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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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stände stärker vibriren, als bei der bloßen Forschung möglich wäre. In dieser
Gabe -- man möchte es die poetische Seite seiner Natur nennen -- liegt zu¬
gleich die Gefahr eines doppelten Abweges. Er schreibt stets mit voller Seele,
und es widerfährt ihm daher zuweilen, daß das Urtheil gefällt wird, ehe sich
die Leidenschaft beruhigt hat. Ohne leidenschaftliche Betheiligung ist freilich
kein richtiges Urtheil möglich, aber es ist auch nur möglich, wenn man sie
überwunden hat. Wir meinen nicht blos das moralische Urtheil, sondern auch
das Urtheil, das durch die bloße Darstellung ausgedrückt wird. Ein zweites
Bedenken liegt in der Form des Urtheils. Mommsen hat in seltenem Grade,
waS die Franzosen esprit, nennen; er weiß uns in seinen Sätzen häufig zu
überraschen, durch das unerwartete Resultat zu blenden und fortzureißen. In
den meisten Fällen liegt dieser Witz in der Sache selbst, und es überrascht
uns nur, daß wir nicht selbst daraus gekommen sind. Aber eS ist doch nicht
ganz zu vermeiden, daß auch die Stimmung dazu das Ihrige thut, und je
weniger Mommsen den Witz sucht, mit je sinnlicherer Gewalt er sich ihm
aufdrängt, desto mehr hat er Ursache auf seiner Hut zu sein. Auf alle Fälle
stumpft eine zu häufige Anwendung des Gewürzes den Gaumen ab, und die
schöne Gabe, die Contraste des Ideals und der Wirklichkeit sinnlich zu empfin¬
den, will geschont sein.

Wir möchten beide Bedenken durch ein Beispiel belegen. Wir finden
es auf derselben Seite 697 bis 698.

"Nur von der verächtlichen Unredlichkeit oder der elenden Sentimentalität
kann es verkannt werden, daß eS mit der Befreiung Griechenlands den Rö¬
mern vollkommen Ernst war und die Ursache, weshalb der großartig angelegte
Plan ein so kümmerliches Gebäude lieferte, einzig zu suchen ist in der voll¬
ständigen sittlichen und staatlichen Auflösung der hellenischen Nation. Es war
nichts Geringes, baß eine mächtige Nation das Land, welches sie sich gewöhnt
hatte als ihre Urheimat!) und als das Heiligthum ihrer geistigen und höhere"
Interessen zu betrachten, mit ihrem mächtigen Arm plötzlich zur vollen Freiheit
führte und jeder Gemeinde die Befreiung von fremder Schätzung und fremder
Besatzung und die unbeschränkte Selbstregierung verlieh; blos die Jämmerlich¬
keit sieht hierin nichts als politische Berechnung."

Wir sehen vorläufig vom Inhalt ab. Wie kann aber Mommsen, der
sonst so geschickt, ja so pointirt das passende Beiwort zu finden weiß, einen
angeblichen Mangel des Verständnisses mit moralischen Allgemeinheiten, wie
verächtliche Unredlichkeit, elende Sentimentalität und Jämmerlichkeit qualifici-
ren! Dies Mal hat in der That der Unwille den Pers gemacht. Hätte Momm¬
sen denselben überwunden, so würde er auch für den innern Widerspruch der
Gefühlspolitik und der innern Nothwendigkeit der Dinge einen feinern Aus¬
druck gesunden haben. Er geht statt dessen in seinem Eifer weiter und stellt


stände stärker vibriren, als bei der bloßen Forschung möglich wäre. In dieser
Gabe — man möchte es die poetische Seite seiner Natur nennen — liegt zu¬
gleich die Gefahr eines doppelten Abweges. Er schreibt stets mit voller Seele,
und es widerfährt ihm daher zuweilen, daß das Urtheil gefällt wird, ehe sich
die Leidenschaft beruhigt hat. Ohne leidenschaftliche Betheiligung ist freilich
kein richtiges Urtheil möglich, aber es ist auch nur möglich, wenn man sie
überwunden hat. Wir meinen nicht blos das moralische Urtheil, sondern auch
das Urtheil, das durch die bloße Darstellung ausgedrückt wird. Ein zweites
Bedenken liegt in der Form des Urtheils. Mommsen hat in seltenem Grade,
waS die Franzosen esprit, nennen; er weiß uns in seinen Sätzen häufig zu
überraschen, durch das unerwartete Resultat zu blenden und fortzureißen. In
den meisten Fällen liegt dieser Witz in der Sache selbst, und es überrascht
uns nur, daß wir nicht selbst daraus gekommen sind. Aber eS ist doch nicht
ganz zu vermeiden, daß auch die Stimmung dazu das Ihrige thut, und je
weniger Mommsen den Witz sucht, mit je sinnlicherer Gewalt er sich ihm
aufdrängt, desto mehr hat er Ursache auf seiner Hut zu sein. Auf alle Fälle
stumpft eine zu häufige Anwendung des Gewürzes den Gaumen ab, und die
schöne Gabe, die Contraste des Ideals und der Wirklichkeit sinnlich zu empfin¬
den, will geschont sein.

