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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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gleichem Recht und Rechtsschutz eine Schöffenverfassung unvereinbar, die ständisch
gegliedert schon an der Kleinheit der Gerichtsbezirke, an dem Princip der Standes¬
mäßigkeit, an dem Widerstreit der ständischen Nechtsvorstellungen unter sich und mit
dem gemeinen Recht zerfallen mußte. Die Rechtsfindung und das rationelle Beweis-
svstem trat daher immer mehr in Widerspruch mit der Besetzung der Gerichte: bis
das Reichskammergericht dem gemeinen Recht zuerst einen festen Halt, der
neuen Gerichtsverfassung ihr Modell gab. Nach dem Muster des Neichskam-
mergerichts bildeten sich dann die Territorialgerichte, in Kurbrandenburg daS
Kammergericht.

In dem Maße, in welchem das gemeine Recht Boden gewinnt, sehen wir
desto eifersüchtiger die höheren Stände ihr Sonderrecht auf geschmälerten Ge¬
biet behaupten. Die stärksten Elemente der größeren Territorien, die landsässt'
gen Prälaten, Ritter und Städte vereinigen sich daher in dieser Zeit zu den
Landständen. Die Nothwendigkeit ihrer Geldbewilligungen führt manche Analogien
des Verhältnisses zwischen den englischen Königen und ihren Reichsständen
herbei. Der wesentlichste Unterschied von England ist, daß sie von Anfang an
den Bauerstand ausschließen, in den Städten das Passtvbürgerthum, im Stande
der Prälaten die niedere Geistlichkeit. Grade mit dem Fortschritt der "Frei¬
heiten" der Landstände tritt es immer mehr hervor, daß sie nicht die Rechte
einer oommumws oomilatus vertreten, sondern ihre verschiedenen Rechte, Rechte
gegen Bauern, Schutzverwandte, arbeitende Classen. Ihr Aufblühen geht
Hand in Hand mit der Unterdrückung unvertretener Classen; eS folgt darauf
der Neid, die Eisersucht, die Entfremdung der drei Stände unter sich. Während
daS englische Parlament bis zur Reformation ein fast übermächtiger, und nach
der Reformation wenigstens ein einheitlicher Körper bleibt, finden wir in
Deutschland eine wachsende Zerspaltung in immer kleinere Kreise herabgehend.
Geistliche und weltliche Fürsten führen mit ihren Landständen einen bunten
Haushalt; in den Städten hadert das Vollbürgerthum mit den übrigen Classen;
noch heftiger ist der Streit der Kirche. In dem Maße, als die Ansprüche an
die Staatsgewalt der größeren Territorien wachsen, werden die Landstände
engherziger und zwiespältiger. Widerstrebend und uneinig unter sich, sind sie
nur noch einig in möglichster Abwälzung der gemeinen Lasten auf ihre Hinter¬
sassen. Die befrohndeten Bauern, die Leibeignen, die immer steuernden Städte,
die gedrückten Schutzverwandten, die nicht zünftigen Handwerker, die dissenti-
renden NeligionSverwandten: sie alle konnten in diesen Landständen nicht die
Vertreter des Landes sehen, sondern nur in dem Landesherrn ihren Schutzherrn
gegen die Stände.

Von den Landesherrn im Gegensatz gegen die Stände ging also die Her¬
stellung des öffentlichen Rechts aus. Die Stände wurden theilweis gewonnen
durch mannigfaltige Bevorzugungen in der neuen Ordnung der Dinge. Das


gleichem Recht und Rechtsschutz eine Schöffenverfassung unvereinbar, die ständisch
gegliedert schon an der Kleinheit der Gerichtsbezirke, an dem Princip der Standes¬
mäßigkeit, an dem Widerstreit der ständischen Nechtsvorstellungen unter sich und mit
dem gemeinen Recht zerfallen mußte. Die Rechtsfindung und das rationelle Beweis-
svstem trat daher immer mehr in Widerspruch mit der Besetzung der Gerichte: bis
das Reichskammergericht dem gemeinen Recht zuerst einen festen Halt, der
neuen Gerichtsverfassung ihr Modell gab. Nach dem Muster des Neichskam-
mergerichts bildeten sich dann die Territorialgerichte, in Kurbrandenburg daS
Kammergericht.

