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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Worten sichtbar: nur die Melodie darf die ganze Fülle der Seele aus¬
drücken.

Der Versbau der deutschen Volkslieder hat für uns ein besonderes
Interesse, zunächst weil er ebenso wie der Bau der Melodien in überraschender
Weise bestätigt, was wir als das Formgesetz aller lyrischen Poesie betrachten
dürfen, die Dreitheiligkeit von Vers oder Strophe. Die einfachste poetische
Schöpfung der Volksseelen, der epische Vers, zeigt in seiner ursprünglichen Gestalt
bei allen Völkern, daß seine Eigenthümlichkeit das Zusammenbinden von
zwei im Ganzen gleichgemessenen Satz theilen der Rede durch einen in
Ohr und Phantasie klingenden Schmuck der Rede ist. Dies Verbindende ist
entweder der Parallelismus der Vorstellungen, welche in den beiden Salzthei¬
len ausgedrückt sind, oder ein geregeltes Dahinschweben der Laute in Takt,
Quantität, Rhythmus, oder eine phonische Annäherung der beiden Sätze durch
gleichen Amiant ihrer gewichtigsten Wörter, Alliteration, oder eine Paralleli-
sirung derselben durch gleichen oder ähnlichen Klang ihrer schließenden Silben,
Assonanzen und Reime. Bei den meisten höher organisirten Völkern geschieht
das Zusammenbinden der beiden Satzeinheitcn des epischen Verses durch mehre
der hier angegebenen Möglichkeiten zugleich. Denn in allen Völkern zeigt
sich ein Drang nach jedem dieser Bindungsmittel; aber bei jedem sind ein¬
zelne maßgebend geworden, andere treten nur subsidiarisch ein. Während
die hebräische Sprache ihren epischen Vers fast ausschließlich durch strengen
und merkwürdig fein ausgebildeten Parallelismus der Vorstellungen zu¬
sammensetzt, bildet der griechische und römische Herameter die Einheit seines
Organismus sowol durch ein klangvolles Abmessen der Silbenlänge und Kürze,
als durch ein kunstvolles Verschränken der beiden Redcsätze, aus denen
er besteht; und der älteste epische Vers im Deutschen organistrt sich sowol
durch den Parallelismus von je vier Hebungen in den beiden poetischen
Sätzen, als durch die Alliteration. Bei andern Völkern werden in dem
starken Streben des Zusammenbindens der gleichgemogenen Theile sogar
noch zwei Langverse durch das Band des gemeinsamen Reimes verbunden,
wie in der indischen Stola, oder der Parallelismus der Vorstellungen, der
Quantität und des Reims schnüren in dreifacher Weise zusammen, wie bei den
Arabern. Immer ist das Wesen des epischen Verses das Dahinschweben der
Rede in kurzen poetischen Sätzen, welche zu zwei und zwei verbunden
ohne rhythmische Unterbrechung aufeinander folgen; die naturgemäße Form für
das Dahinströmen langathmiger Erzählung, in welcher die Individualität des
Sängers noch ganz in die Erzählung versenkt erscheint und das Ich nicht im
Gegensatz gegen den Lauf seiner idealen Anschauungen empfunden wird. Sobald
aber das Individuum mit den Ansprüchen eines bewegten Gemüths-in der Poesie
auftritt, dringt die heftiger bewegte Stimmung auf energischem Abschluß der


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Worten sichtbar: nur die Melodie darf die ganze Fülle der Seele aus¬
drücken.

