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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Ein eclatantes Beispiel einer literaturgeschichtlichen Fabel, die aus dieser
Quelle geflossen, noch bis in die neueste Zeit, selbst noch bei F. A. Wolf als
Wahrheit gegolten hat und erst von Lehrs im richtigen Licht gesehen worden
ist, sind die Geschichten von Zoilus, der als angeblicher Tadler der homerischen
Gedichte bei der Nachwelt unschuldigerweise zum Prototyp kleinlicher und un¬
verständiger Kritiker geworden ist, die das Schöne bemäkeln und begeifern,
weil sie es nicht begreifen. Wir wissen jetzt, daß sein "Tadel Homers" nicht
ernster gemeint war, als das Lob der Klytämnestra oder der Tadel der Pene-
lope in den Rhetorenschulen; und ein Buch von ihm, worin er eine Menge
ästhetischer Ausstellungen und sprachlicher Fehler im Homer aufstellte, war
ironisch gehalten und galt nicht dem Homer, sondern den damaligen Philologen,
deren Kleinmeisterei und Silbenstecherei damit persifflirt werden sollte. "Nun
aber lesen wir, daß er Homers Bildsäule gegeißelt. Und von seinem Tode,
um andere ähnliche Geschichten zu übergehen, sagt Vitruv: nach einigen sei
er "gleich als ein Vatermörder" von Ptolemäus Philadelphus gekreuzigt
worden, nach anderen sei er gesteinigt, nach anderen zu Smyrna lebendig ver¬
brannt, endlich er sei vor den versammelten Griechen in Olympia vom Felsen
gestürzt. Daß er ihn mit Ptolemäus Philadelphus zusammenbringt, ist bei¬
läufig ein Anachronismus. Er kann zu dessen Zeit nicht mehr gelebt haben."

Wir wollen noch zwei Beispiele kunstgeschichtlicher Fabeln hinzufügen,
die ebenfalls aus der Rhetorenschule stammen. Ein Thema war: Phidias habe
bei der Arbeit der Kolossalstatue des Jupiter in Olympia Gold unterschlagen.
Die Eleer, die ihn zu dieser Arbeit berufen hatten, lassen ihm zur Strafe
beide Hände abhauen, und senden ihn so nach Athen zurück. Die Athener
fordern für die Verstümmlung ihres Mitbürgers einen Schadenersatz von
hundert Talenten. Es soll für und wider gesprochen werden. Daß an dieser
Geschichte kein wahres Wort ist, braucht nicht gesagt zu werden; aber merk¬
würdig ist die Rücksichtslosigkeit, mit der der größte Künstler Griechenlands
zum Gegenstande einer ebenso albernen als scheußlichen Erfindung gemacht
wurde. Interessanter ist ein anderes auf den Maler ParrhasiuS bezügliches
Thema. Er hat nach der Eroberung von Olynth durch Philipp von Make¬
donien, (zu welcher Zeit er beiläufig gesagt kaum noch gelebt haben kann)
einen der gefangenen Olynthier, die der Sieger als Sklaven verkaufen ließ,
einen alten Mann, an sich gebracht, nach Athen geführt, gefoltert und nach
diesem Modell seinen leidenden Prometheus gemalt; der Olynthier ist auf der
Folter umgekommen. ParrhasiuS stellt das Bilp im Minervatempel auf, und
wird der Verletzung deS Staates angeklagt. Man erinnert sich, daß von man¬
chem wegen der treuen Darstellung des Leidens bewunderten Crucifix in der
neuern Zeit die Sage gegangen ist, der Künstler habe einen Menschen ge¬
kreuzigt, um seine Studien an ihm zu machen, wie z. B. von dem Christus


Ein eclatantes Beispiel einer literaturgeschichtlichen Fabel, die aus dieser
Quelle geflossen, noch bis in die neueste Zeit, selbst noch bei F. A. Wolf als
Wahrheit gegolten hat und erst von Lehrs im richtigen Licht gesehen worden
ist, sind die Geschichten von Zoilus, der als angeblicher Tadler der homerischen
Gedichte bei der Nachwelt unschuldigerweise zum Prototyp kleinlicher und un¬
verständiger Kritiker geworden ist, die das Schöne bemäkeln und begeifern,
weil sie es nicht begreifen. Wir wissen jetzt, daß sein „Tadel Homers" nicht
ernster gemeint war, als das Lob der Klytämnestra oder der Tadel der Pene-
lope in den Rhetorenschulen; und ein Buch von ihm, worin er eine Menge
ästhetischer Ausstellungen und sprachlicher Fehler im Homer aufstellte, war
ironisch gehalten und galt nicht dem Homer, sondern den damaligen Philologen,
deren Kleinmeisterei und Silbenstecherei damit persifflirt werden sollte. „Nun
aber lesen wir, daß er Homers Bildsäule gegeißelt. Und von seinem Tode,
um andere ähnliche Geschichten zu übergehen, sagt Vitruv: nach einigen sei
er „gleich als ein Vatermörder" von Ptolemäus Philadelphus gekreuzigt
worden, nach anderen sei er gesteinigt, nach anderen zu Smyrna lebendig ver¬
brannt, endlich er sei vor den versammelten Griechen in Olympia vom Felsen
gestürzt. Daß er ihn mit Ptolemäus Philadelphus zusammenbringt, ist bei¬
läufig ein Anachronismus. Er kann zu dessen Zeit nicht mehr gelebt haben."

