou- terweck; doch blieb er stets ein guter Kamerad. Er war offen, von heiterer Laune, und wenn auch zuweilen seine Sarkasmen und seine Satire verletzten, so machte er das Uebel gleich selbst wieder gut, und die Gutmüthigkeit, welche den Grundton seines Wesens bildete, hatte den Verletzten schnell wieder versöhnt. 47*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/379>, abgerufen am 28.07.2024.