Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wieder eingeschlafen sein; denn als v. Schlegel (Reisen in mehre russische
Gouvernements. 1839--Ä3, 10 Bündchen. Meiningen) im Jahr 1807
dort lebte, gab es weder Seminare noch Gebietsschulen. Auch der von
Anlegung der Parochial- und GebietSschulen handelnde Paragraph der Bau¬
verordnung von 1816 blieb unausgeführt. Indeß begann von dieser Zeit
Livland im Volksschulwesen Esthland zu überflügeln, und obgleich der esth-
ländische Adel 1813 einen starken Anlauf zu Verbesserungen nahm, ein Schulgesetz
acceptirte und schon theilweise durchzuführen begann, so war die unglückliche Ernte
des nächsten Jahres doch hinreichend, den ganzen Enthusiasmus über den Hau¬
fen zu werfen. Was nun seitdem geschehen ist, muß den Bestrebungen der Geist¬
lichen zugerechnet werden, deren streng kirchliche Richtung und redlicher Eifer
sich im Wirken für das Landvolk reichlich bethätigt hat. So sind fast in allen
Kirchspielen auch Esthlands Schulen entstanden. Freilich ist die Bildung der
Lehrer eben nicht größer, als die Schulmeisterweisheit der früher bei uns den
Unterricht versehenden Hirten; dann unterliegt der Besuch der Schule keinem
gesetzlichen Zwang und hängt ganz von dem Eifer oder der Lauigkeit der
Herren ab, und diese ist manchmal so überwiegend, daß der Lehrer seines
Amts enthoben und unter die Dienerschaft oder in ein Wirthschaftsamt ver¬
setzt wird! -- und endlich müssen die armen Bauern den Schulmeister unter¬
halten, während nach dem projectirten Schulgesetz der Gutsherr für dessen
Subsistenz zu sorgen hatte. -- Das Lesen lernen die Kinder meist von den
Müttern, und zwar nicht durch Buchstabiren, sondern durch nachsprechen gan¬
zer Sätze. An guten Volksschriftcn ist größer Mangel und in Esthland sind
alle vorhandenen, selbst die Kalender ans Erbauung berechnet; eine Unzahl
Tractätchen werden auf dem Lande colportirt, und Versuche, wie die des esth-
lctndischen Grafen von Manteufcl, welcher Geschichten aus'dem Volksleben
herausgab, scheiterten an dem pietistischen AbscheU deS Volks vor aller welt¬
lichen Lectüre. In Lettland steht es in dieser Beziehung etwas besser; die
"lettische Zeitung" wird viel gelesen, und selbst Versuche, deutsche classische
Gedichte zu übersetzen und einzubürgern, sind nicht ganz fehlgeschlagen. Auch
in Esthland erscheint in neuerer Zeit eine esthnische Zeitschrift mit Holzschnitten
unter dem Titel Ma-ita d. h. "die Welt", Auszüge aus deutschen Pfennig¬
magazinen enthaltend, und findet trotz der ungeschickten Auswahl der Artikel
viele Leser. Endlich entstanden während des letzten Krieges mehre Flugschriften
>N esthn'scher und keltischer Sprache, welche in Prosa und Versen Berichte
über den Krieg veröffentlichten, die russischen Waffen verherrlichten und den
Haß gegen die Feinde auch von der religiösen Seite zu fördern bemüht waren.
Sehr zu bedauern ist, daß, besonders bei den Esthen, die eigentliche Volkspoesie
gegenwärtig ihrem Untergänge mehr und mehr entgegenzugehen scheint. Wäh¬
rend noch zu Anfange dieses Jahrhunderts der eintönige Gesang der Volks-


wieder eingeschlafen sein; denn als v. Schlegel (Reisen in mehre russische
Gouvernements. 1839—Ä3, 10 Bündchen. Meiningen) im Jahr 1807
dort lebte, gab es weder Seminare noch Gebietsschulen. Auch der von
Anlegung der Parochial- und GebietSschulen handelnde Paragraph der Bau¬
verordnung von 1816 blieb unausgeführt. Indeß begann von dieser Zeit
Livland im Volksschulwesen Esthland zu überflügeln, und obgleich der esth-
ländische Adel 1813 einen starken Anlauf zu Verbesserungen nahm, ein Schulgesetz
acceptirte und schon theilweise durchzuführen begann, so war die unglückliche Ernte
des nächsten Jahres doch hinreichend, den ganzen Enthusiasmus über den Hau¬
fen zu werfen. Was nun seitdem geschehen ist, muß den Bestrebungen der Geist¬
lichen zugerechnet werden, deren streng kirchliche Richtung und redlicher Eifer
sich im Wirken für das Landvolk reichlich bethätigt hat. So sind fast in allen
Kirchspielen auch Esthlands Schulen entstanden. Freilich ist die Bildung der
Lehrer eben nicht größer, als die Schulmeisterweisheit der früher bei uns den
Unterricht versehenden Hirten; dann unterliegt der Besuch der Schule keinem
gesetzlichen Zwang und hängt ganz von dem Eifer oder der Lauigkeit der