Wir wollen noch zwei Beispiele kunstgeschichtlicher Fabeln hinzufügen,
die ebenfalls aus der Rhetorenschule stammen. Ein Thema war: Phidias habe
bei der Arbeit der Kolossalstatue des Jupiter in Olympia Gold unterschlagen.
Die Eleer, die ihn zu dieser Arbeit berufen hatten, lassen ihm zur Strafe
beide Hände abhauen, und senden ihn so nach Athen zurück. Die Athener
fordern für die Verstümmlung ihres Mitbürgers einen Schadenersatz von
hundert Talenten. Es soll für und wider gesprochen werden. Daß an dieser
Geschichte kein wahres Wort ist, braucht nicht gesagt zu werden; aber merk¬
würdig ist die Rücksichtslosigkeit, mit der der größte Künstler Griechenlands
zum Gegenstande einer ebenso albernen als scheußlichen Erfindung gemacht
wurde. Interessanter ist ein anderes auf den Maler ParrhasiuS bezügliches
Thema. Er hat nach der Eroberung von Olynth durch Philipp von Make¬
donien, (zu welcher Zeit er beiläufig gesagt kaum noch gelebt haben kann)
einen der gefangenen Olynthier, die der Sieger als Sklaven verkaufen ließ,
einen alten Mann, an sich gebracht, nach Athen geführt, gefoltert und nach
diesem Modell seinen leidenden Prometheus gemalt; der Olynthier ist auf der
Folter umgekommen. ParrhasiuS stellt das Bilp im Minervatempel auf, und
wird der Verletzung deS Staates angeklagt. Man erinnert sich, daß von man¬
chem wegen der treuen Darstellung des Leidens bewunderten Crucifix in der
neuern Zeit die Sage gegangen ist, der Künstler habe einen Menschen ge¬
kreuzigt, um seine Studien an ihm zu machen, wie z. B. von dem Christus


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[0022] Ein eclatantes Beispiel einer literaturgeschichtlichen Fabel, die aus dieser Quelle geflossen, noch bis in die neueste Zeit, selbst noch bei F. A. Wolf als Wahrheit gegolten hat und erst von Lehrs im richtigen Licht gesehen worden ist, sind die Geschichten von Zoilus, der als angeblicher Tadler der homerischen Gedichte bei der Nachwelt unschuldigerweise zum Prototyp kleinlicher und un¬ verständiger Kritiker geworden ist, die das Schöne bemäkeln und begeifern, weil sie es nicht begreifen. Wir wissen jetzt, daß sein „Tadel Homers" nicht ernster gemeint war, als das Lob der Klytämnestra oder der Tadel der Pene- lope in den Rhetorenschulen; und ein Buch von ihm, worin er eine Menge ästhetischer Ausstellungen und sprachlicher Fehler im Homer aufstellte, war ironisch gehalten und galt nicht dem Homer, sondern den damaligen Philologen, deren Kleinmeisterei und Silbenstecherei damit persifflirt werden sollte. „Nun aber lesen wir, daß er Homers Bildsäule gegeißelt. Und von seinem Tode, um andere ähnliche Geschichten zu übergehen, sagt Vitruv: nach einigen sei er „gleich als ein Vatermörder" von Ptolemäus Philadelphus gekreuzigt worden, nach anderen sei er gesteinigt, nach anderen zu Smyrna lebendig ver¬ brannt, endlich er sei vor den versammelten Griechen in Olympia vom Felsen gestürzt. Daß er ihn mit Ptolemäus Philadelphus zusammenbringt, ist bei¬ läufig ein Anachronismus. Er kann zu dessen Zeit nicht mehr gelebt haben." Wir wollen noch zwei Beispiele kunstgeschichtlicher Fabeln hinzufügen, die ebenfalls aus der Rhetorenschule stammen. Ein Thema war: Phidias habe bei der Arbeit der Kolossalstatue des Jupiter in Olympia Gold unterschlagen. Die Eleer, die ihn zu dieser Arbeit berufen hatten, lassen ihm zur Strafe beide Hände abhauen, und senden ihn so nach Athen zurück. Die Athener fordern für die Verstümmlung ihres Mitbürgers einen Schadenersatz von hundert Talenten. Es soll für und wider gesprochen werden. Daß an dieser Geschichte kein wahres Wort ist, braucht nicht gesagt zu werden; aber merk¬ würdig ist die Rücksichtslosigkeit, mit der der größte Künstler Griechenlands zum Gegenstande einer ebenso albernen als scheußlichen Erfindung gemacht wurde. Interessanter ist ein anderes auf den Maler ParrhasiuS bezügliches Thema. Er hat nach der Eroberung von Olynth durch Philipp von Make¬ donien, (zu welcher Zeit er beiläufig gesagt kaum noch gelebt haben kann) einen der gefangenen Olynthier, die der Sieger als Sklaven verkaufen ließ, einen alten Mann, an sich gebracht, nach Athen geführt, gefoltert und nach diesem Modell seinen leidenden Prometheus gemalt; der Olynthier ist auf der Folter umgekommen. ParrhasiuS stellt das Bilp im Minervatempel auf, und wird der Verletzung deS Staates angeklagt. Man erinnert sich, daß von man¬ chem wegen der treuen Darstellung des Leidens bewunderten Crucifix in der neuern Zeit die Sage gegangen ist, der Künstler habe einen Menschen ge¬ kreuzigt, um seine Studien an ihm zu machen, wie z. B. von dem Christus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/22>, abgerufen am 28.07.2024.