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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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daß die erobernden deutschen Ritter und deren Nachkommen den Eingeborenen
Sprache und Sitten ließen, ohne sie zu germanistren; allein, geht man der
Sache näher auf den Grund, so war eigentlich weiter nichts als stolze Ver¬
achtung und geflissentliches Fernhalten das Motiv der Herren und die
oberflächliche Christianisirung nur der schwache Deckmantel ihrer Eroberungs¬
sucht. Weniger Blut ist vielleicht durch diese Schonung vergossen worden
und der finnische Stamm erfreut sich noch heute des esthnischen Zweiges;
kann aber dies in Betracht kommen gegen die daraus entstandenen Nachtheile?
-- Den finnischen Völkerschaften im Nordosten und Norden des russischen
Reiches steht allen dasselbe Schicksal bevor: sie werden über kurz und lang
vom russischen Elemente in Sprache und Sitte verschlungen werden und der
scheinbare Aufschwung der Finnen im Großfürstenthume ist eine künstliche
Pflanze, empovgetrieben durch die Klugheit der jetzigen schwedischen Herrn, die
gegen drohende, äußere Einflüsse einen Halt im Volke suchen und sich der
Sprache desselben accommodiren, weil es zu spät ist, das Umgekehrte mit Gewalt
durchzusetzen. Die Finnen und Letten werden einst, wie alle kleinen Raecnvölker
verschwinden und in dem siegenden Culturvolke ausgehen müssen; und wäre dies
in den Ostseeprovinzen schon längst geschehen, so wäre der Gewinn für beide
Theile erklecklich. Wenn heute noch der Bauer dem Herrn als Fremder, ja
als Feind gegenübersteht, wenn trotz der Einheit der Kirche ein kirchliches
Gcsammtbewußtsein von Seiten der Landbewohner fehlt, wenn endlich die
Stufe der materiellen Civilisation , besonders bei den Esthen, noch beinahe
dieselbe ist, wie vor 400 Jahren, so könnte statt dessen nach dem Beispiele
der entnationalisirten Wenden, Sorben und Borussen in Deutschland, auch
dort ein deutscher Bauernstand dem Edelmann? und Städter als Stütze nach
außen dienen, so würde die lutherische Kirche vor dem schmählichen Abfalle
vieler tausend Bekenner bewahrt geblieben sein, so wären endlich jene beiden
Völker der Culturstufe ihrer Herren näher gekommen und hätten jedenfalls
einen bessern Tausch gemacht, als ihnen in der Zukunft bevorsteht. In Livland
hat man dies endlich einsehen gelernt und läßt in den Volksschulen eifrig
deutschen Unterricht ertheilen; es ist aber theils zu spät aus polnischen Gründen,
theils zu falschen Resultaten führend, weil der Leite und noch mehr der Esthe,
sobald er der Sprache seiner Herren mächtig geworden ist, über seinen ärm¬
lichen Stand hinaufstrebt, in den Städten als Handwerker anzukommen sucht,
und wenn es ihm glückt, schon in der zweiten Generation stolz seine Herkunft
verleugnet. -- Sieht man nun von dieser Versäumniß und Verspätung der
Germanisirungöversuche ab, so würde man dennoch Unrecht thun, wenn man
jeden Einfluß der deutschen Cultur auf die nationalen der russischen Ostsee¬
länder in Abrede stellen wollte. Freilich treten die Spuren desselben fast nur
auf der Seite des intellectuellen Fortschritts deutlich hervor; wenigstens stehen


daß die erobernden deutschen Ritter und deren Nachkommen den Eingeborenen
Sprache und Sitten ließen, ohne sie zu germanistren; allein, geht man der
Sache näher auf den Grund, so war eigentlich weiter nichts als stolze Ver¬
achtung und geflissentliches Fernhalten das Motiv der Herren und die
oberflächliche Christianisirung nur der schwache Deckmantel ihrer Eroberungs¬
sucht. Weniger Blut ist vielleicht durch diese Schonung vergossen worden
und der finnische Stamm erfreut sich noch heute des esthnischen Zweiges;
kann aber dies in Betracht kommen gegen die daraus entstandenen Nachtheile?
