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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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zitternd nach allen Seiten, ob das Gewitter im Abzug ist oder wiederkommen
wird, und die höchste Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaft im All¬
gemeinen scheint ihnen dann zu sein, das Wetter voraus zu verkündigen, um
die Seele von dieser fortwährenden Angst zu befreien. Diese Nervenschwäche
ist bei beiden; charakteristisch für Müller aber ist die Einmischung dieser
Stimmungen in seine Religiosität. Am 7. September 1803 schildert er zuerst
seine Stimmungen während einer Woche, wo fast jeden Tag ein Gewitter
war. Nachdem die Klagen, zwei Seiten ununterbrochen gedauert haben, geht
es folgendermaßen fort (S. 53): "Von 12 bis 1 Uhr war ich in mehr als
in Todesangst, aus jeden Stoß des Windes, auf jeden Fußtritt achtend, in jedem
Augenblick Bewegungen der Erde erwartend. Endlich gegen zwei Uhr ermannte
sich das Gemüth und der Gedanke der Dauer in seiner ganzen religiösen Ma¬
jestät erhob sich aus dem Chaos, worin sich die Welt schon aufgelöst hatte.
Endlich Sonntags den 1. September mit dem ersten Viertel des Mondes wurde
die Luft wieder ruhiger. Unter allen diesen Schmerzen gedeiht in mir der
Glaube an Christum, und besonders an die Strafgerichte Gottes, auch
meine Ideen über die Astrologie und den Umgang der Planeten miteinander.
Hiervon verstehe ich mehr als einer. Ich sende Ihnen, mein liebster Freund,
einen Aufsatz über die Wetterkunde, den ich im Sommer 180i nach den starken
Regengüssen im Juni schrieb, und der Ihnen nichts zeigen soll, als daß ich
auch populär schreiben kann. Ueber den Gegenstand sollen noch ganz andere
Dinge aufgezeichnet werden." -- Wenn man näher zusieht, ist die Blasphemie
freilich toll; aber man kann sich doch eines unerschöpflichen Gelächters nicht
erwehren. Das waren im Jahre deS Herrn 1803 die Propheten der neuen
Weltreligion! Grade vier Monate vorher hatte nämlich Müller seinen Glauben
abgeschworen und war feierlich in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche
zurückgekehrt.

Die Briefe der ersten Jahre enthalten Nicht viel Wichtiges. 1800 waren
die beiden in Berlin zusammen, im Anfang 1803 in Wien. Seit dem Früh¬
ling 1803 hatte sich an Müller, der wieder in Berlin war, hauptsächlich
Wiesel angeschlossen (seine Schwester war die Geliebte des Prinzen Louis
Ferdinand), von dessen Mephistopyelesnatur bereits Varnhagen eine sehr
interessante Schilderung gegeben hat. Dieser dämonische Schalk hatte in
Müller Ideen angeregt, die ihn zur Conception einer neuen Philosophie, der
Lehre vom Gegensatz, veranlaßten; einer Philosophie, die nun seine fere
Idee wurde, und aus der er alle Erscheinungen der Geschichte erklärte. Der
Grundzug der Lehre war, daß die Vorsehung sich in Contrasten offenbart, und
daß die äußersten Extreme in Bezug aus die Entwicklung der Menschheit
gleiche Berechtigung haben. Den Einfall des' pantheistischen Schalks trug
Müller mit theologischer Salbung vor und kritisirte nun von der Höhe dieses


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zitternd nach allen Seiten, ob das Gewitter im Abzug ist oder wiederkommen
wird, und die höchste Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaft im All¬
gemeinen scheint ihnen dann zu sein, das Wetter voraus zu verkündigen, um
die Seele von dieser fortwährenden Angst zu befreien. Diese Nervenschwäche
ist bei beiden; charakteristisch für Müller aber ist die Einmischung dieser
Stimmungen in seine Religiosität. Am 7. September 1803 schildert er zuerst
seine Stimmungen während einer Woche, wo fast jeden Tag ein Gewitter
war. Nachdem die Klagen, zwei Seiten ununterbrochen gedauert haben, geht
es folgendermaßen fort (S. 53): „Von 12 bis 1 Uhr war ich in mehr als
in Todesangst, aus jeden Stoß des Windes, auf jeden Fußtritt achtend, in jedem
Augenblick Bewegungen der Erde erwartend. Endlich gegen zwei Uhr ermannte
sich das Gemüth und der Gedanke der Dauer in seiner ganzen religiösen Ma¬
jestät erhob sich aus dem Chaos, worin sich die Welt schon aufgelöst hatte.
Endlich Sonntags den 1. September mit dem ersten Viertel des Mondes wurde
die Luft wieder ruhiger. Unter allen diesen Schmerzen gedeiht in mir der
Glaube an Christum, und besonders an die Strafgerichte Gottes, auch
meine Ideen über die Astrologie und den Umgang der Planeten miteinander.
Hiervon verstehe ich mehr als einer. Ich sende Ihnen, mein liebster Freund,
einen Aufsatz über die Wetterkunde, den ich im Sommer 180i nach den starken
Regengüssen im Juni schrieb, und der Ihnen nichts zeigen soll, als daß ich
auch populär schreiben kann. Ueber den Gegenstand sollen noch ganz andere
Dinge aufgezeichnet werden." — Wenn man näher zusieht, ist die Blasphemie
freilich toll; aber man kann sich doch eines unerschöpflichen Gelächters nicht
erwehren. Das waren im Jahre deS Herrn 1803 die Propheten der neuen
Weltreligion! Grade vier Monate vorher hatte nämlich Müller seinen Glauben
abgeschworen und war feierlich in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche
zurückgekehrt.

Die Briefe der ersten Jahre enthalten Nicht viel Wichtiges. 1800 waren
die beiden in Berlin zusammen, im Anfang 1803 in Wien. Seit dem Früh¬
ling 1803 hatte sich an Müller, der wieder in Berlin war, hauptsächlich
Wiesel angeschlossen (seine Schwester war die Geliebte des Prinzen Louis
Ferdinand), von dessen Mephistopyelesnatur bereits Varnhagen eine sehr
interessante Schilderung gegeben hat. Dieser dämonische Schalk hatte in
Müller Ideen angeregt, die ihn zur Conception einer neuen Philosophie, der
Lehre vom Gegensatz, veranlaßten; einer Philosophie, die nun seine fere
Idee wurde, und aus der er alle Erscheinungen der Geschichte erklärte. Der
Grundzug der Lehre war, daß die Vorsehung sich in Contrasten offenbart, und
daß die äußersten Extreme in Bezug aus die Entwicklung der Menschheit
gleiche Berechtigung haben. Den Einfall des' pantheistischen Schalks trug
Müller mit theologischer Salbung vor und kritisirte nun von der Höhe dieses


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/291>, abgerufen am 28.07.2024.