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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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die rechten Mittel anzuwenden wissen, um der musikalischen Darstellung gerecht
zu werden. Lessing, der in der Fortsetzung seines Laokoon auch das Verhält¬
niß der Musik zur Poesie in Betracht ziehen wollte, hat hierüber treffende
Bemerkungen gemacht (Werke XI. S. 133 f.).

Nach allen mit dem Buche der Entführung vorgenommenen Veränderungen
war dasselbe zwar kein ausgezeichneter, aber doch ein im Wesentlichen befrie¬
digender und brauchbarer Operntert geworden, den in der Literatur der deut¬
schen komischen Oper noch jetzt nicht so gar viele übertreffen werden. Die Hand¬
lung ist freilich nicht lebhaft spannend, aber sie hat einen angemessenen Ver¬
lauf und bietet ungezwungen eine Reihe musikalischer Situationen dar, welche
in einem natürlichen Zusammenhang sich entwickeln. Es war wesentlich
Mozarts Verdienst, die Bedeutung dieser Situationen für die musikalische
Darstellung erkannt und durch seinen bestimiuenden Einfluß auf den Dichter
die Anwendung jener großen und bedeutenden musikalischen Formen möglich
gemacht zu haben, welche die Entführung von allen früheren Operetten und
Singspielen charakteristisch unterscheidet. Allerdings wurde die dafür unerlä߬
liche Voraussetzung jetzt zum ersten Mal in Wien durch vorzügliche Sänger und
Sängerinnen erfüllt. Seitdem Hiller die deutsche Oper ins Leben rief, war
die künstlerische Entwicklung derselben durch die unzulänglichen Kräfte des
singenden Personals fortwährend gehemmt worden. Nur die italienische Oper
wurde von den Höfen unterstützt, die deutsche Operette blieb überall den Privat¬
unternehmern überlassen, welche keine Mittel besaßen, Sänger und Sängerinnen
von künstlerischer Ausbildung zu gewinnen, wie es denn auch kein Sänger
von Ruf mit seiner Würde verträglich gehalten hätte, in deutschen Singspielen
aufzutreten. Diese blieben daher in den Händen der Schauspieler, welche
selten auch nur mäßige Stimmmittel, noch seltener mehr als dilettantische Aus¬
bildung hatten, aber gern in Operetten mitwirkten, weil sie dafür besonders
honorirt wurden und auf besonderen Beifall rechnen konnten. Denn fehr bald
verbreitete sich, zuerst in Norddeutschland, und dann von da aus weiter, die
ausgesprochene Vorliebe des Publicums für das Singspiel, deren man nun
eine Menge dichtete und componirte; dazu wurden aus dem Italienischen und
Französischen komische Opern mit Eifer theils zu der beibehaltenen Musik
übersetzt, theils bearbeitet und neu componirt.*) Die leichte Art, mit der diese
Operetten behandelt wurden, forderte den Dilettantismus vielfach heraus, sich



Um eine ungefähre Vorstellung von der Menge der Operetten zu geben, welche jene
Zeit hervorbrachte, kann die Angabe genügen, daß in den Jahren von 1766--->78!> Hiller ->>!,
Reese -IN, Wolf -18, Holly -IZ, Ändrv 22 Operetten componirter; ihnen schloß sich eine ganze
Reihe weniger productiver Componisten an, und dazu kamen noch die zahlreichen Uebersetzungen,
Wie das deutsche Opernrepertoirc jener Zeit beschaffen war, lehrt die Uebersicht der in Berlin
177-1--1787 aufgeführten Operetten, welche L, Schneider, (Gesch. der Oper in Berlin S-SO f.)
mittheilt.

die rechten Mittel anzuwenden wissen, um der musikalischen Darstellung gerecht
zu werden. Lessing, der in der Fortsetzung seines Laokoon auch das Verhält¬
niß der Musik zur Poesie in Betracht ziehen wollte, hat hierüber treffende
Bemerkungen gemacht (Werke XI. S. 133 f.).

Nach allen mit dem Buche der Entführung vorgenommenen Veränderungen
war dasselbe zwar kein ausgezeichneter, aber doch ein im Wesentlichen befrie¬
digender und brauchbarer Operntert geworden, den in der Literatur der deut¬
schen komischen Oper noch jetzt nicht so gar viele übertreffen werden. Die Hand¬
lung ist freilich nicht lebhaft spannend, aber sie hat einen angemessenen Ver¬
lauf und bietet ungezwungen eine Reihe musikalischer Situationen dar, welche
in einem natürlichen Zusammenhang sich entwickeln. Es war wesentlich
Mozarts Verdienst, die Bedeutung dieser Situationen für die musikalische
Darstellung erkannt und durch seinen bestimiuenden Einfluß auf den Dichter
die Anwendung jener großen und bedeutenden musikalischen Formen möglich
gemacht zu haben, welche die Entführung von allen früheren Operetten und
Singspielen charakteristisch unterscheidet. Allerdings wurde die dafür unerlä߬
liche Voraussetzung jetzt zum ersten Mal in Wien durch vorzügliche Sänger und
Sängerinnen erfüllt. Seitdem Hiller die deutsche Oper ins Leben rief, war
die künstlerische Entwicklung derselben durch die unzulänglichen Kräfte des
singenden Personals fortwährend gehemmt worden. Nur die italienische Oper
wurde von den Höfen unterstützt, die deutsche Operette blieb überall den Privat¬
unternehmern überlassen, welche keine Mittel besaßen, Sänger und Sängerinnen
von künstlerischer Ausbildung zu gewinnen, wie es denn auch kein Sänger
von Ruf mit seiner Würde verträglich gehalten hätte, in deutschen Singspielen
aufzutreten. Diese blieben daher in den Händen der Schauspieler, welche
selten auch nur mäßige Stimmmittel, noch seltener mehr als dilettantische Aus¬
bildung hatten, aber gern in Operetten mitwirkten, weil sie dafür besonders
honorirt wurden und auf besonderen Beifall rechnen konnten. Denn fehr bald
verbreitete sich, zuerst in Norddeutschland, und dann von da aus weiter, die
ausgesprochene Vorliebe des Publicums für das Singspiel, deren man nun
eine Menge dichtete und componirte; dazu wurden aus dem Italienischen und
Französischen komische Opern mit Eifer theils zu der beibehaltenen Musik
übersetzt, theils bearbeitet und neu componirt.*) Die leichte Art, mit der diese
Operetten behandelt wurden, forderte den Dilettantismus vielfach heraus, sich



