Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

welche ihm möglich macht, sich für sich selbst und zu eignem Vortheil zu euro¬
päischer Gesittung durchzuarbeiten.

Noch Wünschenswerther wird eine solche Entwicklung, wenn man an die
dereinst nothwendige Auftheilung der großen türkischen Erbschaft denkt. Keine
der vier Mächte: England, Frankreich, Oestreich, Rußland, welche durch ihre
Grenzen oder Flotten an das türkische Gebiet reichen, kann der andern einen
beträchtlichen Antheil davon gönnen, ohne für sich selbst eine entsprechende
Quote zu beanspruchen. Die Zerschneidung des türkisch-europäischen Terrains
aber in vier Beutetheile, hat für die Politik von Frankreich und England
durchaus nicht den Werth, als für die weniger hoch cultivirten und darum
ländergierigern Nachbarn der Pforte. -- Und Preußen, Sardinien, Schwede"
können eine solche Vergrößerung der vier großen Mächte nicht ohne sehr ernste
Besorgnis) ansetzn und müssen alles anwenden, dieselbe entweder zu verhindern,
oder auch für sich eine entsprechende Gebietsvergrößerung zu erhalten. Ihre
Berechtigung zu solcher Forderung wird so wenig bezweifelt, daß die Auflösung
der Türkei die allgemeinste und großartigste Veränderung der Karte von Eu¬
ropa nach sich zu ziehen droht. Eine solche radicale Veränderung ist nicht
möglich ohne große Störungen, ja es ist zu besorgen, daß sie erst das Re¬
sultat eines blutigen Völkerkampfes sein wird. Die nächsten Erben der Pforte
sind darauf gerüstet. Diese Perspective ist die feste Klammer, welche die englisch-
französische Allianz zusammenhält, ihretwegen beeilt sich Nußland, einen Eisen¬
weg über seine Steppe zu legen, dieselbe Erwartung hat Oestreich veranlaßt, mit
einer dem Kaiserhause sonst nicht eignen Schnelligkeit Milde und Versöhnung
nach Italien und Ungarn zu tragen. Auch Sardinini, der natürliche Alliirte
Preußens, hat planvoll und verständig seine Partei ergriffen, um sich als
ruhiger und treuer Gefährte in solchem Falle Italien zu gewinnen, nur in
Preußen scheint man gegenwärtig die Ansicht zu haben, daß die Türkei weit
von uns entfernt ist.

Wenn eine gewaltsame Entscheidung der orientalischen Frage allgemein
erwartet und gefürchtet wird, so liegt eS im Interesse aller, auch an eine fried¬
liche Lösyng im Voraus zu denken und diese vorzubereiten. In Frieden aber
kann der große Streit nur dadurch ausgetragen werden,- wenn keinem der vier
großen Staaten ein beträchtlicher Theil der europäischen Erbschaft zu Theil
wird. Dies kann verhindert werden, wenn man noch vor dem Zerfall der
Türkei die in den Landschaften derselben vorhandenen Elemente zu neuen Staa¬
tenbildungen allmälig benutzt. Ansätze zu solchen Staatenbildungen sind bereits
vorhanden. Abgesehen von den Donausürstenthümern, welche am ersten von
der schlecht verbundenen Ländermasse zu lösen sind, ist bereits vor dreißig Jah¬
ren in dem Königreich Griechenland türkisches Gebiet emancipirt worden.
Dasselbe ist bis jetzt zu wenig gedeihlicher Existenz gekommen, zum Theil weil


welche ihm möglich macht, sich für sich selbst und zu eignem Vortheil zu euro¬
päischer Gesittung durchzuarbeiten.

Noch Wünschenswerther wird eine solche Entwicklung, wenn man an die
dereinst nothwendige Auftheilung der großen türkischen Erbschaft denkt. Keine
der vier Mächte: England, Frankreich, Oestreich, Rußland, welche durch ihre
Grenzen oder Flotten an das türkische Gebiet reichen, kann der andern einen
beträchtlichen Antheil davon gönnen, ohne für sich selbst eine entsprechende
Quote zu beanspruchen. Die Zerschneidung des türkisch-europäischen Terrains
aber in vier Beutetheile, hat für die Politik von Frankreich und England
durchaus nicht den Werth, als für die weniger hoch cultivirten und darum
ländergierigern Nachbarn der Pforte. — Und Preußen, Sardinien, Schwede»
können eine solche Vergrößerung der vier großen Mächte nicht ohne sehr ernste
Besorgnis) ansetzn und müssen alles anwenden, dieselbe entweder zu verhindern,
oder auch für sich eine entsprechende Gebietsvergrößerung zu erhalten. Ihre
Berechtigung zu solcher Forderung wird so wenig bezweifelt, daß die Auflösung
der Türkei die allgemeinste und großartigste Veränderung der Karte von Eu¬
ropa nach sich zu ziehen droht. Eine solche radicale Veränderung ist nicht
möglich ohne große Störungen, ja es ist zu besorgen, daß sie erst das Re¬
sultat eines blutigen Völkerkampfes sein wird. Die nächsten Erben der Pforte
sind darauf gerüstet. Diese Perspective ist die feste Klammer, welche die englisch-
französische Allianz zusammenhält, ihretwegen beeilt sich Nußland, einen Eisen¬
weg über seine Steppe zu legen, dieselbe Erwartung hat Oestreich veranlaßt, mit
einer dem Kaiserhause sonst nicht eignen Schnelligkeit Milde und Versöhnung
nach Italien und Ungarn zu tragen. Auch Sardinini, der natürliche Alliirte
Preußens, hat planvoll und verständig seine Partei ergriffen, um sich als
ruhiger und treuer Gefährte in solchem Falle Italien zu gewinnen, nur in
Preußen scheint man gegenwärtig die Ansicht zu haben, daß die Türkei weit
von uns entfernt ist.