Herren ab, und diese ist manchmal so überwiegend, daß der Lehrer seines
Amts enthoben und unter die Dienerschaft oder in ein Wirthschaftsamt ver¬
setzt wird! — und endlich müssen die armen Bauern den Schulmeister unter¬
halten, während nach dem projectirten Schulgesetz der Gutsherr für dessen
Subsistenz zu sorgen hatte. — Das Lesen lernen die Kinder meist von den
Müttern, und zwar nicht durch Buchstabiren, sondern durch nachsprechen gan¬
zer Sätze. An guten Volksschriftcn ist größer Mangel und in Esthland sind
alle vorhandenen, selbst die Kalender ans Erbauung berechnet; eine Unzahl
Tractätchen werden auf dem Lande colportirt, und Versuche, wie die des esth-
lctndischen Grafen von Manteufcl, welcher Geschichten aus'dem Volksleben
herausgab, scheiterten an dem pietistischen AbscheU deS Volks vor aller welt¬
lichen Lectüre. In Lettland steht es in dieser Beziehung etwas besser; die
„lettische Zeitung" wird viel gelesen, und selbst Versuche, deutsche classische
Gedichte zu übersetzen und einzubürgern, sind nicht ganz fehlgeschlagen. Auch
in Esthland erscheint in neuerer Zeit eine esthnische Zeitschrift mit Holzschnitten
unter dem Titel Ma-ita d. h. „die Welt", Auszüge aus deutschen Pfennig¬
magazinen enthaltend, und findet trotz der ungeschickten Auswahl der Artikel
viele Leser. Endlich entstanden während des letzten Krieges mehre Flugschriften
>N esthn'scher und keltischer Sprache, welche in Prosa und Versen Berichte
über den Krieg veröffentlichten, die russischen Waffen verherrlichten und den
Haß gegen die Feinde auch von der religiösen Seite zu fördern bemüht waren.
Sehr zu bedauern ist, daß, besonders bei den Esthen, die eigentliche Volkspoesie
gegenwärtig ihrem Untergänge mehr und mehr entgegenzugehen scheint. Wäh¬
rend noch zu Anfange dieses Jahrhunderts der eintönige Gesang der Volks-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0477" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103610"/>
            <p xml:id="ID_1634" prev="#ID_1633" next="#ID_1635"> wieder eingeschlafen sein; denn als v. Schlegel (Reisen in mehre russische<lb/>
Gouvernements.  1839&#x2014;Ä3,  10 Bündchen.  Meiningen) im Jahr 1807<lb/>
dort lebte, gab es weder Seminare noch Gebietsschulen.  Auch der von<lb/>
Anlegung der Parochial- und GebietSschulen handelnde Paragraph der Bau¬<lb/>
verordnung von 1816 blieb unausgeführt.  Indeß begann von dieser Zeit<lb/>
Livland im Volksschulwesen Esthland zu überflügeln, und obgleich der esth-<lb/>
ländische Adel 1813 einen starken Anlauf zu Verbesserungen nahm, ein Schulgesetz<lb/>
acceptirte und schon theilweise durchzuführen begann, so war die unglückliche Ernte<lb/>
des nächsten Jahres doch hinreichend, den ganzen Enthusiasmus über den Hau¬<lb/>
fen zu werfen. Was nun seitdem geschehen ist, muß den Bestrebungen der Geist¬<lb/>
lichen zugerechnet werden, deren streng kirchliche Richtung und redlicher Eifer<lb/>
sich im Wirken für das Landvolk reichlich bethätigt hat.  So sind fast in allen<lb/>
Kirchspielen auch Esthlands Schulen entstanden.  Freilich ist die Bildung der<lb/>
Lehrer eben nicht größer, als die Schulmeisterweisheit der früher bei uns den<lb/>
Unterricht versehenden Hirten; dann unterliegt der Besuch der Schule keinem<lb/>
gesetzlichen Zwang und hängt ganz von dem Eifer oder der Lauigkeit der<lb/>
Herren ab, und diese ist manchmal so überwiegend, daß der Lehrer seines<lb/>
Amts enthoben und unter die Dienerschaft oder in ein Wirthschaftsamt ver¬<lb/>
setzt wird! &#x2014; und endlich müssen die armen Bauern den Schulmeister unter¬<lb/>
halten, während nach dem projectirten Schulgesetz der Gutsherr für dessen<lb/>
Subsistenz zu sorgen hatte. &#x2014; Das Lesen lernen die Kinder meist von den<lb/>
Müttern, und zwar nicht durch Buchstabiren, sondern durch nachsprechen gan¬<lb/>
zer Sätze.  An guten Volksschriftcn ist größer Mangel und in Esthland sind<lb/>
alle vorhandenen, selbst die Kalender ans Erbauung berechnet; eine Unzahl<lb/>
Tractätchen werden auf dem Lande colportirt, und Versuche, wie die des esth-<lb/>
lctndischen Grafen von Manteufcl, welcher Geschichten aus'dem Volksleben<lb/>
herausgab, scheiterten an dem pietistischen AbscheU deS Volks vor aller welt¬<lb/>
lichen Lectüre.  In Lettland steht es in dieser Beziehung etwas besser; die<lb/>
