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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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die Verbesserungen in Lebensweise, Sitte und Gebräuchen in keinem Ver¬
hältnisse zur Dauer der deutschen Herrschaft.

Schon als die Deutschen das Land betraten, war die Grenze zwischen
Esthen und Letten die heutige: eine Linie von Werro im Osten über Wall
bis Salisburg an der Ostsee, etwas unter dem 68sten Breitengrade. In
älteren Zeiten dehnten sich die Wohnsitze der Esthen weiter nach Süden aus
und grenzten vielleicht an das gothische Reich, bis ste durch Einwanderung
der lettischen Stämme weiter hinausgedrängt wurden. Von diesem uralten
Kampfe schreibt sich der bittere Nationalhaß zwischen Esthen und Letten her,
der den deutschen Rittern die Eroberung Esthlands bedeutend erleichterte, der
noch heute wie ein schneidendes Schwert an der Sprachgrenze (die Gouverne-
mentögrenze liegt nördlicher) die beiden Völker trennt und oft blutige Rau¬
fereien herbeiführt. Von dem Charakter beider Nationen müssen wir
zugestehen, daß er sich nicht verbessert, sondern verschlechtert hat; es ist dies
eine im voraus anzunehmende Folge der langjährigen Unterdrückung. Der
jähe Widerstand, den sie den Eroberern entgegensetzten, ihre kühnen See¬
räuberzüge, die sich tief in die Ostsee hinein erstreckten, stechen gewaltig ab
gegen die an Feigheit grenzende Zahmheit, gegen die Geduld und Resignation
ihrer Nachkommen; und wer mag sich wundern, daß Falschheit und Tücke,
wenn auch nicht in übergroßem Maße, bei einem seit Jahrhunderten unter¬
jochten Volke sich ausgebildet haben? Wenn also hier ein Rückschritt unleugbar
ist, so läßt sich hinsichtlich des physischen Zustandes eine Abnahme der Kraft
wol schwerer nachweisen. Allerdings sind die Körperkräfte der Esthen bei ihren
nicht unter die mittlere Höhe herabsinkenden, im Westen sogar dieselbe über¬
steigenden Statur im Allgemeinen den Russen und Deutschen nicht gewachsen;
aber grade der Umstand, daß die in gleichen Verhältnissen lebenden Letten
eine größere körperliche Energie zeigen, beweist, daß dem finnischen Stamme
wol von je eine geringere Sehnen- und Muskelstärke ingewohnt hat. Doch
haben beide Völker im Laufe der Zeit eine bedeutende Menge Culturkrankheiten
von ihren Herren mit überkommen, von denen viele -- besonders Scharlach
und Masern -- bei der großen Entfernung der Aerzte, bei der völligen Un¬
kenntnis; der Bauern, bei der luftigen Beschaffenheit der Hütten, das Wachs¬
thum der ohnehin spärlichen Bevölkerung hemmen, ja oft wie im Jahre I8i7
ein Deficit von Tausenden bewirken.

Werfen wir einen Blick auf die Wohnungen, so reicht wenig Phan¬
tasie zur Firirung eines richtigen Bildes hin. Man denke sich ein niedriges
Blockhaus, mit Stroh gedeckt, ohne Schornstein, aber kleiner Fensterchen
nicht ganz entbehrend. Schreitet man durch die kleine Thür ins Innere,
so steht man auf einem Lehmestrich und erblickt im günstigen Falle vier kahle,
unbewvrfene, schwarze Wände, mit roh gezimmerten Bänke" und Schlafstellen


die Verbesserungen in Lebensweise, Sitte und Gebräuchen in keinem Ver¬
hältnisse zur Dauer der deutschen Herrschaft.

Schon als die Deutschen das Land betraten, war die Grenze zwischen
Esthen und Letten die heutige: eine Linie von Werro im Osten über Wall
bis Salisburg an der Ostsee, etwas unter dem 68sten Breitengrade. In
älteren Zeiten dehnten sich die Wohnsitze der Esthen weiter nach Süden aus
und grenzten vielleicht an das gothische Reich, bis ste durch Einwanderung
der lettischen Stämme weiter hinausgedrängt wurden. Von diesem uralten
Kampfe schreibt sich der bittere Nationalhaß zwischen Esthen und Letten her,
der den deutschen Rittern die Eroberung Esthlands bedeutend erleichterte, der
noch heute wie ein schneidendes Schwert an der Sprachgrenze (die Gouverne-
mentögrenze liegt nördlicher) die beiden Völker trennt und oft blutige Rau¬
fereien herbeiführt. Von dem Charakter beider Nationen müssen wir
zugestehen, daß er sich nicht verbessert, sondern verschlechtert hat; es ist dies
eine im voraus anzunehmende Folge der langjährigen Unterdrückung. Der
jähe Widerstand, den sie den Eroberern entgegensetzten, ihre kühnen See¬
räuberzüge, die sich tief in die Ostsee hinein erstreckten, stechen gewaltig ab
gegen die an Feigheit grenzende Zahmheit, gegen die Geduld und Resignation
ihrer Nachkommen; und wer mag sich wundern, daß Falschheit und Tücke,
wenn auch nicht in übergroßem Maße, bei einem seit Jahrhunderten unter¬
jochten Volke sich ausgebildet haben? Wenn also hier ein Rückschritt unleugbar
ist, so läßt sich hinsichtlich des physischen Zustandes eine Abnahme der Kraft
wol schwerer nachweisen. Allerdings sind die Körperkräfte der Esthen bei ihren
nicht unter die mittlere Höhe herabsinkenden, im Westen sogar dieselbe über¬
steigenden Statur im Allgemeinen den Russen und Deutschen nicht gewachsen;
aber grade der Umstand, daß die in gleichen Verhältnissen lebenden Letten
eine größere körperliche Energie zeigen, beweist, daß dem finnischen Stamme
wol von je eine geringere Sehnen- und Muskelstärke ingewohnt hat. Doch
haben beide Völker im Laufe der Zeit eine bedeutende Menge Culturkrankheiten
von ihren Herren mit überkommen, von denen viele — besonders Scharlach
und Masern — bei der großen Entfernung der Aerzte, bei der völligen Un¬
kenntnis; der Bauern, bei der luftigen Beschaffenheit der Hütten, das Wachs¬
thum der ohnehin spärlichen Bevölkerung hemmen, ja oft wie im Jahre I8i7
ein Deficit von Tausenden bewirken.

