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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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identisch ist mit der Geschichte des königlichen Hauses der Hohenzollern. Man
scheute nicht zurück vor dem Gedanken, den Gang der deutschen Geschichte und
des deutschen Rechts gewissermaßen zu corrigiren. So entstanden unvereinbar
mit dem geschichtlichen Rechtsgange des Landes Kreis- und Provinzialstünde,
die, was rechtlich vereinigt und verschmolzen ist, wieder auseinandernehmen,
widerstrebende Gruppen der Gesellschaft einander eifersüchtig gegenüberstelle",
ohne Rücksicht auf die Leistungen für den Staat, auf Steuern und Intelligenz
eine schematische Stimmvertheilung versuchen, und folgeweise wieder zu einer
Mo in partss kommen, -welche aus den Corporationen im Verwesungsproceß
entlehnt ist. War auch das Bedürfniß des Lebens, das Gefühl der Zusam¬
mengehörigkeit und der nachbarlichen Eintracht meistens stärker, als das künst¬
liche Zerschneiden organischer Einheiten, so wurden diese Einrichtungen doch
die unerschöpfliche Quelle einseitiger unerfüllbarer Ansprüche und unverständiger
Anträge, die bann wieder das Beamtenthum zum Uebermuth gegen die "be¬
schränkte" Unterthaneneinsicht verleiteten und den Stachel der Eifersucht, der
Zwietracht, des Mißtrauens in alle Richtungen des Staatslebens einsenkten-
Aus demselben Ideenkreise ging hervor die Neuentstehung staatöwidriger Auto¬
nomien, die Versuche, Patrimonialgerichte^ Gutspolizei, Provinzialrechte wieder
zu beleben und zu stärken. Unter ihrem Schutz bildete sich sogar eine kleine
Literatur, welche den echten Sinn des Royalismus in der Feindseligkeit gegen
die geschichtliche Bildung unseres Staates, gegen alle Traditionen der könig¬
lichen Familie der Hohenzollern , und in neuen Begriffen von der Krone und
Würde des Königthums gefunden zu haben glaubte.

Diese Organisationen fielen in die Zeit des lebhaftesten Dranges nach der
Theilnahme am Staat. Was dem Beamtenstaat widerstrebte, war klar oder
unklar das Beste, was in unserem Volke lebt, das Streben nach freier Ent¬
wicklung des Individuums im corporativen Verbände, das Bedürfniß der
Selbstthätigkeit im öffentlichen Leben, welches mit Censur, geheimem Gerichts¬
verfahren und dem unaufhörlichen auch nach Durchführung der neuen Gesetze
fortdauernden Reglcmentircn nicht länger zu bestehen wußte. Ebendeshalb
fanden diese Bestrebungen auch ihre Sympathien in dem begabtesten Theile
des Beamtenthums selbst. Die fortdauernde Monopolisirung des Staats im
Beamtenthum wirkte nachtheilig auf die Ausbildung der Nechtsvorstellungen
und des Charakters grade auch der höhern Stände, die nach der Theilnahme
an obrigkeitlichen Aemtern zunächst hinstrebten. Allen stand das Beamtenthum
als der nächste Gegner gegenüber; man glaubte allmälig, daß mit der Besei¬
tigung dieses Gegners die Freiheit unmittelbar gewonnen sei. Es entsteht
damit eine krankhafte Sehnsucht nach einem Versassungsideal, welche ihre Vor¬
stellungen in dem Maße steigert, als die Thatkraft zur Verwirklichung fehlt.
Sie fehlte aber, weil der Einzelne dem Staat gegenüber stets machtlos ist,


identisch ist mit der Geschichte des königlichen Hauses der Hohenzollern. Man
scheute nicht zurück vor dem Gedanken, den Gang der deutschen Geschichte und
des deutschen Rechts gewissermaßen zu corrigiren. So entstanden unvereinbar
mit dem geschichtlichen Rechtsgange des Landes Kreis- und Provinzialstünde,
die, was rechtlich vereinigt und verschmolzen ist, wieder auseinandernehmen,
widerstrebende Gruppen der Gesellschaft einander eifersüchtig gegenüberstelle»,
ohne Rücksicht auf die Leistungen für den Staat, auf Steuern und Intelligenz
eine schematische Stimmvertheilung versuchen, und folgeweise wieder zu einer
Mo in partss kommen, -welche aus den Corporationen im Verwesungsproceß
entlehnt ist. War auch das Bedürfniß des Lebens, das Gefühl der Zusam¬
mengehörigkeit und der nachbarlichen Eintracht meistens stärker, als das künst¬
liche Zerschneiden organischer Einheiten, so wurden diese Einrichtungen doch
die unerschöpfliche Quelle einseitiger unerfüllbarer Ansprüche und unverständiger
Anträge, die bann wieder das Beamtenthum zum Uebermuth gegen die „be¬
schränkte" Unterthaneneinsicht verleiteten und den Stachel der Eifersucht, der
Zwietracht, des Mißtrauens in alle Richtungen des Staatslebens einsenkten-
Aus demselben Ideenkreise ging hervor die Neuentstehung staatöwidriger Auto¬
nomien, die Versuche, Patrimonialgerichte^ Gutspolizei, Provinzialrechte wieder
zu beleben und zu stärken. Unter ihrem Schutz bildete sich sogar eine kleine
Literatur, welche den echten Sinn des Royalismus in der Feindseligkeit gegen
die geschichtliche Bildung unseres Staates, gegen alle Traditionen der könig¬
lichen Familie der Hohenzollern , und in neuen Begriffen von der Krone und
Würde des Königthums gefunden zu haben glaubte.

Diese Organisationen fielen in die Zeit des lebhaftesten Dranges nach der
Theilnahme am Staat. Was dem Beamtenstaat widerstrebte, war klar oder
unklar das Beste, was in unserem Volke lebt, das Streben nach freier Ent¬
wicklung des Individuums im corporativen Verbände, das Bedürfniß der
Selbstthätigkeit im öffentlichen Leben, welches mit Censur, geheimem Gerichts¬
verfahren und dem unaufhörlichen auch nach Durchführung der neuen Gesetze
fortdauernden Reglcmentircn nicht länger zu bestehen wußte. Ebendeshalb
fanden diese Bestrebungen auch ihre Sympathien in dem begabtesten Theile
des Beamtenthums selbst. Die fortdauernde Monopolisirung des Staats im
Beamtenthum wirkte nachtheilig auf die Ausbildung der Nechtsvorstellungen
und des Charakters grade auch der höhern Stände, die nach der Theilnahme
an obrigkeitlichen Aemtern zunächst hinstrebten. Allen stand das Beamtenthum
als der nächste Gegner gegenüber; man glaubte allmälig, daß mit der Besei¬
tigung dieses Gegners die Freiheit unmittelbar gewonnen sei. Es entsteht
damit eine krankhafte Sehnsucht nach einem Versassungsideal, welche ihre Vor¬
stellungen in dem Maße steigert, als die Thatkraft zur Verwirklichung fehlt.
Sie fehlte aber, weil der Einzelne dem Staat gegenüber stets machtlos ist,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/258>, abgerufen am 28.07.2024.