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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Freilich der größte Theil auch der lebenden Volkslieder verhält sich sehr spröde
gegen den Versuch, ihr Alter auch nur annähernd zu bestimmen; so die, welche
die privaten, ewig wiederkehrenden Stimmungen des Menschen darstellen, Leid
und Lust seiner Liebe und Ehe, daS Leben auf dem Feld, im Walde, Wander¬
leber, Schelmenlieder. Viele solcher Lieder stammen sicher aus der Ältesten Zeit
des deutschen Volkslebens. Sie haben sich den Veränderungen der Sitte, des
Geschmacks und der Sprache in vielen Jahrhunderten anbequemt, und es ist
vielleicht grade bei manchen der ältesten am wenigsten Alterthümliches zu
finden.

Nach dem Vorhergehenden wird es möglich sein, zu definiren, waS Volks¬
lied ist. Leichter freilich ist zu erklären, was es nicht ist. Zu Volksliedern
gehören nicht alle die in das Volk gedrungenen Lieder, bei denen eine be¬
stimmte Dichterpersönlichkeit oder eine bestimmte Zeitrichtung mit den Eigen¬
thümlichkeiten einer erclusiven Bildung deutlich erkannt werden kann. Nun
ist ganz in der Ordnung, daß bei modernen Gedichten uns der Gegensatz
zwischen der individuellen Bildung ihres Dichters- und zwischen der großen vor¬
handenen Masse des Volksthümlichen am meisten auffällt und daß wir diese am
strengsten ausscheiden; ebenso natürlich ist, daß in dem langen Zeitraume, in
welchem die Literatur auch der Gelehrten und Gebildeten einen volksthüm¬
lichen Charakter hatte, einzelne Lieder bekannter Persönlichkeiten unter den
übrigen, deren erste Sänger ganz unbekannt sind, stehen bleiben. Denn je
weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto weniger empfinden wir das Indivi¬
duelle des ersten Sängers in Ausdruck und Darstellung, schon deshalb, weil
sein Lied im Munde des Volkes seitdem allerlei Umbildungen erfahren
hat. -- So ist klar, baß die Volkslieder durchaus nicht zu aller Zeit
namenlosen Sängern in den unteren Schichten des Volkes ihren Ursprung
verdanken. Sicher haben im Mittelalter alle Stände dazu beigetragen, der
Ritter, der Geistliche, der Bürger wie der Landmann. Bei nicht wenigen Liedern
ist noch jetzt zu erkennen, daß sie am Hervfeuer ritterbürtiger Gesellen gesungen
worden sind, aber nicht geringer ist die Anzahl derer, in welchen das Gemüth
des Sängers gegen die Herrschaft des Adels Partei nimmt. Häusig ist von
zwei Liebenden der Mann ein Edler, das Mädchen aus niederem Stande,
und dann sind die Sympathien des Sängers fast immer auf Seiten des Mäd¬
chens, zuweilen auch freut sich der nichtadlige Liebende seiner Erfolge bei ter
vornehmen Frau. Wenn aber nicht bezweifelt werden darf, daß die verschiedenen
Stände an dem deutschen Volksliederschatz mitgearbeitet haben, so sind es doch
vorzugsweise die unteren Schichten deö Volkes, welche das Entstandene ver¬
breitet und durch die Jahrhunderte getragen haben; und in diesem Sinne
nennen wir Volkslied das Gedicht, welches entweder beim Beginn unserer
modernen poetischen Bildung sich noch lebendig im Munde des Volkes vor-


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Freilich der größte Theil auch der lebenden Volkslieder verhält sich sehr spröde
gegen den Versuch, ihr Alter auch nur annähernd zu bestimmen; so die, welche
die privaten, ewig wiederkehrenden Stimmungen des Menschen darstellen, Leid
und Lust seiner Liebe und Ehe, daS Leben auf dem Feld, im Walde, Wander¬
leber, Schelmenlieder. Viele solcher Lieder stammen sicher aus der Ältesten Zeit
des deutschen Volkslebens. Sie haben sich den Veränderungen der Sitte, des
Geschmacks und der Sprache in vielen Jahrhunderten anbequemt, und es ist
vielleicht grade bei manchen der ältesten am wenigsten Alterthümliches zu
finden.

