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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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fand, oder von dem wir durch alte Drucke vergewissert sind, daß es vor Jahr¬
hunderten einmal im Volksmunde lebendig gewesen ist.

So verschieden aber der Inhalt, die Rhythmen und Melodien unserer
Volkslieder sind, so haben sie doch alle etwas Gemeinsames, das sie von
unserer Kunstpoesie wie Composition deutlich unterscheidet. Zunächst die größte
Einfachheit des Ausdrucks; die nicht häufigen Bilder und Vergleiche sind von
Gegenständen entnommen, welche der Phantasie des Volks am nächsten liegen,
sie sind kurz, wenig ausgeführt, aber in der Regel von größter innerer Wahr¬
heit und deshalb hoher Wirkung. Zuweilen versteckt sich der Sinn durchaus
hinter das ausgeführte Bild. Der gewöhnlichste Schmuck der Rede sind
die stehenden Beiwörter der Substantiv", wie sie sich auch in den epischen
Poesien aller Völker finden. Der hohe Berg, das tiefe Thal, der stolze Reiter,
rothes Gold, kühler Wein u. s. w.

Die Darstellung sowol der Begebenheiten als der Empfindungen läuft bei
den älteren Volksliedern nicht in ruhigem Strome fort, sondern ist sprunghaft, oft'
kurzes Andenken, daneben starkes Hervorheben einzelner imponirender Momente.
Der Zusammenhang muß von dem Hörer nicht selten errathen werden, bei den
besseren hat auch diese kurze rhapsodische Erwähnung hohen Reiz, zumal die
Melodie und die dadurch hervorgerufene Stimmung die nur halb ausgesprochene
Vorstellung unterstützen und weiter führen. Allerdings ist hier ein Unterschied
sichtbar zwischen den meisten noch lebenden Volksliedern und den politischen
des 16. und 17. Jahrhunderts. Grade die letzteren, deren Entstehungszeit
wir in der Regel wissen, zeigen sich in der breiteren Ausführung, dem behag¬
lichem Ton, wie auch in dem innigem Strvphenbau, als die jüngern- -- Es
kann als eine charakteristische Eigenschaft der deutschen Volkslieder, namentlich
gegenüber den slawischen, betrachtet werden, daß sie in Inhalt und Melodie
wenig von der klagenden Eintönigkeit uno süßen Weiche haben. Zwar ist
bei der Mehrzahl der Balladen und Romanzen das tragische Element das
Jmponirende, nicht selten bricht aber auch bei ihnen die Kraft des Ge¬
müthes durch die schmerzliche Stimmung und ein versöhnender Schluß ist ^nichts
Seltenes. Auch die Zahl der Scherz- und Spottlieder, wie der Liebesliever,
in denen sich das gepreßte Gemüth durch kräftige Erhebung befreit, sind
nicht selten, denn nie verlor das Volk ganz den Humor und gute Laune, welche
Widerwärtiges überwindet. Und wenn bei dem langen Laufe und den großen
Störungen und Trübungen, welche das deutsche Volk erleben mußte, auch nicht
wenig Rohheit des Ausdruckes in die Lieder gedrungen ist, so ist doch im
Ganzen betrachtet noch jetzt die Reinheit des sprachlichen Ausdrucks und Zart¬
heit der Empfindung überraschend. Wie das deutsche Wesen, ist auch der
Ausdruck leidenschaitlicher Gefühle gemessen; gegenüber der zärtlichen Weich¬
heit der Slawen ist ein echt deutsches Zurückhalten der Empfindung in den <


fand, oder von dem wir durch alte Drucke vergewissert sind, daß es vor Jahr¬
hunderten einmal im Volksmunde lebendig gewesen ist.

So verschieden aber der Inhalt, die Rhythmen und Melodien unserer
Volkslieder sind, so haben sie doch alle etwas Gemeinsames, das sie von
unserer Kunstpoesie wie Composition deutlich unterscheidet. Zunächst die größte
Einfachheit des Ausdrucks; die nicht häufigen Bilder und Vergleiche sind von
Gegenständen entnommen, welche der Phantasie des Volks am nächsten liegen,
sie sind kurz, wenig ausgeführt, aber in der Regel von größter innerer Wahr¬
heit und deshalb hoher Wirkung. Zuweilen versteckt sich der Sinn durchaus
hinter das ausgeführte Bild. Der gewöhnlichste Schmuck der Rede sind
die stehenden Beiwörter der Substantiv», wie sie sich auch in den epischen
Poesien aller Völker finden. Der hohe Berg, das tiefe Thal, der stolze Reiter,
rothes Gold, kühler Wein u. s. w.

