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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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bald über die steilragenden Klippen hin, bald über die weißschimmernden Höhen
der Hochgebirge; dann wieder jagt er in Schluchten, und Abends spielt er
auf der Nohrflöte; schönere Lieder singt nicht der Vogel, der im blumenreichen
Frühling im Laube Klagen ausströmend seinen süßtönenden Gesang erhebt.
Und mit ihm tanzen hellsingende Nymphen an der dunkelströmenden Quelle
und rings um den Berg tönt der Wiederhall.

Aber der lustige und neckische Berggeist kann auch furchtbar sein; und
wenn er zürnt, jagt er nicht nur plötzlichen Schrecken ein (daher jeder Schreck,
dessen Veranlassung man nicht kennt, panischer Schreck hieß), sondern auch
Wahnsinn. "Dieser Glaube ist ja wol verständlich aus den Wahnbildern, mit
denen die Einsamkeit und die unsteten Schatten der Wälder, die wunderlichen
Geräusche und phantastischen Baumgestalten erschrecken, unheimliche Figuren zu
sehen und unheimliche Stimmen zu hören geben" (Lehrs). DaS überwältigende
Grauen, das uns oft in der Einsamkeit der Natur befällt und das am stärksten
in dem tiefen Schweigen der Mittagsschwüle ist, wenn die Sonne über der
ruhenden Erde brütet; dies bange Gefühl hat die griechische Vorstellung er¬
zeugt, daß um diese Stunde der große Pan schläft, und es ist dann äußerst
gefahrvoll, ihn durch Lärm zu stören.

Wenn dem Griechen also seine Anschauung der Natur Götter und Ge¬
stalten zeigte, so stellten auch bei Schilderungen der Natur diese Gestalten als
Mittel der Beschreibung sich ein. So wird das Eintreten des Frühlings
damit geschildert, daß der Hören Gemach sich öffnet, die Grazie mit den
Nymphen wieder aus der Flur tanzt; das Meerleben durch "der Nereidenschar
hundertfüßiger Neigen" (Sophokles), und Aeschylus beschreibt eine kleine
Felseninsel voll Klippen und Zacken vor Salamis als eine, ,,die der reigen¬
liebende Pan beschreitet auf dem meerbespülten Uferfels". Dies alles sind
Naturschilderungen, die man freilich nur versteht, wenn man die Bedeutung
dieser Figuren kennt, wenn ihr Auftreten das Gefühl und die Anschauung
erregt, welche sie dem Griechen erregten. Ueberall in herrlichen Gegenden
glaubt er Götter erscheinen zu sehn, nicht blos jene eigentlichen Repräsen¬
tanten des Naturlebens, sondern alle, die häusig auf der Erde verkehren und
in deren Wesen Anmuth und Heiterkeit vorherrschend ist, wie in jener berühmten
Schilderung von Kolonos im zweiten Oedipus: "wo die melodische Nachtigall
gern einkehrt und weit hinausklagt in blühende Thale, Tief aus grünender
Nacht des Epheus und göttergeweihtem Wuchs, tausendbefruchtetem, welchen
die Sonne nicht und keines Wintersturmes Anhauch trifft; wo von holdem
Wahnsinn erfüllt Dionysos stets einherzieht im Geleite der Götter."

So war das griechische Naturgefühl und so sein Ausdruck. Aber als
auch in Griechenland die Schreib- und Nedeseligkeit überhandnahm, als man
anfing, nicht um des Gegenstandes, sondern um des Stils willen zu schreiben:


bald über die steilragenden Klippen hin, bald über die weißschimmernden Höhen
der Hochgebirge; dann wieder jagt er in Schluchten, und Abends spielt er
auf der Nohrflöte; schönere Lieder singt nicht der Vogel, der im blumenreichen
Frühling im Laube Klagen ausströmend seinen süßtönenden Gesang erhebt.
Und mit ihm tanzen hellsingende Nymphen an der dunkelströmenden Quelle
und rings um den Berg tönt der Wiederhall.

Aber der lustige und neckische Berggeist kann auch furchtbar sein; und
wenn er zürnt, jagt er nicht nur plötzlichen Schrecken ein (daher jeder Schreck,
dessen Veranlassung man nicht kennt, panischer Schreck hieß), sondern auch
Wahnsinn. „Dieser Glaube ist ja wol verständlich aus den Wahnbildern, mit
denen die Einsamkeit und die unsteten Schatten der Wälder, die wunderlichen
Geräusche und phantastischen Baumgestalten erschrecken, unheimliche Figuren zu
sehen und unheimliche Stimmen zu hören geben" (Lehrs). DaS überwältigende
Grauen, das uns oft in der Einsamkeit der Natur befällt und das am stärksten
in dem tiefen Schweigen der Mittagsschwüle ist, wenn die Sonne über der
ruhenden Erde brütet; dies bange Gefühl hat die griechische Vorstellung er¬
zeugt, daß um diese Stunde der große Pan schläft, und es ist dann äußerst
gefahrvoll, ihn durch Lärm zu stören.

Wenn dem Griechen also seine Anschauung der Natur Götter und Ge¬
stalten zeigte, so stellten auch bei Schilderungen der Natur diese Gestalten als
Mittel der Beschreibung sich ein. So wird das Eintreten des Frühlings
damit geschildert, daß der Hören Gemach sich öffnet, die Grazie mit den
Nymphen wieder aus der Flur tanzt; das Meerleben durch „der Nereidenschar
hundertfüßiger Neigen" (Sophokles), und Aeschylus beschreibt eine kleine
Felseninsel voll Klippen und Zacken vor Salamis als eine, ,,die der reigen¬
liebende Pan beschreitet auf dem meerbespülten Uferfels". Dies alles sind
Naturschilderungen, die man freilich nur versteht, wenn man die Bedeutung
dieser Figuren kennt, wenn ihr Auftreten das Gefühl und die Anschauung
erregt, welche sie dem Griechen erregten. Ueberall in herrlichen Gegenden
glaubt er Götter erscheinen zu sehn, nicht blos jene eigentlichen Repräsen¬
tanten des Naturlebens, sondern alle, die häusig auf der Erde verkehren und
in deren Wesen Anmuth und Heiterkeit vorherrschend ist, wie in jener berühmten
Schilderung von Kolonos im zweiten Oedipus: „wo die melodische Nachtigall
gern einkehrt und weit hinausklagt in blühende Thale, Tief aus grünender
Nacht des Epheus und göttergeweihtem Wuchs, tausendbefruchtetem, welchen
die Sonne nicht und keines Wintersturmes Anhauch trifft; wo von holdem
Wahnsinn erfüllt Dionysos stets einherzieht im Geleite der Götter."

So war das griechische Naturgefühl und so sein Ausdruck. Aber als
auch in Griechenland die Schreib- und Nedeseligkeit überhandnahm, als man
anfing, nicht um des Gegenstandes, sondern um des Stils willen zu schreiben:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/28>, abgerufen am 28.07.2024.