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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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und selten wird sich eine That finden, über die bei sorgfältiger Prüfung das
Urtheil so schwer ist. Geht man von dem kantischen Moralprincip aus, daß
nur diejenige Handlung zu billigen sei, für deren leitende Marime sich eine
Allgemeingiltigkeit in Anspruch nehmen läßt, so wird man leicht bestimmt,
Vor! zu verurtheilen; denn was sollte aus der Welt werden, wenn die Ge¬
nerale, anstatt nach ihren Jnstructionen zu handeln, auf eigne Hand Politik
trieben? In neuerer Zeit, wo man von dem augenscheinlichen Erfolg jener
That ausging, ist man im Gegentheil geneigt gewesen, den Entschluß Yorks
zu gering anzuschlagen; wenn man ihm einen Vorwurf macht, so ist eS der,
daß er sich nicht schnell genug entschloß, daß er innerlich zu sehr schwankte,
daß er eine Reihe mitwirkender Nebenumstände, z. B. das Benehmen Macdo¬
nalds, die Fortschritte der Russen, die Ankunft dieses oder jenes Couriers ab¬
wartete, um sich bestimmen zu lassen. Diese Art des Urtheils ist jedenfalls
ungerecht; denn einmal hat Uork jene Nebenumstände selbst herbeigeführt, da
er von vornherein nach einem bestimmten Plan handelte, sodann war eS für
einen gewissenhaften Offizier, einen treuen Diener seines Königs, ein um so schwe¬
rerer, furchtbarerer Entschluß, als er die Folgen desselben gar nicht berechnen konnte.
. Die Russen hatten sich in früherer Zeit gegen Preußen so falsch gezeigt, ihre
Interessen waren so wenig mit denen -Deutschlands identisch, daß eS rein von
dem Gesichtspunkt des Verstandes aus sehr fraglich war, ob für Preußen in
diesem Augenblick die Wiederaufnahme der haugwitzschen Politik nicht zweck¬
mäßig erscheinen konnte. DaS öffentliche Gefühl sprach sich allerdings sehr
stark gegen die Franzosen aus; aber ob dieses Gefühl die Kraft haben würde,
jene Mächte in den Kampf zu rufen, die bei einer Entscheidung ein alter
General allein in Anschlag bringen konnte, darüber konnte sich bei einer ge¬
wissenhaften Ueberlegung noch kein klares Urtheil bilden. ES war möglich,
daß Oestreich fest zu Napoleon hielt, eS war möglich, daß die gute Gesinnung
des Kaiser Alexander von der national-russischen Partei umgestimmt wurde,
daß er auf Kosten Deutschlands Frieden schloß, und dann war Preußen in
einer ebenso verzweifelten Lage, als im Jahre 1807.

Diese Gesichtspunkte konnten sehr wohl geltend gemacht werden, sie waren
durch bloße VerstaudeSschlüsse nicht zu beseitigen. Glücklicherweise sprach hier
das Gefühl lauter als der Verstand. Uork wußte unmittelbar, ohne alle
Gründe, aber mit Bestimmtheit, daß sein Gefühl das allgemeine Gefühl des
Volks sei, daß eS in stetigem Wachsthum sich immer freier entfalten, daß
keine Macht auf der Welt eS zurückdrängen würde. In diesem Sinn han¬
delte er, und die Geschichte hat ihm Recht gegeben; denn in der Politik reicht
die kalte Berechnung des Verstandes nicht immer aus. Es gibt Augenblicke,
wo der Mann mit seiner vollen Seele eintreten, wo er das Höchste aufs
Spiel setzen muß, um das Höchste zu gewinnen.


und selten wird sich eine That finden, über die bei sorgfältiger Prüfung das
Urtheil so schwer ist. Geht man von dem kantischen Moralprincip aus, daß
nur diejenige Handlung zu billigen sei, für deren leitende Marime sich eine
Allgemeingiltigkeit in Anspruch nehmen läßt, so wird man leicht bestimmt,
Vor! zu verurtheilen; denn was sollte aus der Welt werden, wenn die Ge¬
nerale, anstatt nach ihren Jnstructionen zu handeln, auf eigne Hand Politik
trieben? In neuerer Zeit, wo man von dem augenscheinlichen Erfolg jener
That ausging, ist man im Gegentheil geneigt gewesen, den Entschluß Yorks
zu gering anzuschlagen; wenn man ihm einen Vorwurf macht, so ist eS der,
daß er sich nicht schnell genug entschloß, daß er innerlich zu sehr schwankte,
daß er eine Reihe mitwirkender Nebenumstände, z. B. das Benehmen Macdo¬
nalds, die Fortschritte der Russen, die Ankunft dieses oder jenes Couriers ab¬
wartete, um sich bestimmen zu lassen. Diese Art des Urtheils ist jedenfalls
ungerecht; denn einmal hat Uork jene Nebenumstände selbst herbeigeführt, da
er von vornherein nach einem bestimmten Plan handelte, sodann war eS für
einen gewissenhaften Offizier, einen treuen Diener seines Königs, ein um so schwe¬
rerer, furchtbarerer Entschluß, als er die Folgen desselben gar nicht berechnen konnte.
. Die Russen hatten sich in früherer Zeit gegen Preußen so falsch gezeigt, ihre
Interessen waren so wenig mit denen -Deutschlands identisch, daß eS rein von
dem Gesichtspunkt des Verstandes aus sehr fraglich war, ob für Preußen in
diesem Augenblick die Wiederaufnahme der haugwitzschen Politik nicht zweck¬
mäßig erscheinen konnte. DaS öffentliche Gefühl sprach sich allerdings sehr
stark gegen die Franzosen aus; aber ob dieses Gefühl die Kraft haben würde,
jene Mächte in den Kampf zu rufen, die bei einer Entscheidung ein alter
General allein in Anschlag bringen konnte, darüber konnte sich bei einer ge¬
wissenhaften Ueberlegung noch kein klares Urtheil bilden. ES war möglich,
daß Oestreich fest zu Napoleon hielt, eS war möglich, daß die gute Gesinnung
des Kaiser Alexander von der national-russischen Partei umgestimmt wurde,
daß er auf Kosten Deutschlands Frieden schloß, und dann war Preußen in
einer ebenso verzweifelten Lage, als im Jahre 1807.

Diese Gesichtspunkte konnten sehr wohl geltend gemacht werden, sie waren
durch bloße VerstaudeSschlüsse nicht zu beseitigen. Glücklicherweise sprach hier
das Gefühl lauter als der Verstand. Uork wußte unmittelbar, ohne alle
Gründe, aber mit Bestimmtheit, daß sein Gefühl das allgemeine Gefühl des
Volks sei, daß eS in stetigem Wachsthum sich immer freier entfalten, daß
keine Macht auf der Welt eS zurückdrängen würde. In diesem Sinn han¬
delte er, und die Geschichte hat ihm Recht gegeben; denn in der Politik reicht
die kalte Berechnung des Verstandes nicht immer aus. Es gibt Augenblicke,
wo der Mann mit seiner vollen Seele eintreten, wo er das Höchste aufs
Spiel setzen muß, um das Höchste zu gewinnen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/149>, abgerufen am 01.09.2024.