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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Auch andere kunstvollere Maße sind wol schon seit dem 12. Jahrhundert ein¬
gedrungen, noch mehr aber, seitdem die bürgerlichen Meistersänger des is. Jahr¬
hunderts mit ihren Tönen in das Volkslied zogen, die fliegenden Lieder des
16. und 17. Jahrhunderts zeigen deutlich die Formen und den Einfluß dieser
Zunftpoesie.

Der rhythmische Bau der Volkslieder gilt unsern Musikern für roh,
die Elasticität der Melodie muß überflüssige oder fehlende Silben durch Zer-
theilung oder Zusammenschleifung ihrer Töne verbergen. Aber wen" man
von der Verwilderung absieht, welche allerdings uur zu häufig den Text der
Volkslieder verstümmelt hat, so sind die Unregelmäßigkeiten des rhythmischen
Baues in den Volksliedern nicht immer Folge davon, daß den alten Erfindern die
feine Empfindung für das Rhythmische gefehlt hat, oft nur ein neuer Beweis
dafür, daß die Lieder aus einer Zeit stammen, in welcher die deutsche Sprache
und der deutsche Versbau anderen Gesetzen folgte. Viele der ältesten und
besten der erhaltenen Volkslieder werden in die Sprache des 12., 13. Jahr¬
hunderts transponirt rhythmisch wohlklingende und regelrichtige Gedichte;
andere freilich zeigen die rohe Silbenmessung der Zeit, in welcher Haus Sachs
zu seinen Tragödien die Silben zählte, und Paul Rebhuhn vergebens eine
feinere Verskunst einzuführen suchte.

Die Melodie des deutschen Volksliedes hat nicht nur die Ausgabe, eine
in den Worten ausgedrückte Empfindung oder Stimmung musikalisch zu ver¬
klären; sie erscheint grade bei den älteren Liedern als das Erste, Hauptsächliche
als der schöne und unmittelbare Ausdruck der gesteigerten Empfindung, als ein
Schaffen, welches durch die Worte ^des Liedes oft sehr unvollkommen vergeistigt
wird. Bei einigen der schönsten Melodien ist deutlich zu erkennen, wie
ausschließlich musikalisch die Empfindung des Sängers war, und daß er wie
in träumerischem Spiel Worte und Reime dazu summte mit kindlichem, ja
täppischen Behagen. Anders freilich steht die Melodie zu den politischen
Volksliedern seit Ende des 15. Jahrhunderts, welche nach bekannten "Tönen"
oder Melodien gemacht sind, und wieder anders zu den kunstvollem Texten
der Schulmeisterlieder des 17. Jahrhunderts.

Noch immer halten wir an der Hoffnung fest, daß einer, der als Dichter
und als Gelehrter im Herzen deS deutschen Volkes festgewurzelt ist, sein altes
Versprechen erfüllen und in einem dritten Bande seiner Sammlung eine Ge¬
schichte des deutschen Volksliedes den lange harrenden Verehrern gönnen
möge. Für die völlige Lösung dieser großen Aufgabe aber ist die Thätigkeit
eines gebildeten Musikers unentbehrlich. Und deshalb sei hier dem Heraus¬
geber des deutschen Liederhortes der Wunsch ausgedrückt, daß er seine
Studien über die ältern Melodien dazu benutzen möge, unsere Kenntniß von
dem Volksgescmge der Deutschen und seiner Entwicklung bis zur Gegenwart


Auch andere kunstvollere Maße sind wol schon seit dem 12. Jahrhundert ein¬
gedrungen, noch mehr aber, seitdem die bürgerlichen Meistersänger des is. Jahr¬
hunderts mit ihren Tönen in das Volkslied zogen, die fliegenden Lieder des
16. und 17. Jahrhunderts zeigen deutlich die Formen und den Einfluß dieser
Zunftpoesie.

Der rhythmische Bau der Volkslieder gilt unsern Musikern für roh,
die Elasticität der Melodie muß überflüssige oder fehlende Silben durch Zer-
theilung oder Zusammenschleifung ihrer Töne verbergen. Aber wen» man
von der Verwilderung absieht, welche allerdings uur zu häufig den Text der
Volkslieder verstümmelt hat, so sind die Unregelmäßigkeiten des rhythmischen
Baues in den Volksliedern nicht immer Folge davon, daß den alten Erfindern die
feine Empfindung für das Rhythmische gefehlt hat, oft nur ein neuer Beweis
dafür, daß die Lieder aus einer Zeit stammen, in welcher die deutsche Sprache
und der deutsche Versbau anderen Gesetzen folgte. Viele der ältesten und
besten der erhaltenen Volkslieder werden in die Sprache des 12., 13. Jahr¬
hunderts transponirt rhythmisch wohlklingende und regelrichtige Gedichte;
andere freilich zeigen die rohe Silbenmessung der Zeit, in welcher Haus Sachs
zu seinen Tragödien die Silben zählte, und Paul Rebhuhn vergebens eine
feinere Verskunst einzuführen suchte.

