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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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ganzen classischen Poesie und Literatur von ihren ersten Ansängen bis in die
christlichen Jahrhunderte hinein eine sehr große Menge von Stellen, in denen
sich ein lebhaftes Gefühl für Naturschönheit verräth, oder in denen die Natur
geschildert wird, zusammengestellt; und dadurch die Vorstellung, daß den Alten
Naturgefühl überhaupt gefehlt habe, für immer beseitigt. Schillers Empfindung
war jedoch so weit richtig, daß das Verhältniß der Alten zur Natur von dem
der Neuern wesentlich verschieden gewesen ist, und namentlich daß es sich einen
völlig andern Ausdruck gebildet hat, und zwar durch Personification der Natur¬
erscheinungen. Wer das Naturgefühl der Alten erkennen will, muß in ihrer
Mythologie forschen, wo man denn wie natürlich zunächst sich der Nymphen
erinnert. Was anders denn wäre die Schöpfung der Nymphen, sagt Lehrs,
als der plastisch-religiöse Ausdruck eines innigen Naturgefühls, als die Um¬
setzung des innigst empfundenen Natureindrucks in plastischen Ausdruck und
Anschauung, oder der plastisch objectivirte Natureindruck. So wie der Grieche
in die örtliche Natur um sich sah, in seine Wälder und Grotten, seine Berge
und Schluchten, seine Quellen und Wellen, so empfing er den Eindruck eines
Lebens, eines anmuthigen üppigen Lebens, eines von ihm unabhängigen
göttlichen Lebens so lebendig, so innig, so hehr, daß sich ihm die empfundene
Wirkung sogleich in göttliche Wirksamkeiten umsetzte und diese göttlichen Ener-
gieen nun nach seiner Weise sogleich als göttliche Gestalten, göttliche Personen
hervorsprangen. -- An Berg, Grotte, Fluß, Wellen und sofort interessirt ihn
die Materie gar nicht: sie entschwindet ihm; was ihn angeht, was ihn an¬
spricht und erfaßt, ist die Anmuth, die Klarheit und Regsamkeit der Quelle,
die sichere Kraftfülle des Flusses, das schattige Dunkel des Hains, die üppige
Feuchte der Trift, das farbige Wellenspiel des Meeres: kurz diese und solche
gleichsam seelische Eigenschaften, die wieder auf seine Seele wirken, die aber
er eben nicht auffaßt als Eigenschaften an einem Körper, sondern empfindet
als Lebensäußerungen, als göttliche Wirksamkeiten."

Das Wort Nymphe bezeichnete bei den Griechen das Mädchen an dem
Tage, an dem der Bräutigam sie heimführt, und die junge Frau behielt den
Namen, so lange ihre Erscheinung nicht zu entschieden die Matrone verrieth.
Denn einen Namen, der dem deutschen Braut entspräche, "den daS Mädchen
seit der Verlobung führt,, und womit wir sie gleichsam in ein höheres Stadium
getreten und in einer Art Verklärung bezeichnen", hat die griechische Sprache
gar nicht. Der Grund ist, daß die Verlobung bei den Griechen ein bloßer
Pact war, der das Verhältniß der Verlobten zueinander nicht änderte; das
Mädchen blieb nach wie vor in der stillen Abgeschiedenheit des Frauengemachs
und ihr Verlobter sah sie wenig oder gar nicht; einen bräutlichen Umgang,
einen Brautstand gab es nicht, erst mit dem Hochzeitstage trat die veränderte
Stellung des Mädchens ein, und mit ihm also auch der neue Name, der in


ganzen classischen Poesie und Literatur von ihren ersten Ansängen bis in die
christlichen Jahrhunderte hinein eine sehr große Menge von Stellen, in denen
sich ein lebhaftes Gefühl für Naturschönheit verräth, oder in denen die Natur
geschildert wird, zusammengestellt; und dadurch die Vorstellung, daß den Alten
Naturgefühl überhaupt gefehlt habe, für immer beseitigt. Schillers Empfindung
war jedoch so weit richtig, daß das Verhältniß der Alten zur Natur von dem
der Neuern wesentlich verschieden gewesen ist, und namentlich daß es sich einen
völlig andern Ausdruck gebildet hat, und zwar durch Personification der Natur¬
erscheinungen. Wer das Naturgefühl der Alten erkennen will, muß in ihrer
Mythologie forschen, wo man denn wie natürlich zunächst sich der Nymphen
erinnert. Was anders denn wäre die Schöpfung der Nymphen, sagt Lehrs,
als der plastisch-religiöse Ausdruck eines innigen Naturgefühls, als die Um¬
setzung des innigst empfundenen Natureindrucks in plastischen Ausdruck und
Anschauung, oder der plastisch objectivirte Natureindruck. So wie der Grieche
in die örtliche Natur um sich sah, in seine Wälder und Grotten, seine Berge
und Schluchten, seine Quellen und Wellen, so empfing er den Eindruck eines
Lebens, eines anmuthigen üppigen Lebens, eines von ihm unabhängigen
göttlichen Lebens so lebendig, so innig, so hehr, daß sich ihm die empfundene
Wirkung sogleich in göttliche Wirksamkeiten umsetzte und diese göttlichen Ener-
gieen nun nach seiner Weise sogleich als göttliche Gestalten, göttliche Personen
hervorsprangen. — An Berg, Grotte, Fluß, Wellen und sofort interessirt ihn
die Materie gar nicht: sie entschwindet ihm; was ihn angeht, was ihn an¬
spricht und erfaßt, ist die Anmuth, die Klarheit und Regsamkeit der Quelle,
die sichere Kraftfülle des Flusses, das schattige Dunkel des Hains, die üppige
Feuchte der Trift, das farbige Wellenspiel des Meeres: kurz diese und solche
gleichsam seelische Eigenschaften, die wieder auf seine Seele wirken, die aber
er eben nicht auffaßt als Eigenschaften an einem Körper, sondern empfindet
als Lebensäußerungen, als göttliche Wirksamkeiten."

Das Wort Nymphe bezeichnete bei den Griechen das Mädchen an dem
Tage, an dem der Bräutigam sie heimführt, und die junge Frau behielt den
Namen, so lange ihre Erscheinung nicht zu entschieden die Matrone verrieth.
Denn einen Namen, der dem deutschen Braut entspräche, „den daS Mädchen
seit der Verlobung führt,, und womit wir sie gleichsam in ein höheres Stadium
getreten und in einer Art Verklärung bezeichnen", hat die griechische Sprache
gar nicht. Der Grund ist, daß die Verlobung bei den Griechen ein bloßer
Pact war, der das Verhältniß der Verlobten zueinander nicht änderte; das
Mädchen blieb nach wie vor in der stillen Abgeschiedenheit des Frauengemachs
und ihr Verlobter sah sie wenig oder gar nicht; einen bräutlichen Umgang,
einen Brautstand gab es nicht, erst mit dem Hochzeitstage trat die veränderte
Stellung des Mädchens ein, und mit ihm also auch der neue Name, der in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/24>, abgerufen am 28.07.2024.