Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.lieber alle gemeinsamen Feldarbeiten und Vergnügungen belebend begleitete, ist So wie hinsichtlich des Schulwesens, zeigt sich auch im kirchlichen Leben in lieber alle gemeinsamen Feldarbeiten und Vergnügungen belebend begleitete, ist So wie hinsichtlich des Schulwesens, zeigt sich auch im kirchlichen Leben in <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0478" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103611"/> <p xml:id="ID_1635" prev="#ID_1634"> lieber alle gemeinsamen Feldarbeiten und Vergnügungen belebend begleitete, ist<lb/> er jetzt bei den Arbeiten nur noch selten zu vernehmen, ja in manchen Districten<lb/> bereits gänzlich verschollen. Während früher die von Deutschen verfaßten<lb/> meist geistlichen Lieder ohne Einfluß auf die eigne dichterische Schöpfung deS<lb/> Volkes geblieben sind, zeigen jetzt einzelne Versuche der Esthen und noch mehr<lb/> der Letten das Bestreben, die Art und Weise der deutschen Dichtungen nach¬<lb/> zubilden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1636" next="#ID_1637"> So wie hinsichtlich des Schulwesens, zeigt sich auch im kirchlichen Leben in<lb/> neuerer Zeit der segensreiche Einfluß der Prediger. Esthen und Letten haben<lb/> zu ihrem Seelsorger mehr Zutrauen als zu ihrem Herrn, überhaupt zu jedem<lb/> andern Deutschen; ihn wählen sie zum Schiedsrichter in Familienzwisten;<lb/> bei ihm holen sie sich Rath gegen Ungerechtigkeiten; ihn bitten sie um Arznei¬<lb/> mittel, wenn ihn' Dorfquacksalber nicht mehr helfen können. Unendliche Ge¬<lb/> duld gehört dazu, bei den geringen Rechtsbegriffen der Männer den Friedens¬<lb/> richter zu spielen und den unabreißbaren, accentloS dahinfließenden Redestrom<lb/> der Weiber anzuhören; aber die Prediger thun es gern und würden zu noch<lb/> größerm Einfluß gelangen, wenn nicht durch ihre halb feindliche Stellung zu<lb/> den in den Ostseeprovinzen seit 476i privilegirten und zu einer großen Aus¬<lb/> dehnung gelangten Herrnhutergemeindcn ihre Wirksamkeit zum Theil paralysirt<lb/> würde. — Die Kirchen werden im Verhältniß zu der ungeheuern Ausdehnung<lb/> der Parochien sehr zahlreich besucht, und eS ist interessant, an Sonn- und<lb/> Festtagen das kirchliche Leben zu beobachten. Schon am frühesten Morgen<lb/> sind die Wege mit Fußgängern, unter denen sich die Weiber durch die als<lb/> Soniitagsputz über den Kopf geschlagenen weißen Tücher auszeichnen, bedeckt,<lb/> und oft begegnet man alten Mütterchen, die am Wege keuchend ausruhen<lb/> und sich doch noch zum Ziele ihrer Andacht schleppen. Dann kommen die<lb/> jungen Bursche auf muntern Pferdchen und die Ehepaare, auf dem kurzen,<lb/> niedrigen Leiterwagen «Zc>s-a-6c>5 sitzend; mitunter steht man auch einen zwei-<lb/> spännigen Wagen, dessen Lenker, mit weißer Binde umgürtet, den roh ge¬<lb/> zimmerten, unangestrichenen Sarg ohne Gefolge zur Kirche fährt. — Wie wür¬<lb/> den sich die Esthen wundern, wenn sie wüßten, was Kohl von ihnen erzählt:<lb/> daß sie ihre Todten noch im Walde zu verscharren pflegen!). Um den Kirchen¬<lb/> krug und die Kirche entsteht nun eine förmliche Wagenburg, und während die<lb/> Männer mit den Pferden beschäftigt sind, machen die Weiber vor der Kirche<lb/> ihre Toilette. Für die zweckmäßigere Einrichtung der meist uralten' Kirchen<lb/> ist auch viel geschehen; es ist den Predigern fast allenthalben gelungen, Or¬<lb/> geln für ihre Kirchen zu erwerben, und der Gemeindegesang ist jetzt stark und<lb/> wohlklingend, während noch Schlegel berichtet: „Der Gesang in der Kirche<lb/> ist gewöhnlich so erbärmlich, daß jemand, der ihn nicht selbst gehört hat, sich<lb/> keine Vorstellung davon machen kann. Da ist keine Orgel, die ihm etwas</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0478]
lieber alle gemeinsamen Feldarbeiten und Vergnügungen belebend begleitete, ist
er jetzt bei den Arbeiten nur noch selten zu vernehmen, ja in manchen Districten
bereits gänzlich verschollen. Während früher die von Deutschen verfaßten
meist geistlichen Lieder ohne Einfluß auf die eigne dichterische Schöpfung deS
Volkes geblieben sind, zeigen jetzt einzelne Versuche der Esthen und noch mehr
der Letten das Bestreben, die Art und Weise der deutschen Dichtungen nach¬
zubilden.
