Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gehende, hät einen entschieden monographischen Charakter. Er umfaßt un¬
gefähr sechzig Jahre, behandelt aber nur die Hälfte davon ausführlich. Allein
die Aufeinanderfolge der Begebenheiten ist hier auch nicht die Hauptsache; der
Zweck ist, die verwirrten, hoffnungslosen Zustände des 15. Jahrhunderts zu
schildern, aus denen die neue Fürstlichkeit sich, entwickeln mußte, wenn Deutsch¬
land überhaupt eine Entwicklung haben sollte; und das Bild dieser Zustände
gelingt Drovsen aus eine wunderbare Art. Man wird zuweilen betäubt von
dem Uebermaß dieser Verkehrtheiten, aber man lebt sich völlig hinein, man
empfindet sie mit der unmittelbaren Theilnahme eines Zeitgenossen, und indem
man die Nothwendigkeit dessen, was kommen mußte, in sich selbst reproducirt,
erkennt man daraus die providentielle Bedeutung des Hauses, zu dessen Ver¬
herrlichung das Buch geschrieben ist.

Aus dem bisherigen Mittelpunkt des Reichs heraus konnten die verrotteten
Zustände nicht verbessert werden. Man hätte nicht zu sagen vermycht, was
die Reichsgewalt sei, wie weit ihre Befugniß reiche, ob sie dem Reichsober¬
haupte allein zustehe, ob die Kurfürsten, ob alle Fürsten und Herren an ihr
Theil hätten. Jeder Versuch, dieser Ungereimtheit der öffentlichen Gewalt und
ihrer Befugnisse ein Ende zu machen, erschien als ein Attentat gegen die
Freiheit. Während die übrigen Völker neue staatliche Gestaltungen suchten
und fanden, blieb man in Deutschland bei der Zersplitterung in zahllose Selbst¬
herrlichkeiten, bei der Freiheit, und das heilige Reich bedeutete nur die Summe
dieser UnVerantwortlichkeiten, das Gegentheil von Einheit, Macht, Staatlichkeit,
von Ordnung und Unterordnung. Ein Zustand um so verderblicherer Art,
als die Gewohnheit ihn ertragen, für deutsches Recht ansehen lehrte, waS nur
Anarchie war. Die Nation war. in Gefahr, so an Staatlosigkeil unterzugehen,
wie einst daS Alterthum an der ausdörrenden Staatsallgcwalt der Cäsaren
verkommen war. Denn auch in ven Territorien, den geistlichen wie weltlichen,
war die Landesherrschaft, die Namens deS Reiches für Recht und Ordnung
hätte sorgen müssen, je tieser die Reichsgewalt sank, um so ohnmächtiger ge¬
worden. Den gleichen selbstherrlichen Anspruch, mit dem die Fürsten die
Kraft des Reichs lähmten, hatten gegen sie ihre Prälaten, Vasallen, Städte
geltend zu machen gelernt. Es standen endlich die Landesherren in ihren
Territorien um nichts besser als der Kaiser im Reich. Herr waren sie nur
in ihren eigenen Gütern, aber nicht'als Landesherren, sondern als Guts¬
herren. Aus diesen Gütern, aus Zöllen, Gerechtigkeiten, Grundsteuern u. s. w.,
die noch nicht verkauft oder verpfändet waren, flössen ihnen ihre Erträge.
Wem sie zu seinen Ausgaben nicht reichten, der mochte sehen, ob seine
Vasallen, Prälaten und Städte ein Uebriges thun wollten; es hing von
ihrem guten Willen ab. Und wieder von des Landesherrn gutem Willen, ob
und wie viel er von seinem Einkommen zu gemeinem Besten verwenden, ob


'31*

gehende, hät einen entschieden monographischen Charakter. Er umfaßt un¬
gefähr sechzig Jahre, behandelt aber nur die Hälfte davon ausführlich. Allein
die Aufeinanderfolge der Begebenheiten ist hier auch nicht die Hauptsache; der
Zweck ist, die verwirrten, hoffnungslosen Zustände des 15. Jahrhunderts zu
schildern, aus denen die neue Fürstlichkeit sich, entwickeln mußte, wenn Deutsch¬
land überhaupt eine Entwicklung haben sollte; und das Bild dieser Zustände
gelingt Drovsen aus eine wunderbare Art. Man wird zuweilen betäubt von
dem Uebermaß dieser Verkehrtheiten, aber man lebt sich völlig hinein, man
empfindet sie mit der unmittelbaren Theilnahme eines Zeitgenossen, und indem
man die Nothwendigkeit dessen, was kommen mußte, in sich selbst reproducirt,
erkennt man daraus die providentielle Bedeutung des Hauses, zu dessen Ver¬
herrlichung das Buch geschrieben ist.