Wenn eine gewaltsame Entscheidung der orientalischen Frage allgemein
erwartet und gefürchtet wird, so liegt eS im Interesse aller, auch an eine fried¬
liche Lösyng im Voraus zu denken und diese vorzubereiten. In Frieden aber
kann der große Streit nur dadurch ausgetragen werden,- wenn keinem der vier
großen Staaten ein beträchtlicher Theil der europäischen Erbschaft zu Theil
wird. Dies kann verhindert werden, wenn man noch vor dem Zerfall der
Türkei die in den Landschaften derselben vorhandenen Elemente zu neuen Staa¬
tenbildungen allmälig benutzt. Ansätze zu solchen Staatenbildungen sind bereits
vorhanden. Abgesehen von den Donausürstenthümern, welche am ersten von
der schlecht verbundenen Ländermasse zu lösen sind, ist bereits vor dreißig Jah¬
ren in dem Königreich Griechenland türkisches Gebiet emancipirt worden.
Dasselbe ist bis jetzt zu wenig gedeihlicher Existenz gekommen, zum Theil weil


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0372" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104039"/>
          <p xml:id="ID_1069" prev="#ID_1068"> welche ihm möglich macht, sich für sich selbst und zu eignem Vortheil zu euro¬<lb/>
päischer Gesittung durchzuarbeiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1070"> Noch Wünschenswerther wird eine solche Entwicklung, wenn man an die<lb/>
dereinst nothwendige Auftheilung der großen türkischen Erbschaft denkt. Keine<lb/>
der vier Mächte: England, Frankreich, Oestreich, Rußland, welche durch ihre<lb/>
Grenzen oder Flotten an das türkische Gebiet reichen, kann der andern einen<lb/>
beträchtlichen Antheil davon gönnen, ohne für sich selbst eine entsprechende<lb/>
Quote zu beanspruchen. Die Zerschneidung des türkisch-europäischen Terrains<lb/>
aber in vier Beutetheile, hat für die Politik von Frankreich und England<lb/>
durchaus nicht den Werth, als für die weniger hoch cultivirten und darum<lb/>
ländergierigern Nachbarn der Pforte. &#x2014; Und Preußen, Sardinien, Schwede»<lb/>
können eine solche Vergrößerung der vier großen Mächte nicht ohne sehr ernste<lb/>
Besorgnis) ansetzn und müssen alles anwenden, dieselbe entweder zu verhindern,<lb/>
oder auch für sich eine entsprechende Gebietsvergrößerung zu erhalten. Ihre<lb/>
Berechtigung zu solcher Forderung wird so wenig bezweifelt, daß die Auflösung<lb/>
der Türkei die allgemeinste und großartigste Veränderung der Karte von Eu¬<lb/>
ropa nach sich zu ziehen droht. Eine solche radicale Veränderung ist nicht<lb/>
möglich ohne große Störungen, ja es ist zu besorgen, daß sie erst das Re¬<lb/>
sultat eines blutigen Völkerkampfes sein wird. Die nächsten Erben der Pforte<lb/>
sind darauf gerüstet. Diese Perspective ist die feste Klammer, welche die englisch-<lb/>
französische Allianz zusammenhält, ihretwegen beeilt sich Nußland, einen Eisen¬<lb/>
weg über seine Steppe zu legen, dieselbe Erwartung hat Oestreich veranlaßt, mit<lb/>
einer dem Kaiserhause sonst nicht eignen Schnelligkeit Milde und Versöhnung<lb/>
nach Italien und Ungarn zu tragen. Auch Sardinini, der natürliche Alliirte<lb/>
Preußens, hat planvoll und verständig seine Partei ergriffen, um sich als<lb/>
ruhiger und treuer Gefährte in solchem Falle Italien zu gewinnen, nur in<lb/>
Preußen scheint man gegenwärtig die Ansicht zu haben, daß die Türkei weit<lb/>
von uns entfernt ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1071" next="#ID_1072"> Wenn eine gewaltsame Entscheidung der orientalischen Frage allgemein<lb/>
erwartet und gefürchtet wird, so liegt eS im Interesse aller, auch an eine fried¬<lb/>
liche Lösyng im Voraus zu denken und diese vorzubereiten. In Frieden aber<lb/>
kann der große Streit nur dadurch ausgetragen werden,- wenn keinem der vier<lb/>
großen Staaten ein beträchtlicher Theil der europäischen Erbschaft zu Theil<lb/>