Werfen wir einen Blick auf die Wohnungen, so reicht wenig Phan¬
tasie zur Firirung eines richtigen Bildes hin. Man denke sich ein niedriges
Blockhaus, mit Stroh gedeckt, ohne Schornstein, aber kleiner Fensterchen
nicht ganz entbehrend. Schreitet man durch die kleine Thür ins Innere,
so steht man auf einem Lehmestrich und erblickt im günstigen Falle vier kahle,
unbewvrfene, schwarze Wände, mit roh gezimmerten Bänke» und Schlafstellen


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[0472] die Verbesserungen in Lebensweise, Sitte und Gebräuchen in keinem Ver¬ hältnisse zur Dauer der deutschen Herrschaft. Schon als die Deutschen das Land betraten, war die Grenze zwischen Esthen und Letten die heutige: eine Linie von Werro im Osten über Wall bis Salisburg an der Ostsee, etwas unter dem 68sten Breitengrade. In älteren Zeiten dehnten sich die Wohnsitze der Esthen weiter nach Süden aus und grenzten vielleicht an das gothische Reich, bis ste durch Einwanderung der lettischen Stämme weiter hinausgedrängt wurden. Von diesem uralten Kampfe schreibt sich der bittere Nationalhaß zwischen Esthen und Letten her, der den deutschen Rittern die Eroberung Esthlands bedeutend erleichterte, der noch heute wie ein schneidendes Schwert an der Sprachgrenze (die Gouverne- mentögrenze liegt nördlicher) die beiden Völker trennt und oft blutige Rau¬ fereien herbeiführt. Von dem Charakter beider Nationen müssen wir zugestehen, daß er sich nicht verbessert, sondern verschlechtert hat; es ist dies eine im voraus anzunehmende Folge der langjährigen Unterdrückung. Der jähe Widerstand, den sie den Eroberern entgegensetzten, ihre kühnen See¬ räuberzüge, die sich tief in die Ostsee hinein erstreckten, stechen gewaltig ab gegen die an Feigheit grenzende Zahmheit, gegen die Geduld und Resignation ihrer Nachkommen; und wer mag sich wundern, daß Falschheit und Tücke, wenn auch nicht in übergroßem Maße, bei einem seit Jahrhunderten unter¬ jochten Volke sich ausgebildet haben? Wenn also hier ein Rückschritt unleugbar ist, so läßt sich hinsichtlich des physischen Zustandes eine Abnahme der Kraft wol schwerer nachweisen. Allerdings sind die Körperkräfte der Esthen bei ihren nicht unter die mittlere Höhe herabsinkenden, im Westen sogar dieselbe über¬ steigenden Statur im Allgemeinen den Russen und Deutschen nicht gewachsen; aber grade der Umstand, daß die in gleichen Verhältnissen lebenden Letten eine größere körperliche Energie zeigen, beweist, daß dem finnischen Stamme wol von je eine geringere Sehnen- und Muskelstärke ingewohnt hat. Doch haben beide Völker im Laufe der Zeit eine bedeutende Menge Culturkrankheiten von ihren Herren mit überkommen, von denen viele — besonders Scharlach und Masern — bei der großen Entfernung der Aerzte, bei der völligen Un¬ kenntnis; der Bauern, bei der luftigen Beschaffenheit der Hütten, das Wachs¬ thum der ohnehin spärlichen Bevölkerung hemmen, ja oft wie im Jahre I8i7 ein Deficit von Tausenden bewirken. Werfen wir einen Blick auf die Wohnungen, so reicht wenig Phan¬ tasie zur Firirung eines richtigen Bildes hin. Man denke sich ein niedriges Blockhaus, mit Stroh gedeckt, ohne Schornstein, aber kleiner Fensterchen nicht ganz entbehrend. Schreitet man durch die kleine Thür ins Innere, so steht man auf einem Lehmestrich und erblickt im günstigen Falle vier kahle, unbewvrfene, schwarze Wände, mit roh gezimmerten Bänke» und Schlafstellen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/472>, abgerufen am 23.07.2024.