Der Versbau der deutschen Volkslieder hat für uns ein besonderes
Interesse, zunächst weil er ebenso wie der Bau der Melodien in überraschender
Weise bestätigt, was wir als das Formgesetz aller lyrischen Poesie betrachten
dürfen, die Dreitheiligkeit von Vers oder Strophe. Die einfachste poetische
Schöpfung der Volksseelen, der epische Vers, zeigt in seiner ursprünglichen Gestalt
bei allen Völkern, daß seine Eigenthümlichkeit das Zusammenbinden von
zwei im Ganzen gleichgemessenen Satz theilen der Rede durch einen in
Ohr und Phantasie klingenden Schmuck der Rede ist. Dies Verbindende ist
entweder der Parallelismus der Vorstellungen, welche in den beiden Salzthei¬
len ausgedrückt sind, oder ein geregeltes Dahinschweben der Laute in Takt,
Quantität, Rhythmus, oder eine phonische Annäherung der beiden Sätze durch
gleichen Amiant ihrer gewichtigsten Wörter, Alliteration, oder eine Paralleli-
sirung derselben durch gleichen oder ähnlichen Klang ihrer schließenden Silben,
Assonanzen und Reime. Bei den meisten höher organisirten Völkern geschieht
das Zusammenbinden der beiden Satzeinheitcn des epischen Verses durch mehre
der hier angegebenen Möglichkeiten zugleich. Denn in allen Völkern zeigt
sich ein Drang nach jedem dieser Bindungsmittel; aber bei jedem sind ein¬
zelne maßgebend geworden, andere treten nur subsidiarisch ein. Während
die hebräische Sprache ihren epischen Vers fast ausschließlich durch strengen
und merkwürdig fein ausgebildeten Parallelismus der Vorstellungen zu¬
sammensetzt, bildet der griechische und römische Herameter die Einheit seines
Organismus sowol durch ein klangvolles Abmessen der Silbenlänge und Kürze,
als durch ein kunstvolles Verschränken der beiden Redcsätze, aus denen
er besteht; und der älteste epische Vers im Deutschen organistrt sich sowol
durch den Parallelismus von je vier Hebungen in den beiden poetischen
Sätzen, als durch die Alliteration. Bei andern Völkern werden in dem
starken Streben des Zusammenbindens der gleichgemogenen Theile sogar
noch zwei Langverse durch das Band des gemeinsamen Reimes verbunden,
wie in der indischen Stola, oder der Parallelismus der Vorstellungen, der
Quantität und des Reims schnüren in dreifacher Weise zusammen, wie bei den
Arabern. Immer ist das Wesen des epischen Verses das Dahinschweben der
Rede in kurzen poetischen Sätzen, welche zu zwei und zwei verbunden
ohne rhythmische Unterbrechung aufeinander folgen; die naturgemäße Form für
das Dahinströmen langathmiger Erzählung, in welcher die Individualität des
Sängers noch ganz in die Erzählung versenkt erscheint und das Ich nicht im
Gegensatz gegen den Lauf seiner idealen Anschauungen empfunden wird. Sobald
aber das Individuum mit den Ansprüchen eines bewegten Gemüths-in der Poesie
auftritt, dringt die heftiger bewegte Stimmung auf energischem Abschluß der


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[0459] Worten sichtbar: nur die Melodie darf die ganze Fülle der Seele aus¬ drücken. Der Versbau der deutschen Volkslieder hat für uns ein besonderes Interesse, zunächst weil er ebenso wie der Bau der Melodien in überraschender Weise bestätigt, was wir als das Formgesetz aller lyrischen Poesie betrachten dürfen, die Dreitheiligkeit von Vers oder Strophe. Die einfachste poetische Schöpfung der Volksseelen, der epische Vers, zeigt in seiner ursprünglichen Gestalt bei allen Völkern, daß seine Eigenthümlichkeit das Zusammenbinden von zwei im Ganzen gleichgemessenen Satz theilen der Rede durch einen in Ohr und Phantasie klingenden Schmuck der Rede ist. Dies Verbindende ist entweder der Parallelismus der Vorstellungen, welche in den beiden Salzthei¬ len ausgedrückt sind, oder ein geregeltes Dahinschweben der Laute in Takt, Quantität, Rhythmus, oder eine phonische Annäherung der beiden Sätze durch gleichen Amiant ihrer gewichtigsten Wörter, Alliteration, oder eine Paralleli- sirung derselben durch gleichen oder ähnlichen Klang ihrer schließenden Silben, Assonanzen und Reime. Bei den meisten höher organisirten Völkern geschieht das Zusammenbinden der beiden Satzeinheitcn des epischen Verses durch mehre der hier angegebenen Möglichkeiten zugleich. Denn in allen Völkern zeigt sich ein Drang nach jedem dieser Bindungsmittel; aber bei jedem sind ein¬ zelne maßgebend geworden, andere treten nur subsidiarisch ein. Während die hebräische Sprache ihren epischen Vers fast ausschließlich durch strengen und merkwürdig fein ausgebildeten Parallelismus der Vorstellungen zu¬ sammensetzt, bildet der griechische und römische Herameter die Einheit seines Organismus sowol durch ein klangvolles Abmessen der Silbenlänge und Kürze, als durch ein kunstvolles Verschränken der beiden Redcsätze, aus denen er besteht; und der älteste epische Vers im Deutschen organistrt sich sowol durch den Parallelismus von je vier Hebungen in den beiden poetischen Sätzen, als durch die Alliteration. Bei andern Völkern werden in dem starken Streben des Zusammenbindens der gleichgemogenen Theile sogar noch zwei Langverse durch das Band des gemeinsamen Reimes verbunden, wie in der indischen Stola, oder der Parallelismus der Vorstellungen, der Quantität und des Reims schnüren in dreifacher Weise zusammen, wie bei den Arabern. Immer ist das Wesen des epischen Verses das Dahinschweben der Rede in kurzen poetischen Sätzen, welche zu zwei und zwei verbunden ohne rhythmische Unterbrechung aufeinander folgen; die naturgemäße Form für das Dahinströmen langathmiger Erzählung, in welcher die Individualität des Sängers noch ganz in die Erzählung versenkt erscheint und das Ich nicht im Gegensatz gegen den Lauf seiner idealen Anschauungen empfunden wird. Sobald aber das Individuum mit den Ansprüchen eines bewegten Gemüths-in der Poesie auftritt, dringt die heftiger bewegte Stimmung auf energischem Abschluß der 37*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/459>, abgerufen am 23.07.2024.