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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Wie weit indeß Rußland auch immerhin bereits auf dieser Straße vor¬
gedrungen sein mag: seinen Hauptangriff wider Indien wird es dennoch schwer¬
lich jemals auf derselben zur Ausführung bringen, und zwar darum nicht, weil
eS dazu einer regulären Armee bedarf, die eS ohne außerordentliche Anstren¬
gungen nicht am Uralfluß zusammenziehen und schlechterdings nicht durch
Sand- und Schneewüsten, im Sommer bei ^ 30" R. und ohne Wasser und im
Winter bei -- 30" vorwärtsbewegen kann. Nur um seine auf der mittleren
oder Heratstraße vorrückende Hauptmacht von linksher zu decken und zu secun-
diren, wird es Kosacken und Tartarenhorden die Bahn des Ann Darja ein¬
schlagen lassen. Am Ziele sind diese Hilfsvölker dann eine gute Beihilfe, aber
um selbstständig mit ihnen eine Entscheidung zu geben, wäre vorauszusetzen, daß
sie am Indus ebenfalls nur irreguläre Reitermassen sich gegenüber finden
würden, was nicht der Fall ist.

Aus diesem Grunde hat der Fall Taschkents nimmermehr eine gleiche Be¬
deutung zu beanspruchen wie Herats Uebergabe an die Perser d. h. an die
zur Zeit intimsten russischen Verbündeten. Die dritte oder Heratstraße ist der
eigentliche verbindende Faden zwischen Norderasien und den Gangesländern.
Sie nimmt ihren Ausgang von Teheran, und läuft über Mesched und Jir-
buk auf Herat, von wo zwei Straßen in weiterer östlicher Richtung auslaufen,
nämlich die sogenannte Königsstraße, die aus Kandahar gewendet ist, und die
Caravanenstraße nach Kabul. Letztlich vereinigen sich beide in diesem Punkte
und gelangen über Pischawar (Peschawar) nach Attock am oberen Indus.

Indem die Perser bis Herat vordrangen, legten sie den halben Weg von
Teheran zum Indus zurück. Jene Festung sperrt nicht etwa den Weg in Art
einer Paßbefestigung; sie ist zu umgehen, und wird einer solchen Operation
kein ernstes Hinderniß entgegenstellen; aber was sie nicht als taktischer Punkt
l> h. als unmittelbarer Stein des Anstoßes) zu Wege bringt, vermag sie als
strategischer. Herat ist im Grunde genommen das Centrum eines Oasen¬
staates, de,r mitten in einem Labyrinth von Felsen- und Sandwüsten
gelegen ist. Hier die Mittelstraße zu nehmen, hätte eine von Pxrsien aus
nach dem Indus ziehende Armee allen Anlaß: die Strapazen eines dreihun¬
dert Stunden langen Marsches sind enorm, und um die zweite ebensoweite
Strecke zurückzulegen, bedarf es einer vorausgehenden Erholung. Aber wenn
Herat sich in den Händen der Briten befindet, wird man anstatt Ruhe die
neuen Ermüdungen einer Belagerung vor sich finden. Oder wäre es denkbar,
daß die aus einer so ausgedehnten Linie operirende Armee vorwärts gehen könnte,
ohne sich der Festung zu versichern, und mit ihrer feindlichen Besatzung im
Rücken, die, wenn auch nicht selbstständig im Felde mcmövrirend, mindestens
doch die Versorgung von rückwärtsher sehr unsicher machen würde?

Herat ist der räumliche Mittelpunkt des ganzen Zuges. Wie Napoleon


Wie weit indeß Rußland auch immerhin bereits auf dieser Straße vor¬
gedrungen sein mag: seinen Hauptangriff wider Indien wird es dennoch schwer¬
lich jemals auf derselben zur Ausführung bringen, und zwar darum nicht, weil
eS dazu einer regulären Armee bedarf, die eS ohne außerordentliche Anstren¬
gungen nicht am Uralfluß zusammenziehen und schlechterdings nicht durch
Sand- und Schneewüsten, im Sommer bei ^ 30" R. und ohne Wasser und im
Winter bei — 30" vorwärtsbewegen kann. Nur um seine auf der mittleren
oder Heratstraße vorrückende Hauptmacht von linksher zu decken und zu secun-
diren, wird es Kosacken und Tartarenhorden die Bahn des Ann Darja ein¬
schlagen lassen. Am Ziele sind diese Hilfsvölker dann eine gute Beihilfe, aber
um selbstständig mit ihnen eine Entscheidung zu geben, wäre vorauszusetzen, daß
sie am Indus ebenfalls nur irreguläre Reitermassen sich gegenüber finden
würden, was nicht der Fall ist.

Aus diesem Grunde hat der Fall Taschkents nimmermehr eine gleiche Be¬
deutung zu beanspruchen wie Herats Uebergabe an die Perser d. h. an die
zur Zeit intimsten russischen Verbündeten. Die dritte oder Heratstraße ist der
eigentliche verbindende Faden zwischen Norderasien und den Gangesländern.
Sie nimmt ihren Ausgang von Teheran, und läuft über Mesched und Jir-
buk auf Herat, von wo zwei Straßen in weiterer östlicher Richtung auslaufen,
nämlich die sogenannte Königsstraße, die aus Kandahar gewendet ist, und die
Caravanenstraße nach Kabul. Letztlich vereinigen sich beide in diesem Punkte
und gelangen über Pischawar (Peschawar) nach Attock am oberen Indus.