Die Darstellung sowol der Begebenheiten als der Empfindungen läuft bei
den älteren Volksliedern nicht in ruhigem Strome fort, sondern ist sprunghaft, oft'
kurzes Andenken, daneben starkes Hervorheben einzelner imponirender Momente.
Der Zusammenhang muß von dem Hörer nicht selten errathen werden, bei den
besseren hat auch diese kurze rhapsodische Erwähnung hohen Reiz, zumal die
Melodie und die dadurch hervorgerufene Stimmung die nur halb ausgesprochene
Vorstellung unterstützen und weiter führen. Allerdings ist hier ein Unterschied
sichtbar zwischen den meisten noch lebenden Volksliedern und den politischen
des 16. und 17. Jahrhunderts. Grade die letzteren, deren Entstehungszeit
wir in der Regel wissen, zeigen sich in der breiteren Ausführung, dem behag¬
lichem Ton, wie auch in dem innigem Strvphenbau, als die jüngern- — Es
kann als eine charakteristische Eigenschaft der deutschen Volkslieder, namentlich
gegenüber den slawischen, betrachtet werden, daß sie in Inhalt und Melodie
wenig von der klagenden Eintönigkeit uno süßen Weiche haben. Zwar ist
bei der Mehrzahl der Balladen und Romanzen das tragische Element das
Jmponirende, nicht selten bricht aber auch bei ihnen die Kraft des Ge¬
müthes durch die schmerzliche Stimmung und ein versöhnender Schluß ist ^nichts
Seltenes. Auch die Zahl der Scherz- und Spottlieder, wie der Liebesliever,
in denen sich das gepreßte Gemüth durch kräftige Erhebung befreit, sind
nicht selten, denn nie verlor das Volk ganz den Humor und gute Laune, welche
Widerwärtiges überwindet. Und wenn bei dem langen Laufe und den großen
Störungen und Trübungen, welche das deutsche Volk erleben mußte, auch nicht
wenig Rohheit des Ausdruckes in die Lieder gedrungen ist, so ist doch im
Ganzen betrachtet noch jetzt die Reinheit des sprachlichen Ausdrucks und Zart¬
heit der Empfindung überraschend. Wie das deutsche Wesen, ist auch der
Ausdruck leidenschaitlicher Gefühle gemessen; gegenüber der zärtlichen Weich¬
heit der Slawen ist ein echt deutsches Zurückhalten der Empfindung in den <


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[0458] fand, oder von dem wir durch alte Drucke vergewissert sind, daß es vor Jahr¬ hunderten einmal im Volksmunde lebendig gewesen ist. So verschieden aber der Inhalt, die Rhythmen und Melodien unserer Volkslieder sind, so haben sie doch alle etwas Gemeinsames, das sie von unserer Kunstpoesie wie Composition deutlich unterscheidet. Zunächst die größte Einfachheit des Ausdrucks; die nicht häufigen Bilder und Vergleiche sind von Gegenständen entnommen, welche der Phantasie des Volks am nächsten liegen, sie sind kurz, wenig ausgeführt, aber in der Regel von größter innerer Wahr¬ heit und deshalb hoher Wirkung. Zuweilen versteckt sich der Sinn durchaus hinter das ausgeführte Bild. Der gewöhnlichste Schmuck der Rede sind die stehenden Beiwörter der Substantiv», wie sie sich auch in den epischen Poesien aller Völker finden. Der hohe Berg, das tiefe Thal, der stolze Reiter, rothes Gold, kühler Wein u. s. w. Die Darstellung sowol der Begebenheiten als der Empfindungen läuft bei den älteren Volksliedern nicht in ruhigem Strome fort, sondern ist sprunghaft, oft' kurzes Andenken, daneben starkes Hervorheben einzelner imponirender Momente. Der Zusammenhang muß von dem Hörer nicht selten errathen werden, bei den besseren hat auch diese kurze rhapsodische Erwähnung hohen Reiz, zumal die Melodie und die dadurch hervorgerufene Stimmung die nur halb ausgesprochene Vorstellung unterstützen und weiter führen. Allerdings ist hier ein Unterschied sichtbar zwischen den meisten noch lebenden Volksliedern und den politischen des 16. und 17. Jahrhunderts. Grade die letzteren, deren Entstehungszeit wir in der Regel wissen, zeigen sich in der breiteren Ausführung, dem behag¬ lichem Ton, wie auch in dem innigem Strvphenbau, als die jüngern- — Es kann als eine charakteristische Eigenschaft der deutschen Volkslieder, namentlich gegenüber den slawischen, betrachtet werden, daß sie in Inhalt und Melodie wenig von der klagenden Eintönigkeit uno süßen Weiche haben. Zwar ist bei der Mehrzahl der Balladen und Romanzen das tragische Element das Jmponirende, nicht selten bricht aber auch bei ihnen die Kraft des Ge¬ müthes durch die schmerzliche Stimmung und ein versöhnender Schluß ist ^nichts Seltenes. Auch die Zahl der Scherz- und Spottlieder, wie der Liebesliever, in denen sich das gepreßte Gemüth durch kräftige Erhebung befreit, sind nicht selten, denn nie verlor das Volk ganz den Humor und gute Laune, welche Widerwärtiges überwindet. Und wenn bei dem langen Laufe und den großen Störungen und Trübungen, welche das deutsche Volk erleben mußte, auch nicht wenig Rohheit des Ausdruckes in die Lieder gedrungen ist, so ist doch im Ganzen betrachtet noch jetzt die Reinheit des sprachlichen Ausdrucks und Zart¬ heit der Empfindung überraschend. Wie das deutsche Wesen, ist auch der Ausdruck leidenschaitlicher Gefühle gemessen; gegenüber der zärtlichen Weich¬ heit der Slawen ist ein echt deutsches Zurückhalten der Empfindung in den <

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/458>, abgerufen am 22.12.2024.