Aus dem bisherigen Mittelpunkt des Reichs heraus konnten die verrotteten
Zustände nicht verbessert werden. Man hätte nicht zu sagen vermycht, was
die Reichsgewalt sei, wie weit ihre Befugniß reiche, ob sie dem Reichsober¬
haupte allein zustehe, ob die Kurfürsten, ob alle Fürsten und Herren an ihr
Theil hätten. Jeder Versuch, dieser Ungereimtheit der öffentlichen Gewalt und
ihrer Befugnisse ein Ende zu machen, erschien als ein Attentat gegen die
Freiheit. Während die übrigen Völker neue staatliche Gestaltungen suchten
und fanden, blieb man in Deutschland bei der Zersplitterung in zahllose Selbst¬
herrlichkeiten, bei der Freiheit, und das heilige Reich bedeutete nur die Summe
dieser UnVerantwortlichkeiten, das Gegentheil von Einheit, Macht, Staatlichkeit,
von Ordnung und Unterordnung. Ein Zustand um so verderblicherer Art,
als die Gewohnheit ihn ertragen, für deutsches Recht ansehen lehrte, waS nur
Anarchie war. Die Nation war. in Gefahr, so an Staatlosigkeil unterzugehen,
wie einst daS Alterthum an der ausdörrenden Staatsallgcwalt der Cäsaren
verkommen war. Denn auch in ven Territorien, den geistlichen wie weltlichen,
war die Landesherrschaft, die Namens deS Reiches für Recht und Ordnung
hätte sorgen müssen, je tieser die Reichsgewalt sank, um so ohnmächtiger ge¬
worden. Den gleichen selbstherrlichen Anspruch, mit dem die Fürsten die
Kraft des Reichs lähmten, hatten gegen sie ihre Prälaten, Vasallen, Städte
geltend zu machen gelernt. Es standen endlich die Landesherren in ihren
Territorien um nichts besser als der Kaiser im Reich. Herr waren sie nur
in ihren eigenen Gütern, aber nicht'als Landesherren, sondern als Guts¬
herren. Aus diesen Gütern, aus Zöllen, Gerechtigkeiten, Grundsteuern u. s. w.,
die noch nicht verkauft oder verpfändet waren, flössen ihnen ihre Erträge.
Wem sie zu seinen Ausgaben nicht reichten, der mochte sehen, ob seine
Vasallen, Prälaten und Städte ein Uebriges thun wollten; es hing von
ihrem guten Willen ab. Und wieder von des Landesherrn gutem Willen, ob
und wie viel er von seinem Einkommen zu gemeinem Besten verwenden, ob