wird. Dies kann verhindert werden, wenn man noch vor dem Zerfall der<lb/>
Türkei die in den Landschaften derselben vorhandenen Elemente zu neuen Staa¬<lb/>
tenbildungen allmälig benutzt. Ansätze zu solchen Staatenbildungen sind bereits<lb/>
vorhanden. Abgesehen von den Donausürstenthümern, welche am ersten von<lb/>
der schlecht verbundenen Ländermasse zu lösen sind, ist bereits vor dreißig Jah¬<lb/>
ren in dem Königreich Griechenland türkisches Gebiet emancipirt worden.<lb/>
Dasselbe ist bis jetzt zu wenig gedeihlicher Existenz gekommen, zum Theil weil</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0372] welche ihm möglich macht, sich für sich selbst und zu eignem Vortheil zu euro¬ päischer Gesittung durchzuarbeiten. Noch Wünschenswerther wird eine solche Entwicklung, wenn man an die dereinst nothwendige Auftheilung der großen türkischen Erbschaft denkt. Keine der vier Mächte: England, Frankreich, Oestreich, Rußland, welche durch ihre Grenzen oder Flotten an das türkische Gebiet reichen, kann der andern einen beträchtlichen Antheil davon gönnen, ohne für sich selbst eine entsprechende Quote zu beanspruchen. Die Zerschneidung des türkisch-europäischen Terrains aber in vier Beutetheile, hat für die Politik von Frankreich und England durchaus nicht den Werth, als für die weniger hoch cultivirten und darum ländergierigern Nachbarn der Pforte. — Und Preußen, Sardinien, Schwede» können eine solche Vergrößerung der vier großen Mächte nicht ohne sehr ernste Besorgnis) ansetzn und müssen alles anwenden, dieselbe entweder zu verhindern, oder auch für sich eine entsprechende Gebietsvergrößerung zu erhalten. Ihre Berechtigung zu solcher Forderung wird so wenig bezweifelt, daß die Auflösung der Türkei die allgemeinste und großartigste Veränderung der Karte von Eu¬ ropa nach sich zu ziehen droht. Eine solche radicale Veränderung ist nicht möglich ohne große Störungen, ja es ist zu besorgen, daß sie erst das Re¬ sultat eines blutigen Völkerkampfes sein wird. Die nächsten Erben der Pforte sind darauf gerüstet. Diese Perspective ist die feste Klammer, welche die englisch- französische Allianz zusammenhält, ihretwegen beeilt sich Nußland, einen Eisen¬ weg über seine Steppe zu legen, dieselbe Erwartung hat Oestreich veranlaßt, mit einer dem Kaiserhause sonst nicht eignen Schnelligkeit Milde und Versöhnung nach Italien und Ungarn zu tragen. Auch Sardinini, der natürliche Alliirte Preußens, hat planvoll und verständig seine Partei ergriffen, um sich als ruhiger und treuer Gefährte in solchem Falle Italien zu gewinnen, nur in Preußen scheint man gegenwärtig die Ansicht zu haben, daß die Türkei weit von uns entfernt ist. Wenn eine gewaltsame Entscheidung der orientalischen Frage allgemein erwartet und gefürchtet wird, so liegt eS im Interesse aller, auch an eine fried¬ liche Lösyng im Voraus zu denken und diese vorzubereiten. In Frieden aber kann der große Streit nur dadurch ausgetragen werden,- wenn keinem der vier großen Staaten ein beträchtlicher Theil der europäischen Erbschaft zu Theil wird. Dies kann verhindert werden, wenn man noch vor dem Zerfall der Türkei die in den Landschaften derselben vorhandenen Elemente zu neuen Staa¬ tenbildungen allmälig benutzt. Ansätze zu solchen Staatenbildungen sind bereits vorhanden. Abgesehen von den Donausürstenthümern, welche am ersten von der schlecht verbundenen Ländermasse zu lösen sind, ist bereits vor dreißig Jah¬ ren in dem Königreich Griechenland türkisches Gebiet emancipirt worden. Dasselbe ist bis jetzt zu wenig gedeihlicher Existenz gekommen, zum Theil weil

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/372
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/372>, abgerufen am 01.09.2024.