— Den finnischen Völkerschaften im Nordosten und Norden des russischen
Reiches steht allen dasselbe Schicksal bevor: sie werden über kurz und lang
vom russischen Elemente in Sprache und Sitte verschlungen werden und der
scheinbare Aufschwung der Finnen im Großfürstenthume ist eine künstliche
Pflanze, empovgetrieben durch die Klugheit der jetzigen schwedischen Herrn, die
gegen drohende, äußere Einflüsse einen Halt im Volke suchen und sich der
Sprache desselben accommodiren, weil es zu spät ist, das Umgekehrte mit Gewalt
durchzusetzen. Die Finnen und Letten werden einst, wie alle kleinen Raecnvölker
verschwinden und in dem siegenden Culturvolke ausgehen müssen; und wäre dies
in den Ostseeprovinzen schon längst geschehen, so wäre der Gewinn für beide
Theile erklecklich. Wenn heute noch der Bauer dem Herrn als Fremder, ja
als Feind gegenübersteht, wenn trotz der Einheit der Kirche ein kirchliches
Gcsammtbewußtsein von Seiten der Landbewohner fehlt, wenn endlich die
Stufe der materiellen Civilisation , besonders bei den Esthen, noch beinahe
dieselbe ist, wie vor 400 Jahren, so könnte statt dessen nach dem Beispiele
der entnationalisirten Wenden, Sorben und Borussen in Deutschland, auch
dort ein deutscher Bauernstand dem Edelmann? und Städter als Stütze nach
außen dienen, so würde die lutherische Kirche vor dem schmählichen Abfalle
vieler tausend Bekenner bewahrt geblieben sein, so wären endlich jene beiden
Völker der Culturstufe ihrer Herren näher gekommen und hätten jedenfalls
einen bessern Tausch gemacht, als ihnen in der Zukunft bevorsteht. In Livland
hat man dies endlich einsehen gelernt und läßt in den Volksschulen eifrig
deutschen Unterricht ertheilen; es ist aber theils zu spät aus polnischen Gründen,
theils zu falschen Resultaten führend, weil der Leite und noch mehr der Esthe,
sobald er der Sprache seiner Herren mächtig geworden ist, über seinen ärm¬
lichen Stand hinaufstrebt, in den Städten als Handwerker anzukommen sucht,
und wenn es ihm glückt, schon in der zweiten Generation stolz seine Herkunft
verleugnet. — Sieht man nun von dieser Versäumniß und Verspätung der
Germanisirungöversuche ab, so würde man dennoch Unrecht thun, wenn man
jeden Einfluß der deutschen Cultur auf die nationalen der russischen Ostsee¬
länder in Abrede stellen wollte. Freilich treten die Spuren desselben fast nur
auf der Seite des intellectuellen Fortschritts deutlich hervor; wenigstens stehen


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[0471] daß die erobernden deutschen Ritter und deren Nachkommen den Eingeborenen Sprache und Sitten ließen, ohne sie zu germanistren; allein, geht man der Sache näher auf den Grund, so war eigentlich weiter nichts als stolze Ver¬ achtung und geflissentliches Fernhalten das Motiv der Herren und die oberflächliche Christianisirung nur der schwache Deckmantel ihrer Eroberungs¬ sucht. Weniger Blut ist vielleicht durch diese Schonung vergossen worden und der finnische Stamm erfreut sich noch heute des esthnischen Zweiges; kann aber dies in Betracht kommen gegen die daraus entstandenen Nachtheile? — Den finnischen Völkerschaften im Nordosten und Norden des russischen Reiches steht allen dasselbe Schicksal bevor: sie werden über kurz und lang vom russischen Elemente in Sprache und Sitte verschlungen werden und der scheinbare Aufschwung der Finnen im Großfürstenthume ist eine künstliche Pflanze, empovgetrieben durch die Klugheit der jetzigen schwedischen Herrn, die gegen drohende, äußere Einflüsse einen Halt im Volke suchen und sich der Sprache desselben accommodiren, weil es zu spät ist, das Umgekehrte mit Gewalt durchzusetzen. Die Finnen und Letten werden einst, wie alle kleinen Raecnvölker verschwinden und in dem siegenden Culturvolke ausgehen müssen; und wäre dies in den Ostseeprovinzen schon längst geschehen, so wäre der Gewinn für beide Theile erklecklich. Wenn heute noch der Bauer dem Herrn als Fremder, ja als Feind gegenübersteht, wenn trotz der Einheit der Kirche ein kirchliches Gcsammtbewußtsein von Seiten der Landbewohner fehlt, wenn endlich die Stufe der materiellen Civilisation , besonders bei den Esthen, noch beinahe dieselbe ist, wie vor 400 Jahren, so könnte statt dessen nach dem Beispiele der entnationalisirten Wenden, Sorben und Borussen in Deutschland, auch dort ein deutscher Bauernstand dem Edelmann? und Städter als Stütze nach außen dienen, so würde die lutherische Kirche vor dem schmählichen Abfalle vieler tausend Bekenner bewahrt geblieben sein, so wären endlich jene beiden Völker der Culturstufe ihrer Herren näher gekommen und hätten jedenfalls einen bessern Tausch gemacht, als ihnen in der Zukunft bevorsteht. In Livland hat man dies endlich einsehen gelernt und läßt in den Volksschulen eifrig deutschen Unterricht ertheilen; es ist aber theils zu spät aus polnischen Gründen, theils zu falschen Resultaten führend, weil der Leite und noch mehr der Esthe, sobald er der Sprache seiner Herren mächtig geworden ist, über seinen ärm¬ lichen Stand hinaufstrebt, in den Städten als Handwerker anzukommen sucht, und wenn es ihm glückt, schon in der zweiten Generation stolz seine Herkunft verleugnet. — Sieht man nun von dieser Versäumniß und Verspätung der Germanisirungöversuche ab, so würde man dennoch Unrecht thun, wenn man jeden Einfluß der deutschen Cultur auf die nationalen der russischen Ostsee¬ länder in Abrede stellen wollte. Freilich treten die Spuren desselben fast nur auf der Seite des intellectuellen Fortschritts deutlich hervor; wenigstens stehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/471>, abgerufen am 22.12.2024.