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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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betrieben, so weiß ich nicht, ob es grade in unserer Zeit dem Westeuropäer
zusteht, darüber sehr streng zu urtheilen. An Muth fehlt es ihm nicht, und
es ist ungerecht, ihm vorzuwerfen, daß er im Freiheitskriege zum geordneten
Kampfe in der Linie noch wenige Neigung gezeigt hat, da ein solcher ihm seit
Jahrtausenden fremd geworden war. Seine Genügsamkeit und Ausdauer in
Strapazen sind unschätzbare Eigenschaften für den Krieg. Weit verbreitet ist
der Hang zur Intrigue und Lüge, die kaum als etwas Arges angesehen wird.
Man möchte es gern aus der langen Unterdrückung erklären, uno unzweifelhaft
hat diese sehr dazu beigetragen, doch ist diese Eigenschaft bekanntlich schon dem
alten Griechen in den Zeiten seiner Freiheit nicht fremd gewesen. Ich glaube
nur eine andere religiöse Erziehung könnte hier gründlich helfen und diese er¬
forderte eine andere Bildung der Geistlichkeit und eine andere Einwirkung der
Kirche, als sie jetzt gesunden werden. Alles zusammengenommen besitzen gewiß
die Griechen die Eigenschaften und Fähigkeiten, um unter einer kräftigen, wohl¬
wollenden und gerechten Regierung Tüchtiges zu leisten."

Eine andere Frage, ob die Neugriechen die politischen Eigenschaften be¬
sitzen, um sich zu einer geachteten Nation emporzuarbeiten, beantwortet der Ver¬
fasser gleichfalls in einer dem gewöhnlichen Urtheil entgegengesetzten Weise:
"Das Nationalgefühl, die erste Bedingung der politischen Existenz eines Volkes,
ist beim Griechen außerordentlich stark, er hängt warm an seinem Vaterland
oder richtiger seinem Volke, ist seiner Religion, die mit der Nationalität auss
engste verbunden ist, unbedingt ergeben und schätzt seine Unabhängigkeit hoch.
Wenn Reisende behauptet haben, die Türkenherrschaft werde zurückgewünscht,
so mag vielleicht an einigen Orten, die durch die veränderten Verhältnisse ver¬
loren haben, oder bei einzelnen Häuptlingen, die sich der gesetzlichen Ordnung
fügen müssen und nicht mehr wie früher nach unten willkürlich schalten können,
etwas dieser Art vorkommen, wie dergleichen Erscheinungen nach allen Umwäl¬
zungen sich zeigen; es wäre nichts Auffallendes, aber ich habe es nirgend
wahrgenommen, obwol ich mich mehrfach danach erkundigt habe, vielmehr über¬
all den brennendsten Haß gegen die ehemaligen Unterdrücker und die glühendste
Hoffnung, bald auch die noch unter ihnen stehenden Stammesbrüder befreit
zu sehen. Diesem Patriotismus steht nun allerdings als schlimme Schatten¬
seite der schon aus dem Alterthum ererbte Parteigeist, unmäßiger Ehrgeiz und
die üble Sucht, sich im Staatsdienst zu bereichern, entgegen, Erscheinungen,
die freilich auch in andern Staaten kraß genug zum Vorschein kommen, ohne
daß ihnen darum Lebensfähigkeit abgesprochen wird. Es ist dadurch die Ent¬
wicklung des jungen Staates vielfach gestört worden, aber man hat zu vor¬
schnell daraus geschlossen, daß der Grieche überhaupt nicht zum freiwilligen
Gehorsam gegen die Gesetze, zur nöthigen Unterordnung unter den Staats-
organismus fähig sei. Daß das bei einem Volke, welches lange ein hartes Joch


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betrieben, so weiß ich nicht, ob es grade in unserer Zeit dem Westeuropäer
zusteht, darüber sehr streng zu urtheilen. An Muth fehlt es ihm nicht, und
es ist ungerecht, ihm vorzuwerfen, daß er im Freiheitskriege zum geordneten
Kampfe in der Linie noch wenige Neigung gezeigt hat, da ein solcher ihm seit
Jahrtausenden fremd geworden war. Seine Genügsamkeit und Ausdauer in
Strapazen sind unschätzbare Eigenschaften für den Krieg. Weit verbreitet ist
der Hang zur Intrigue und Lüge, die kaum als etwas Arges angesehen wird.
Man möchte es gern aus der langen Unterdrückung erklären, uno unzweifelhaft
hat diese sehr dazu beigetragen, doch ist diese Eigenschaft bekanntlich schon dem
alten Griechen in den Zeiten seiner Freiheit nicht fremd gewesen. Ich glaube
nur eine andere religiöse Erziehung könnte hier gründlich helfen und diese er¬
forderte eine andere Bildung der Geistlichkeit und eine andere Einwirkung der
Kirche, als sie jetzt gesunden werden. Alles zusammengenommen besitzen gewiß
die Griechen die Eigenschaften und Fähigkeiten, um unter einer kräftigen, wohl¬
wollenden und gerechten Regierung Tüchtiges zu leisten."

Eine andere Frage, ob die Neugriechen die politischen Eigenschaften be¬
sitzen, um sich zu einer geachteten Nation emporzuarbeiten, beantwortet der Ver¬
fasser gleichfalls in einer dem gewöhnlichen Urtheil entgegengesetzten Weise:
„Das Nationalgefühl, die erste Bedingung der politischen Existenz eines Volkes,
ist beim Griechen außerordentlich stark, er hängt warm an seinem Vaterland
oder richtiger seinem Volke, ist seiner Religion, die mit der Nationalität auss
engste verbunden ist, unbedingt ergeben und schätzt seine Unabhängigkeit hoch.
Wenn Reisende behauptet haben, die Türkenherrschaft werde zurückgewünscht,
so mag vielleicht an einigen Orten, die durch die veränderten Verhältnisse ver¬
loren haben, oder bei einzelnen Häuptlingen, die sich der gesetzlichen Ordnung
fügen müssen und nicht mehr wie früher nach unten willkürlich schalten können,
etwas dieser Art vorkommen, wie dergleichen Erscheinungen nach allen Umwäl¬
zungen sich zeigen; es wäre nichts Auffallendes, aber ich habe es nirgend
wahrgenommen, obwol ich mich mehrfach danach erkundigt habe, vielmehr über¬
all den brennendsten Haß gegen die ehemaligen Unterdrücker und die glühendste
Hoffnung, bald auch die noch unter ihnen stehenden Stammesbrüder befreit
zu sehen. Diesem Patriotismus steht nun allerdings als schlimme Schatten¬
seite der schon aus dem Alterthum ererbte Parteigeist, unmäßiger Ehrgeiz und
die üble Sucht, sich im Staatsdienst zu bereichern, entgegen, Erscheinungen,
die freilich auch in andern Staaten kraß genug zum Vorschein kommen, ohne
daß ihnen darum Lebensfähigkeit abgesprochen wird. Es ist dadurch die Ent¬
wicklung des jungen Staates vielfach gestört worden, aber man hat zu vor¬
schnell daraus geschlossen, daß der Grieche überhaupt nicht zum freiwilligen
Gehorsam gegen die Gesetze, zur nöthigen Unterordnung unter den Staats-
organismus fähig sei. Daß das bei einem Volke, welches lange ein hartes Joch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/243>, abgerufen am 01.09.2024.