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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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lagerungszustandes über das ganze Königreich. Die Bürgerschaft, durch die
Vorgänge der letzten Wochen, durch die Gerüchte über eine schwere Krise, die
in den letzten Tagen die Stadt durchflogen hatten, bereits fieberisch aufgeregt,
gerieth sofort in eine Gährung, die das Schlimmste befürchten ließ. Der für un¬
möglich gehaltene Rücktritt des Siegesherzogs erschien als der Sturz der progres-
sistischen Regierung und als das Signal zum Einbruch einer moderirten Reaction.
Die in Madrid anwesenden Abgeordneten der Puros, wie der Demokraten, ver¬
sammelten sich im Cortespalaft, und die Nationalmiliz griff zu den Waffen.
Schon am Abend des 1 i-ten verbreitete sich die Nachricht von dem Pronuncia-
mento Saragossas, wohin Escosura, der als Minister des Innern über den
Telegraphen verfügte, die Nachricht des Ministerwechsels gesendet hatte, ehe sein
Nachfolger die Ämtögebäude in Besitz genommen. Mit 90 Stimmen gegen eine
beschloß der unter Infantes Vorsitz tagende Rumpf der Cortes eine Adresse an
die Königin, welche die Entlassung deS Ministeriums O'Dommel forderte, aber
nicht einmal in Jsabellas Hände gelangte, da die sie überbringende Deputation
das Fruer zwischen den Nationalmilizen und Truppen in den Umgebungen
des königlichen Schlosses bereits ausgebrochen fand, und unverrichteter Sache
zurückkehren mußte. Die progressistische Partei,, oder vielmehr die schiufere
Fraction derselben stürzte sich blindlings in den Kampf,- gedrängt von den Demo¬
kraten, angestachelt von den Leidenschaften der Masse, und getäuscht über ihre
wahre Stärke, vor allem aber getäuscht in den Hoffnungen, die sie auf den
Mann setzte, den sie sich zum Haupte erkoren, mit jeder Art von Verehrung
überhäuft und mit dem Nimbus einer fast beispiellosen Popularität umgeben
hatte. Wo war in dieser Stunde äußerster Noth derjenige, welcher bei jedem
Anlaß erklärt hatte, wenn die Freiheit bedroht würde, solle das Schwert von
Luchana im Kampfe für sie voranblitzen? Stand er in der Mitte der Bevöl¬
kerung, die unter dem Feldgeschrei seines Namens sich zu den Waffen drängte,
Barrikaden aufwarf, sich in ihren Häusern verschanzte? Der Siegesherzog
weilte im Hause der Schwägerin des Generals Garrea, in das er sich nach
seiner Entlassung zurückgezogen, unentschlossen und schwankend, wie nie, in
diesem entscheidendsten Momente seines Lebens. Die Progressisten empfanden
jetzt die Folgen davon, daß sie statt eines Führers nur eine Fahne an ihrer
Spitze hatten. Gewiß fehlte Espartero nicht der persönliche Muth des Sol¬
daten; er hat ihn in seiner langen Laufbahn im Felde vielfach und glänzend
bewiesen. Aber es fehlte ihm der höhere, moralische Muth, der zur Verant¬
wortlichkeit eines großen Entschlusses erforderlich ist. Er war es seiner Partei
und seinem Lande schuldig, eine Wahl zu treffen. Billigte er den Aufstand,
lo mußte er durch eine unzweideutige Entscheidung das unermeßliche Gewicht
seines Namens für ihn in die Wagschale werfen. Hielt er ihn für über-
nlt und unberechtigt, so mußte er sich offen dagegen erklären und dem Miß-


lagerungszustandes über das ganze Königreich. Die Bürgerschaft, durch die
Vorgänge der letzten Wochen, durch die Gerüchte über eine schwere Krise, die
in den letzten Tagen die Stadt durchflogen hatten, bereits fieberisch aufgeregt,
gerieth sofort in eine Gährung, die das Schlimmste befürchten ließ. Der für un¬
möglich gehaltene Rücktritt des Siegesherzogs erschien als der Sturz der progres-
sistischen Regierung und als das Signal zum Einbruch einer moderirten Reaction.
Die in Madrid anwesenden Abgeordneten der Puros, wie der Demokraten, ver¬
sammelten sich im Cortespalaft, und die Nationalmiliz griff zu den Waffen.
Schon am Abend des 1 i-ten verbreitete sich die Nachricht von dem Pronuncia-
mento Saragossas, wohin Escosura, der als Minister des Innern über den
Telegraphen verfügte, die Nachricht des Ministerwechsels gesendet hatte, ehe sein
Nachfolger die Ämtögebäude in Besitz genommen. Mit 90 Stimmen gegen eine
beschloß der unter Infantes Vorsitz tagende Rumpf der Cortes eine Adresse an
die Königin, welche die Entlassung deS Ministeriums O'Dommel forderte, aber
nicht einmal in Jsabellas Hände gelangte, da die sie überbringende Deputation
das Fruer zwischen den Nationalmilizen und Truppen in den Umgebungen
des königlichen Schlosses bereits ausgebrochen fand, und unverrichteter Sache
zurückkehren mußte. Die progressistische Partei,, oder vielmehr die schiufere
Fraction derselben stürzte sich blindlings in den Kampf,- gedrängt von den Demo¬
kraten, angestachelt von den Leidenschaften der Masse, und getäuscht über ihre
wahre Stärke, vor allem aber getäuscht in den Hoffnungen, die sie auf den
Mann setzte, den sie sich zum Haupte erkoren, mit jeder Art von Verehrung
überhäuft und mit dem Nimbus einer fast beispiellosen Popularität umgeben
hatte. Wo war in dieser Stunde äußerster Noth derjenige, welcher bei jedem
Anlaß erklärt hatte, wenn die Freiheit bedroht würde, solle das Schwert von
Luchana im Kampfe für sie voranblitzen? Stand er in der Mitte der Bevöl¬
kerung, die unter dem Feldgeschrei seines Namens sich zu den Waffen drängte,
Barrikaden aufwarf, sich in ihren Häusern verschanzte? Der Siegesherzog
weilte im Hause der Schwägerin des Generals Garrea, in das er sich nach
seiner Entlassung zurückgezogen, unentschlossen und schwankend, wie nie, in
diesem entscheidendsten Momente seines Lebens. Die Progressisten empfanden
jetzt die Folgen davon, daß sie statt eines Führers nur eine Fahne an ihrer
Spitze hatten. Gewiß fehlte Espartero nicht der persönliche Muth des Sol¬
daten; er hat ihn in seiner langen Laufbahn im Felde vielfach und glänzend
bewiesen. Aber es fehlte ihm der höhere, moralische Muth, der zur Verant¬
wortlichkeit eines großen Entschlusses erforderlich ist. Er war es seiner Partei
und seinem Lande schuldig, eine Wahl zu treffen. Billigte er den Aufstand,
lo mußte er durch eine unzweideutige Entscheidung das unermeßliche Gewicht
seines Namens für ihn in die Wagschale werfen. Hielt er ihn für über-
nlt und unberechtigt, so mußte er sich offen dagegen erklären und dem Miß-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/55>, abgerufen am 23.07.2024.