Wir möchten beide Bedenken durch ein Beispiel belegen. Wir finden
es auf derselben Seite 697 bis 698.

„Nur von der verächtlichen Unredlichkeit oder der elenden Sentimentalität
kann es verkannt werden, daß eS mit der Befreiung Griechenlands den Rö¬
mern vollkommen Ernst war und die Ursache, weshalb der großartig angelegte
Plan ein so kümmerliches Gebäude lieferte, einzig zu suchen ist in der voll¬
ständigen sittlichen und staatlichen Auflösung der hellenischen Nation. Es war
nichts Geringes, baß eine mächtige Nation das Land, welches sie sich gewöhnt
hatte als ihre Urheimat!) und als das Heiligthum ihrer geistigen und höhere»
Interessen zu betrachten, mit ihrem mächtigen Arm plötzlich zur vollen Freiheit
führte und jeder Gemeinde die Befreiung von fremder Schätzung und fremder
Besatzung und die unbeschränkte Selbstregierung verlieh; blos die Jämmerlich¬
keit sieht hierin nichts als politische Berechnung."

Wir sehen vorläufig vom Inhalt ab. Wie kann aber Mommsen, der
sonst so geschickt, ja so pointirt das passende Beiwort zu finden weiß, einen
angeblichen Mangel des Verständnisses mit moralischen Allgemeinheiten, wie
verächtliche Unredlichkeit, elende Sentimentalität und Jämmerlichkeit qualifici-
ren! Dies Mal hat in der That der Unwille den Pers gemacht. Hätte Momm¬
sen denselben überwunden, so würde er auch für den innern Widerspruch der
Gefühlspolitik und der innern Nothwendigkeit der Dinge einen feinern Aus¬
druck gesunden haben. Er geht statt dessen in seinem Eifer weiter und stellt


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[0501] stände stärker vibriren, als bei der bloßen Forschung möglich wäre. In dieser Gabe — man möchte es die poetische Seite seiner Natur nennen — liegt zu¬ gleich die Gefahr eines doppelten Abweges. Er schreibt stets mit voller Seele, und es widerfährt ihm daher zuweilen, daß das Urtheil gefällt wird, ehe sich die Leidenschaft beruhigt hat. Ohne leidenschaftliche Betheiligung ist freilich kein richtiges Urtheil möglich, aber es ist auch nur möglich, wenn man sie überwunden hat. Wir meinen nicht blos das moralische Urtheil, sondern auch das Urtheil, das durch die bloße Darstellung ausgedrückt wird. Ein zweites Bedenken liegt in der Form des Urtheils. Mommsen hat in seltenem Grade, waS die Franzosen esprit, nennen; er weiß uns in seinen Sätzen häufig zu überraschen, durch das unerwartete Resultat zu blenden und fortzureißen. In den meisten Fällen liegt dieser Witz in der Sache selbst, und es überrascht uns nur, daß wir nicht selbst daraus gekommen sind. Aber eS ist doch nicht ganz zu vermeiden, daß auch die Stimmung dazu das Ihrige thut, und je weniger Mommsen den Witz sucht, mit je sinnlicherer Gewalt er sich ihm aufdrängt, desto mehr hat er Ursache auf seiner Hut zu sein. Auf alle Fälle stumpft eine zu häufige Anwendung des Gewürzes den Gaumen ab, und die schöne Gabe, die Contraste des Ideals und der Wirklichkeit sinnlich zu empfin¬ den, will geschont sein. Wir möchten beide Bedenken durch ein Beispiel belegen. Wir finden es auf derselben Seite 697 bis 698. „Nur von der verächtlichen Unredlichkeit oder der elenden Sentimentalität kann es verkannt werden, daß eS mit der Befreiung Griechenlands den Rö¬ mern vollkommen Ernst war und die Ursache, weshalb der großartig angelegte Plan ein so kümmerliches Gebäude lieferte, einzig zu suchen ist in der voll¬ ständigen sittlichen und staatlichen Auflösung der hellenischen Nation. Es war nichts Geringes, baß eine mächtige Nation das Land, welches sie sich gewöhnt hatte als ihre Urheimat!) und als das Heiligthum ihrer geistigen und höhere» Interessen zu betrachten, mit ihrem mächtigen Arm plötzlich zur vollen Freiheit führte und jeder Gemeinde die Befreiung von fremder Schätzung und fremder Besatzung und die unbeschränkte Selbstregierung verlieh; blos die Jämmerlich¬ keit sieht hierin nichts als politische Berechnung." Wir sehen vorläufig vom Inhalt ab. Wie kann aber Mommsen, der sonst so geschickt, ja so pointirt das passende Beiwort zu finden weiß, einen angeblichen Mangel des Verständnisses mit moralischen Allgemeinheiten, wie verächtliche Unredlichkeit, elende Sentimentalität und Jämmerlichkeit qualifici- ren! Dies Mal hat in der That der Unwille den Pers gemacht. Hätte Momm¬ sen denselben überwunden, so würde er auch für den innern Widerspruch der Gefühlspolitik und der innern Nothwendigkeit der Dinge einen feinern Aus¬ druck gesunden haben. Er geht statt dessen in seinem Eifer weiter und stellt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/501>, abgerufen am 23.07.2024.