'31*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0251" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103918"/>
          <p xml:id="ID_735" prev="#ID_734"> gehende, hät einen entschieden monographischen Charakter. Er umfaßt un¬<lb/>
gefähr sechzig Jahre, behandelt aber nur die Hälfte davon ausführlich. Allein<lb/>
die Aufeinanderfolge der Begebenheiten ist hier auch nicht die Hauptsache; der<lb/>
Zweck ist, die verwirrten, hoffnungslosen Zustände des 15. Jahrhunderts zu<lb/>
schildern, aus denen die neue Fürstlichkeit sich, entwickeln mußte, wenn Deutsch¬<lb/>
land überhaupt eine Entwicklung haben sollte; und das Bild dieser Zustände<lb/>
gelingt Drovsen aus eine wunderbare Art. Man wird zuweilen betäubt von<lb/>
dem Uebermaß dieser Verkehrtheiten, aber man lebt sich völlig hinein, man<lb/>
empfindet sie mit der unmittelbaren Theilnahme eines Zeitgenossen, und indem<lb/>
man die Nothwendigkeit dessen, was kommen mußte, in sich selbst reproducirt,<lb/>
erkennt man daraus die providentielle Bedeutung des Hauses, zu dessen Ver¬<lb/>
herrlichung das Buch geschrieben ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_736" next="#ID_737"> Aus dem bisherigen Mittelpunkt des Reichs heraus konnten die verrotteten<lb/>
Zustände nicht verbessert werden. Man hätte nicht zu sagen vermycht, was<lb/>
die Reichsgewalt sei, wie weit ihre Befugniß reiche, ob sie dem Reichsober¬<lb/>
haupte allein zustehe, ob die Kurfürsten, ob alle Fürsten und Herren an ihr<lb/>
Theil hätten. Jeder Versuch, dieser Ungereimtheit der öffentlichen Gewalt und<lb/>
ihrer Befugnisse ein Ende zu machen, erschien als ein Attentat gegen die<lb/>
Freiheit. Während die übrigen Völker neue staatliche Gestaltungen suchten<lb/>
und fanden, blieb man in Deutschland bei der Zersplitterung in zahllose Selbst¬<lb/>
herrlichkeiten, bei der Freiheit, und das heilige Reich bedeutete nur die Summe<lb/>
dieser UnVerantwortlichkeiten, das Gegentheil von Einheit, Macht, Staatlichkeit,<lb/>
von Ordnung und Unterordnung. Ein Zustand um so verderblicherer Art,<lb/>
als die Gewohnheit ihn ertragen, für deutsches Recht ansehen lehrte, waS nur<lb/>
Anarchie war. Die Nation war. in Gefahr, so an Staatlosigkeil unterzugehen,<lb/>
wie einst daS Alterthum an der ausdörrenden Staatsallgcwalt der Cäsaren<lb/>
verkommen war. Denn auch in ven Territorien, den geistlichen wie weltlichen,<lb/>
war die Landesherrschaft, die Namens deS Reiches für Recht und Ordnung<lb/>
hätte sorgen müssen, je tieser die Reichsgewalt sank, um so ohnmächtiger ge¬<lb/>
worden. Den gleichen selbstherrlichen Anspruch, mit dem die Fürsten die<lb/>
Kraft des Reichs lähmten, hatten gegen sie ihre Prälaten, Vasallen, Städte<lb/>
geltend zu machen gelernt. Es standen endlich die Landesherren in ihren<lb/>
Territorien um nichts besser als der Kaiser im Reich. Herr waren sie nur<lb/>
in ihren eigenen Gütern, aber nicht'als Landesherren, sondern als Guts¬<lb/>
herren. Aus diesen Gütern, aus Zöllen, Gerechtigkeiten, Grundsteuern u. s. w.,<lb/>
die noch nicht verkauft oder verpfändet waren, flössen ihnen ihre Erträge.<lb/>
Wem sie zu seinen Ausgaben nicht reichten, der mochte sehen, ob seine<lb/>
Vasallen, Prälaten und Städte ein Uebriges thun wollten; es hing von<lb/>
ihrem guten Willen ab. Und wieder von des Landesherrn gutem Willen, ob<lb/>
und wie viel er von seinem Einkommen zu gemeinem Besten verwenden, ob</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> '31*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0251] gehende, hät einen entschieden monographischen Charakter. Er umfaßt un¬ gefähr sechzig Jahre, behandelt aber nur die Hälfte davon ausführlich. Allein die Aufeinanderfolge der Begebenheiten ist hier auch nicht die Hauptsache; der Zweck ist, die verwirrten, hoffnungslosen Zustände des 15. Jahrhunderts zu schildern, aus denen die neue Fürstlichkeit sich, entwickeln mußte, wenn Deutsch¬ land überhaupt eine Entwicklung haben sollte; und das Bild dieser Zustände gelingt Drovsen aus eine wunderbare Art. Man wird zuweilen betäubt von dem Uebermaß dieser Verkehrtheiten, aber man lebt sich völlig hinein, man empfindet sie mit der unmittelbaren Theilnahme eines Zeitgenossen, und indem man die Nothwendigkeit dessen, was kommen mußte, in sich selbst reproducirt, erkennt man daraus die providentielle Bedeutung des Hauses, zu dessen Ver¬ herrlichung das Buch geschrieben ist. Aus dem bisherigen Mittelpunkt des Reichs heraus konnten die verrotteten Zustände nicht verbessert werden. Man hätte nicht zu sagen vermycht, was die Reichsgewalt sei, wie weit ihre Befugniß reiche, ob sie dem Reichsober¬ haupte allein zustehe, ob die Kurfürsten, ob alle Fürsten und Herren an ihr Theil hätten. Jeder Versuch, dieser Ungereimtheit der öffentlichen Gewalt und ihrer Befugnisse ein Ende zu machen, erschien als ein Attentat gegen die Freiheit. Während die übrigen Völker neue staatliche Gestaltungen suchten und fanden, blieb man in Deutschland bei der Zersplitterung in zahllose Selbst¬ herrlichkeiten, bei der Freiheit, und das heilige Reich bedeutete nur die Summe dieser UnVerantwortlichkeiten, das Gegentheil von Einheit, Macht, Staatlichkeit, von Ordnung und Unterordnung. Ein Zustand um so verderblicherer Art, als die Gewohnheit ihn ertragen, für deutsches Recht ansehen lehrte, waS nur Anarchie war. Die Nation war. in Gefahr, so an Staatlosigkeil unterzugehen, wie einst daS Alterthum an der ausdörrenden Staatsallgcwalt der Cäsaren verkommen war. Denn auch in ven Territorien, den geistlichen wie weltlichen, war die Landesherrschaft, die Namens deS Reiches für Recht und Ordnung hätte sorgen müssen, je tieser die Reichsgewalt sank, um so ohnmächtiger ge¬ worden. Den gleichen selbstherrlichen Anspruch, mit dem die Fürsten die Kraft des Reichs lähmten, hatten gegen sie ihre Prälaten, Vasallen, Städte geltend zu machen gelernt. Es standen endlich die Landesherren in ihren Territorien um nichts besser als der Kaiser im Reich. Herr waren sie nur in ihren eigenen Gütern, aber nicht'als Landesherren, sondern als Guts¬ herren. Aus diesen Gütern, aus Zöllen, Gerechtigkeiten, Grundsteuern u. s. w., die noch nicht verkauft oder verpfändet waren, flössen ihnen ihre Erträge. Wem sie zu seinen Ausgaben nicht reichten, der mochte sehen, ob seine Vasallen, Prälaten und Städte ein Uebriges thun wollten; es hing von ihrem guten Willen ab. Und wieder von des Landesherrn gutem Willen, ob und wie viel er von seinem Einkommen zu gemeinem Besten verwenden, ob '31*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/251
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/251>, abgerufen am 28.07.2024.