Indem die Perser bis Herat vordrangen, legten sie den halben Weg von
Teheran zum Indus zurück. Jene Festung sperrt nicht etwa den Weg in Art
einer Paßbefestigung; sie ist zu umgehen, und wird einer solchen Operation
kein ernstes Hinderniß entgegenstellen; aber was sie nicht als taktischer Punkt
l> h. als unmittelbarer Stein des Anstoßes) zu Wege bringt, vermag sie als
strategischer. Herat ist im Grunde genommen das Centrum eines Oasen¬
staates, de,r mitten in einem Labyrinth von Felsen- und Sandwüsten
gelegen ist. Hier die Mittelstraße zu nehmen, hätte eine von Pxrsien aus
nach dem Indus ziehende Armee allen Anlaß: die Strapazen eines dreihun¬
dert Stunden langen Marsches sind enorm, und um die zweite ebensoweite
Strecke zurückzulegen, bedarf es einer vorausgehenden Erholung. Aber wenn
Herat sich in den Händen der Briten befindet, wird man anstatt Ruhe die
neuen Ermüdungen einer Belagerung vor sich finden. Oder wäre es denkbar,
daß die aus einer so ausgedehnten Linie operirende Armee vorwärts gehen könnte,
ohne sich der Festung zu versichern, und mit ihrer feindlichen Besatzung im
Rücken, die, wenn auch nicht selbstständig im Felde mcmövrirend, mindestens
doch die Versorgung von rückwärtsher sehr unsicher machen würde?

Herat ist der räumliche Mittelpunkt des ganzen Zuges. Wie Napoleon


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[0064] Wie weit indeß Rußland auch immerhin bereits auf dieser Straße vor¬ gedrungen sein mag: seinen Hauptangriff wider Indien wird es dennoch schwer¬ lich jemals auf derselben zur Ausführung bringen, und zwar darum nicht, weil eS dazu einer regulären Armee bedarf, die eS ohne außerordentliche Anstren¬ gungen nicht am Uralfluß zusammenziehen und schlechterdings nicht durch Sand- und Schneewüsten, im Sommer bei ^ 30" R. und ohne Wasser und im Winter bei — 30" vorwärtsbewegen kann. Nur um seine auf der mittleren oder Heratstraße vorrückende Hauptmacht von linksher zu decken und zu secun- diren, wird es Kosacken und Tartarenhorden die Bahn des Ann Darja ein¬ schlagen lassen. Am Ziele sind diese Hilfsvölker dann eine gute Beihilfe, aber um selbstständig mit ihnen eine Entscheidung zu geben, wäre vorauszusetzen, daß sie am Indus ebenfalls nur irreguläre Reitermassen sich gegenüber finden würden, was nicht der Fall ist. Aus diesem Grunde hat der Fall Taschkents nimmermehr eine gleiche Be¬ deutung zu beanspruchen wie Herats Uebergabe an die Perser d. h. an die zur Zeit intimsten russischen Verbündeten. Die dritte oder Heratstraße ist der eigentliche verbindende Faden zwischen Norderasien und den Gangesländern. Sie nimmt ihren Ausgang von Teheran, und läuft über Mesched und Jir- buk auf Herat, von wo zwei Straßen in weiterer östlicher Richtung auslaufen, nämlich die sogenannte Königsstraße, die aus Kandahar gewendet ist, und die Caravanenstraße nach Kabul. Letztlich vereinigen sich beide in diesem Punkte und gelangen über Pischawar (Peschawar) nach Attock am oberen Indus. Indem die Perser bis Herat vordrangen, legten sie den halben Weg von Teheran zum Indus zurück. Jene Festung sperrt nicht etwa den Weg in Art einer Paßbefestigung; sie ist zu umgehen, und wird einer solchen Operation kein ernstes Hinderniß entgegenstellen; aber was sie nicht als taktischer Punkt l> h. als unmittelbarer Stein des Anstoßes) zu Wege bringt, vermag sie als strategischer. Herat ist im Grunde genommen das Centrum eines Oasen¬ staates, de,r mitten in einem Labyrinth von Felsen- und Sandwüsten gelegen ist. Hier die Mittelstraße zu nehmen, hätte eine von Pxrsien aus nach dem Indus ziehende Armee allen Anlaß: die Strapazen eines dreihun¬ dert Stunden langen Marsches sind enorm, und um die zweite ebensoweite Strecke zurückzulegen, bedarf es einer vorausgehenden Erholung. Aber wenn Herat sich in den Händen der Briten befindet, wird man anstatt Ruhe die neuen Ermüdungen einer Belagerung vor sich finden. Oder wäre es denkbar, daß die aus einer so ausgedehnten Linie operirende Armee vorwärts gehen könnte, ohne sich der Festung zu versichern, und mit ihrer feindlichen Besatzung im Rücken, die, wenn auch nicht selbstständig im Felde mcmövrirend, mindestens doch die Versorgung von rückwärtsher sehr unsicher machen würde? Herat ist der räumliche Mittelpunkt des ganzen Zuges. Wie Napoleon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/64>, abgerufen am 23.07.2024.