So wie hinsichtlich des Schulwesens, zeigt sich auch im kirchlichen Leben in
neuerer Zeit der segensreiche Einfluß der Prediger. Esthen und Letten haben
zu ihrem Seelsorger mehr Zutrauen als zu ihrem Herrn, überhaupt zu jedem
andern Deutschen; ihn wählen sie zum Schiedsrichter in Familienzwisten;
bei ihm holen sie sich Rath gegen Ungerechtigkeiten; ihn bitten sie um Arznei¬
mittel, wenn ihn' Dorfquacksalber nicht mehr helfen können. Unendliche Ge¬
duld gehört dazu, bei den geringen Rechtsbegriffen der Männer den Friedens¬
richter zu spielen und den unabreißbaren, accentloS dahinfließenden Redestrom
der Weiber anzuhören; aber die Prediger thun es gern und würden zu noch
größerm Einfluß gelangen, wenn nicht durch ihre halb feindliche Stellung zu
den in den Ostseeprovinzen seit 476i privilegirten und zu einer großen Aus¬
dehnung gelangten Herrnhutergemeindcn ihre Wirksamkeit zum Theil paralysirt
würde. — Die Kirchen werden im Verhältniß zu der ungeheuern Ausdehnung
der Parochien sehr zahlreich besucht, und eS ist interessant, an Sonn- und
Festtagen das kirchliche Leben zu beobachten. Schon am frühesten Morgen
sind die Wege mit Fußgängern, unter denen sich die Weiber durch die als
Soniitagsputz über den Kopf geschlagenen weißen Tücher auszeichnen, bedeckt,
und oft begegnet man alten Mütterchen, die am Wege keuchend ausruhen
und sich doch noch zum Ziele ihrer Andacht schleppen. Dann kommen die
jungen Bursche auf muntern Pferdchen und die Ehepaare, auf dem kurzen,
niedrigen Leiterwagen «Zc>s-a-6c>5 sitzend; mitunter steht man auch einen zwei-
spännigen Wagen, dessen Lenker, mit weißer Binde umgürtet, den roh ge¬
zimmerten, unangestrichenen Sarg ohne Gefolge zur Kirche fährt. — Wie wür¬
den sich die Esthen wundern, wenn sie wüßten, was Kohl von ihnen erzählt:
daß sie ihre Todten noch im Walde zu verscharren pflegen!). Um den Kirchen¬
krug und die Kirche entsteht nun eine förmliche Wagenburg, und während die
Männer mit den Pferden beschäftigt sind, machen die Weiber vor der Kirche
ihre Toilette. Für die zweckmäßigere Einrichtung der meist uralten' Kirchen
ist auch viel geschehen; es ist den Predigern fast allenthalben gelungen, Or¬
geln für ihre Kirchen zu erwerben, und der Gemeindegesang ist jetzt stark und
wohlklingend, während noch Schlegel berichtet: „Der Gesang in der Kirche
ist gewöhnlich so erbärmlich, daß jemand, der ihn nicht selbst gehört hat, sich
keine Vorstellung davon machen kann. Da ist keine Orgel, die ihm etwas
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