Um eine ungefähre Vorstellung von der Menge der Operetten zu geben, welche jene
Zeit hervorbrachte, kann die Angabe genügen, daß in den Jahren von 1766—->78!> Hiller ->>!,
Reese -IN, Wolf -18, Holly -IZ, Ändrv 22 Operetten componirter; ihnen schloß sich eine ganze
Reihe weniger productiver Componisten an, und dazu kamen noch die zahlreichen Uebersetzungen,
Wie das deutsche Opernrepertoirc jener Zeit beschaffen war, lehrt die Uebersicht der in Berlin
177-1—1787 aufgeführten Operetten, welche L, Schneider, (Gesch. der Oper in Berlin S-SO f.)
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[0494] die rechten Mittel anzuwenden wissen, um der musikalischen Darstellung gerecht zu werden. Lessing, der in der Fortsetzung seines Laokoon auch das Verhält¬ niß der Musik zur Poesie in Betracht ziehen wollte, hat hierüber treffende Bemerkungen gemacht (Werke XI. S. 133 f.). Nach allen mit dem Buche der Entführung vorgenommenen Veränderungen war dasselbe zwar kein ausgezeichneter, aber doch ein im Wesentlichen befrie¬ digender und brauchbarer Operntert geworden, den in der Literatur der deut¬ schen komischen Oper noch jetzt nicht so gar viele übertreffen werden. Die Hand¬ lung ist freilich nicht lebhaft spannend, aber sie hat einen angemessenen Ver¬ lauf und bietet ungezwungen eine Reihe musikalischer Situationen dar, welche in einem natürlichen Zusammenhang sich entwickeln. Es war wesentlich Mozarts Verdienst, die Bedeutung dieser Situationen für die musikalische Darstellung erkannt und durch seinen bestimiuenden Einfluß auf den Dichter die Anwendung jener großen und bedeutenden musikalischen Formen möglich gemacht zu haben, welche die Entführung von allen früheren Operetten und Singspielen charakteristisch unterscheidet. Allerdings wurde die dafür unerlä߬ liche Voraussetzung jetzt zum ersten Mal in Wien durch vorzügliche Sänger und Sängerinnen erfüllt. Seitdem Hiller die deutsche Oper ins Leben rief, war die künstlerische Entwicklung derselben durch die unzulänglichen Kräfte des singenden Personals fortwährend gehemmt worden. Nur die italienische Oper wurde von den Höfen unterstützt, die deutsche Operette blieb überall den Privat¬ unternehmern überlassen, welche keine Mittel besaßen, Sänger und Sängerinnen von künstlerischer Ausbildung zu gewinnen, wie es denn auch kein Sänger von Ruf mit seiner Würde verträglich gehalten hätte, in deutschen Singspielen aufzutreten. Diese blieben daher in den Händen der Schauspieler, welche selten auch nur mäßige Stimmmittel, noch seltener mehr als dilettantische Aus¬ bildung hatten, aber gern in Operetten mitwirkten, weil sie dafür besonders honorirt wurden und auf besonderen Beifall rechnen konnten. Denn fehr bald verbreitete sich, zuerst in Norddeutschland, und dann von da aus weiter, die ausgesprochene Vorliebe des Publicums für das Singspiel, deren man nun eine Menge dichtete und componirte; dazu wurden aus dem Italienischen und Französischen komische Opern mit Eifer theils zu der beibehaltenen Musik übersetzt, theils bearbeitet und neu componirt.*) Die leichte Art, mit der diese Operetten behandelt wurden, forderte den Dilettantismus vielfach heraus, sich Um eine ungefähre Vorstellung von der Menge der Operetten zu geben, welche jene Zeit hervorbrachte, kann die Angabe genügen, daß in den Jahren von 1766—->78!> Hiller ->>!, Reese -IN, Wolf -18, Holly -IZ, Ändrv 22 Operetten componirter; ihnen schloß sich eine ganze Reihe weniger productiver Componisten an, und dazu kamen noch die zahlreichen Uebersetzungen, Wie das deutsche Opernrepertoirc jener Zeit beschaffen war, lehrt die Uebersicht der in Berlin 177-1—1787 aufgeführten Operetten, welche L, Schneider, (Gesch. der Oper in Berlin S-SO f.) mittheilt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/494>, abgerufen am 23.07.2024.