In dem Maße, in welchem das gemeine Recht Boden gewinnt, sehen wir
desto eifersüchtiger die höheren Stände ihr Sonderrecht auf geschmälerten Ge¬
biet behaupten. Die stärksten Elemente der größeren Territorien, die landsässt'
gen Prälaten, Ritter und Städte vereinigen sich daher in dieser Zeit zu den
Landständen. Die Nothwendigkeit ihrer Geldbewilligungen führt manche Analogien
des Verhältnisses zwischen den englischen Königen und ihren Reichsständen
herbei. Der wesentlichste Unterschied von England ist, daß sie von Anfang an
den Bauerstand ausschließen, in den Städten das Passtvbürgerthum, im Stande
der Prälaten die niedere Geistlichkeit. Grade mit dem Fortschritt der „Frei¬
heiten" der Landstände tritt es immer mehr hervor, daß sie nicht die Rechte
einer oommumws oomilatus vertreten, sondern ihre verschiedenen Rechte, Rechte
gegen Bauern, Schutzverwandte, arbeitende Classen. Ihr Aufblühen geht
Hand in Hand mit der Unterdrückung unvertretener Classen; eS folgt darauf
der Neid, die Eisersucht, die Entfremdung der drei Stände unter sich. Während
daS englische Parlament bis zur Reformation ein fast übermächtiger, und nach
der Reformation wenigstens ein einheitlicher Körper bleibt, finden wir in
Deutschland eine wachsende Zerspaltung in immer kleinere Kreise herabgehend.
Geistliche und weltliche Fürsten führen mit ihren Landständen einen bunten
Haushalt; in den Städten hadert das Vollbürgerthum mit den übrigen Classen;
noch heftiger ist der Streit der Kirche. In dem Maße, als die Ansprüche an
die Staatsgewalt der größeren Territorien wachsen, werden die Landstände
engherziger und zwiespältiger. Widerstrebend und uneinig unter sich, sind sie
nur noch einig in möglichster Abwälzung der gemeinen Lasten auf ihre Hinter¬
sassen. Die befrohndeten Bauern, die Leibeignen, die immer steuernden Städte,
die gedrückten Schutzverwandten, die nicht zünftigen Handwerker, die dissenti-
renden NeligionSverwandten: sie alle konnten in diesen Landständen nicht die
Vertreter des Landes sehen, sondern nur in dem Landesherrn ihren Schutzherrn
gegen die Stände.

Von den Landesherrn im Gegensatz gegen die Stände ging also die Her¬
stellung des öffentlichen Rechts aus. Die Stände wurden theilweis gewonnen
durch mannigfaltige Bevorzugungen in der neuen Ordnung der Dinge. Das


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[0254] gleichem Recht und Rechtsschutz eine Schöffenverfassung unvereinbar, die ständisch gegliedert schon an der Kleinheit der Gerichtsbezirke, an dem Princip der Standes¬ mäßigkeit, an dem Widerstreit der ständischen Nechtsvorstellungen unter sich und mit dem gemeinen Recht zerfallen mußte. Die Rechtsfindung und das rationelle Beweis- svstem trat daher immer mehr in Widerspruch mit der Besetzung der Gerichte: bis das Reichskammergericht dem gemeinen Recht zuerst einen festen Halt, der neuen Gerichtsverfassung ihr Modell gab. Nach dem Muster des Neichskam- mergerichts bildeten sich dann die Territorialgerichte, in Kurbrandenburg daS Kammergericht. In dem Maße, in welchem das gemeine Recht Boden gewinnt, sehen wir desto eifersüchtiger die höheren Stände ihr Sonderrecht auf geschmälerten Ge¬ biet behaupten. Die stärksten Elemente der größeren Territorien, die landsässt' gen Prälaten, Ritter und Städte vereinigen sich daher in dieser Zeit zu den Landständen. Die Nothwendigkeit ihrer Geldbewilligungen führt manche Analogien des Verhältnisses zwischen den englischen Königen und ihren Reichsständen herbei. Der wesentlichste Unterschied von England ist, daß sie von Anfang an den Bauerstand ausschließen, in den Städten das Passtvbürgerthum, im Stande der Prälaten die niedere Geistlichkeit. Grade mit dem Fortschritt der „Frei¬ heiten" der Landstände tritt es immer mehr hervor, daß sie nicht die Rechte einer oommumws oomilatus vertreten, sondern ihre verschiedenen Rechte, Rechte gegen Bauern, Schutzverwandte, arbeitende Classen. Ihr Aufblühen geht Hand in Hand mit der Unterdrückung unvertretener Classen; eS folgt darauf der Neid, die Eisersucht, die Entfremdung der drei Stände unter sich. Während daS englische Parlament bis zur Reformation ein fast übermächtiger, und nach der Reformation wenigstens ein einheitlicher Körper bleibt, finden wir in Deutschland eine wachsende Zerspaltung in immer kleinere Kreise herabgehend. Geistliche und weltliche Fürsten führen mit ihren Landständen einen bunten Haushalt; in den Städten hadert das Vollbürgerthum mit den übrigen Classen; noch heftiger ist der Streit der Kirche. In dem Maße, als die Ansprüche an die Staatsgewalt der größeren Territorien wachsen, werden die Landstände engherziger und zwiespältiger. Widerstrebend und uneinig unter sich, sind sie nur noch einig in möglichster Abwälzung der gemeinen Lasten auf ihre Hinter¬ sassen. Die befrohndeten Bauern, die Leibeignen, die immer steuernden Städte, die gedrückten Schutzverwandten, die nicht zünftigen Handwerker, die dissenti- renden NeligionSverwandten: sie alle konnten in diesen Landständen nicht die Vertreter des Landes sehen, sondern nur in dem Landesherrn ihren Schutzherrn gegen die Stände. Von den Landesherrn im Gegensatz gegen die Stände ging also die Her¬ stellung des öffentlichen Rechts aus. Die Stände wurden theilweis gewonnen durch mannigfaltige Bevorzugungen in der neuen Ordnung der Dinge. Das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/254>, abgerufen am 28.07.2024.