Die Melodie des deutschen Volksliedes hat nicht nur die Ausgabe, eine
in den Worten ausgedrückte Empfindung oder Stimmung musikalisch zu ver¬
klären; sie erscheint grade bei den älteren Liedern als das Erste, Hauptsächliche
als der schöne und unmittelbare Ausdruck der gesteigerten Empfindung, als ein
Schaffen, welches durch die Worte ^des Liedes oft sehr unvollkommen vergeistigt
wird. Bei einigen der schönsten Melodien ist deutlich zu erkennen, wie
ausschließlich musikalisch die Empfindung des Sängers war, und daß er wie
in träumerischem Spiel Worte und Reime dazu summte mit kindlichem, ja
täppischen Behagen. Anders freilich steht die Melodie zu den politischen
Volksliedern seit Ende des 15. Jahrhunderts, welche nach bekannten „Tönen"
oder Melodien gemacht sind, und wieder anders zu den kunstvollem Texten
der Schulmeisterlieder des 17. Jahrhunderts.

Noch immer halten wir an der Hoffnung fest, daß einer, der als Dichter
und als Gelehrter im Herzen deS deutschen Volkes festgewurzelt ist, sein altes
Versprechen erfüllen und in einem dritten Bande seiner Sammlung eine Ge¬
schichte des deutschen Volksliedes den lange harrenden Verehrern gönnen
möge. Für die völlige Lösung dieser großen Aufgabe aber ist die Thätigkeit
eines gebildeten Musikers unentbehrlich. Und deshalb sei hier dem Heraus¬
geber des deutschen Liederhortes der Wunsch ausgedrückt, daß er seine
Studien über die ältern Melodien dazu benutzen möge, unsere Kenntniß von
dem Volksgescmge der Deutschen und seiner Entwicklung bis zur Gegenwart


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[0461] Auch andere kunstvollere Maße sind wol schon seit dem 12. Jahrhundert ein¬ gedrungen, noch mehr aber, seitdem die bürgerlichen Meistersänger des is. Jahr¬ hunderts mit ihren Tönen in das Volkslied zogen, die fliegenden Lieder des 16. und 17. Jahrhunderts zeigen deutlich die Formen und den Einfluß dieser Zunftpoesie. Der rhythmische Bau der Volkslieder gilt unsern Musikern für roh, die Elasticität der Melodie muß überflüssige oder fehlende Silben durch Zer- theilung oder Zusammenschleifung ihrer Töne verbergen. Aber wen» man von der Verwilderung absieht, welche allerdings uur zu häufig den Text der Volkslieder verstümmelt hat, so sind die Unregelmäßigkeiten des rhythmischen Baues in den Volksliedern nicht immer Folge davon, daß den alten Erfindern die feine Empfindung für das Rhythmische gefehlt hat, oft nur ein neuer Beweis dafür, daß die Lieder aus einer Zeit stammen, in welcher die deutsche Sprache und der deutsche Versbau anderen Gesetzen folgte. Viele der ältesten und besten der erhaltenen Volkslieder werden in die Sprache des 12., 13. Jahr¬ hunderts transponirt rhythmisch wohlklingende und regelrichtige Gedichte; andere freilich zeigen die rohe Silbenmessung der Zeit, in welcher Haus Sachs zu seinen Tragödien die Silben zählte, und Paul Rebhuhn vergebens eine feinere Verskunst einzuführen suchte. Die Melodie des deutschen Volksliedes hat nicht nur die Ausgabe, eine in den Worten ausgedrückte Empfindung oder Stimmung musikalisch zu ver¬ klären; sie erscheint grade bei den älteren Liedern als das Erste, Hauptsächliche als der schöne und unmittelbare Ausdruck der gesteigerten Empfindung, als ein Schaffen, welches durch die Worte ^des Liedes oft sehr unvollkommen vergeistigt wird. Bei einigen der schönsten Melodien ist deutlich zu erkennen, wie ausschließlich musikalisch die Empfindung des Sängers war, und daß er wie in träumerischem Spiel Worte und Reime dazu summte mit kindlichem, ja täppischen Behagen. Anders freilich steht die Melodie zu den politischen Volksliedern seit Ende des 15. Jahrhunderts, welche nach bekannten „Tönen" oder Melodien gemacht sind, und wieder anders zu den kunstvollem Texten der Schulmeisterlieder des 17. Jahrhunderts. Noch immer halten wir an der Hoffnung fest, daß einer, der als Dichter und als Gelehrter im Herzen deS deutschen Volkes festgewurzelt ist, sein altes Versprechen erfüllen und in einem dritten Bande seiner Sammlung eine Ge¬ schichte des deutschen Volksliedes den lange harrenden Verehrern gönnen möge. Für die völlige Lösung dieser großen Aufgabe aber ist die Thätigkeit eines gebildeten Musikers unentbehrlich. Und deshalb sei hier dem Heraus¬ geber des deutschen Liederhortes der Wunsch ausgedrückt, daß er seine Studien über die ältern Melodien dazu benutzen möge, unsere Kenntniß von dem Volksgescmge der Deutschen und seiner Entwicklung bis zur Gegenwart

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/461>, abgerufen am 23.07.2024.