&#x201E;lettische Zeitung" wird viel gelesen, und selbst Versuche, deutsche classische<lb/>
Gedichte zu übersetzen und einzubürgern, sind nicht ganz fehlgeschlagen. Auch<lb/>
in Esthland erscheint in neuerer Zeit eine esthnische Zeitschrift mit Holzschnitten<lb/>
unter dem Titel Ma-ita d. h. &#x201E;die Welt", Auszüge aus deutschen Pfennig¬<lb/>
magazinen enthaltend, und findet trotz der ungeschickten Auswahl der Artikel<lb/>
viele Leser.  Endlich entstanden während des letzten Krieges mehre Flugschriften<lb/>
&gt;N esthn'scher und keltischer Sprache, welche in Prosa und Versen Berichte<lb/>
über den Krieg veröffentlichten, die russischen Waffen verherrlichten und den<lb/>
Haß gegen die Feinde auch von der religiösen Seite zu fördern bemüht waren.<lb/>
Sehr zu bedauern ist, daß, besonders bei den Esthen, die eigentliche Volkspoesie<lb/>
gegenwärtig ihrem Untergänge mehr und mehr entgegenzugehen scheint. Wäh¬<lb/>
rend noch zu Anfange dieses Jahrhunderts der eintönige Gesang der Volks-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0477] wieder eingeschlafen sein; denn als v. Schlegel (Reisen in mehre russische Gouvernements. 1839—Ä3, 10 Bündchen. Meiningen) im Jahr 1807 dort lebte, gab es weder Seminare noch Gebietsschulen. Auch der von Anlegung der Parochial- und GebietSschulen handelnde Paragraph der Bau¬ verordnung von 1816 blieb unausgeführt. Indeß begann von dieser Zeit Livland im Volksschulwesen Esthland zu überflügeln, und obgleich der esth- ländische Adel 1813 einen starken Anlauf zu Verbesserungen nahm, ein Schulgesetz acceptirte und schon theilweise durchzuführen begann, so war die unglückliche Ernte des nächsten Jahres doch hinreichend, den ganzen Enthusiasmus über den Hau¬ fen zu werfen. Was nun seitdem geschehen ist, muß den Bestrebungen der Geist¬ lichen zugerechnet werden, deren streng kirchliche Richtung und redlicher Eifer sich im Wirken für das Landvolk reichlich bethätigt hat. So sind fast in allen Kirchspielen auch Esthlands Schulen entstanden. Freilich ist die Bildung der Lehrer eben nicht größer, als die Schulmeisterweisheit der früher bei uns den Unterricht versehenden Hirten; dann unterliegt der Besuch der Schule keinem gesetzlichen Zwang und hängt ganz von dem Eifer oder der Lauigkeit der Herren ab, und diese ist manchmal so überwiegend, daß der Lehrer seines Amts enthoben und unter die Dienerschaft oder in ein Wirthschaftsamt ver¬ setzt wird! — und endlich müssen die armen Bauern den Schulmeister unter¬ halten, während nach dem projectirten Schulgesetz der Gutsherr für dessen Subsistenz zu sorgen hatte. — Das Lesen lernen die Kinder meist von den Müttern, und zwar nicht durch Buchstabiren, sondern durch nachsprechen gan¬ zer Sätze. An guten Volksschriftcn ist größer Mangel und in Esthland sind alle vorhandenen, selbst die Kalender ans Erbauung berechnet; eine Unzahl Tractätchen werden auf dem Lande colportirt, und Versuche, wie die des esth- lctndischen Grafen von Manteufcl, welcher Geschichten aus'dem Volksleben herausgab, scheiterten an dem pietistischen AbscheU deS Volks vor aller welt¬ lichen Lectüre. In Lettland steht es in dieser Beziehung etwas besser; die „lettische Zeitung" wird viel gelesen, und selbst Versuche, deutsche classische Gedichte zu übersetzen und einzubürgern, sind nicht ganz fehlgeschlagen. Auch in Esthland erscheint in neuerer Zeit eine esthnische Zeitschrift mit Holzschnitten unter dem Titel Ma-ita d. h. „die Welt", Auszüge aus deutschen Pfennig¬ magazinen enthaltend, und findet trotz der ungeschickten Auswahl der Artikel viele Leser. Endlich entstanden während des letzten Krieges mehre Flugschriften >N esthn'scher und keltischer Sprache, welche in Prosa und Versen Berichte über den Krieg veröffentlichten, die russischen Waffen verherrlichten und den Haß gegen die Feinde auch von der religiösen Seite zu fördern bemüht waren. Sehr zu bedauern ist, daß, besonders bei den Esthen, die eigentliche Volkspoesie gegenwärtig ihrem Untergänge mehr und mehr entgegenzugehen scheint. Wäh¬ rend noch zu Anfange dieses Jahrhunderts der eintönige Gesang der Volks-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/477
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/477>, abgerufen am 23.07.2024.