Nach dem Vorhergehenden wird es möglich sein, zu definiren, waS Volks¬
lied ist. Leichter freilich ist zu erklären, was es nicht ist. Zu Volksliedern
gehören nicht alle die in das Volk gedrungenen Lieder, bei denen eine be¬
stimmte Dichterpersönlichkeit oder eine bestimmte Zeitrichtung mit den Eigen¬
thümlichkeiten einer erclusiven Bildung deutlich erkannt werden kann. Nun
ist ganz in der Ordnung, daß bei modernen Gedichten uns der Gegensatz
zwischen der individuellen Bildung ihres Dichters- und zwischen der großen vor¬
handenen Masse des Volksthümlichen am meisten auffällt und daß wir diese am
strengsten ausscheiden; ebenso natürlich ist, daß in dem langen Zeitraume, in
welchem die Literatur auch der Gelehrten und Gebildeten einen volksthüm¬
lichen Charakter hatte, einzelne Lieder bekannter Persönlichkeiten unter den
übrigen, deren erste Sänger ganz unbekannt sind, stehen bleiben. Denn je
weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto weniger empfinden wir das Indivi¬
duelle des ersten Sängers in Ausdruck und Darstellung, schon deshalb, weil
sein Lied im Munde des Volkes seitdem allerlei Umbildungen erfahren
hat. — So ist klar, baß die Volkslieder durchaus nicht zu aller Zeit
namenlosen Sängern in den unteren Schichten des Volkes ihren Ursprung
verdanken. Sicher haben im Mittelalter alle Stände dazu beigetragen, der
Ritter, der Geistliche, der Bürger wie der Landmann. Bei nicht wenigen Liedern
ist noch jetzt zu erkennen, daß sie am Hervfeuer ritterbürtiger Gesellen gesungen
worden sind, aber nicht geringer ist die Anzahl derer, in welchen das Gemüth
des Sängers gegen die Herrschaft des Adels Partei nimmt. Häusig ist von
zwei Liebenden der Mann ein Edler, das Mädchen aus niederem Stande,
und dann sind die Sympathien des Sängers fast immer auf Seiten des Mäd¬
chens, zuweilen auch freut sich der nichtadlige Liebende seiner Erfolge bei ter
vornehmen Frau. Wenn aber nicht bezweifelt werden darf, daß die verschiedenen
Stände an dem deutschen Volksliederschatz mitgearbeitet haben, so sind es doch
vorzugsweise die unteren Schichten deö Volkes, welche das Entstandene ver¬
breitet und durch die Jahrhunderte getragen haben; und in diesem Sinne
nennen wir Volkslied das Gedicht, welches entweder beim Beginn unserer
modernen poetischen Bildung sich noch lebendig im Munde des Volkes vor-


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[0457] Freilich der größte Theil auch der lebenden Volkslieder verhält sich sehr spröde gegen den Versuch, ihr Alter auch nur annähernd zu bestimmen; so die, welche die privaten, ewig wiederkehrenden Stimmungen des Menschen darstellen, Leid und Lust seiner Liebe und Ehe, daS Leben auf dem Feld, im Walde, Wander¬ leber, Schelmenlieder. Viele solcher Lieder stammen sicher aus der Ältesten Zeit des deutschen Volkslebens. Sie haben sich den Veränderungen der Sitte, des Geschmacks und der Sprache in vielen Jahrhunderten anbequemt, und es ist vielleicht grade bei manchen der ältesten am wenigsten Alterthümliches zu finden. Nach dem Vorhergehenden wird es möglich sein, zu definiren, waS Volks¬ lied ist. Leichter freilich ist zu erklären, was es nicht ist. Zu Volksliedern gehören nicht alle die in das Volk gedrungenen Lieder, bei denen eine be¬ stimmte Dichterpersönlichkeit oder eine bestimmte Zeitrichtung mit den Eigen¬ thümlichkeiten einer erclusiven Bildung deutlich erkannt werden kann. Nun ist ganz in der Ordnung, daß bei modernen Gedichten uns der Gegensatz zwischen der individuellen Bildung ihres Dichters- und zwischen der großen vor¬ handenen Masse des Volksthümlichen am meisten auffällt und daß wir diese am strengsten ausscheiden; ebenso natürlich ist, daß in dem langen Zeitraume, in welchem die Literatur auch der Gelehrten und Gebildeten einen volksthüm¬ lichen Charakter hatte, einzelne Lieder bekannter Persönlichkeiten unter den übrigen, deren erste Sänger ganz unbekannt sind, stehen bleiben. Denn je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto weniger empfinden wir das Indivi¬ duelle des ersten Sängers in Ausdruck und Darstellung, schon deshalb, weil sein Lied im Munde des Volkes seitdem allerlei Umbildungen erfahren hat. — So ist klar, baß die Volkslieder durchaus nicht zu aller Zeit namenlosen Sängern in den unteren Schichten des Volkes ihren Ursprung verdanken. Sicher haben im Mittelalter alle Stände dazu beigetragen, der Ritter, der Geistliche, der Bürger wie der Landmann. Bei nicht wenigen Liedern ist noch jetzt zu erkennen, daß sie am Hervfeuer ritterbürtiger Gesellen gesungen worden sind, aber nicht geringer ist die Anzahl derer, in welchen das Gemüth des Sängers gegen die Herrschaft des Adels Partei nimmt. Häusig ist von zwei Liebenden der Mann ein Edler, das Mädchen aus niederem Stande, und dann sind die Sympathien des Sängers fast immer auf Seiten des Mäd¬ chens, zuweilen auch freut sich der nichtadlige Liebende seiner Erfolge bei ter vornehmen Frau. Wenn aber nicht bezweifelt werden darf, daß die verschiedenen Stände an dem deutschen Volksliederschatz mitgearbeitet haben, so sind es doch vorzugsweise die unteren Schichten deö Volkes, welche das Entstandene ver¬ breitet und durch die Jahrhunderte getragen haben; und in diesem Sinne nennen wir Volkslied das Gedicht, welches entweder beim Beginn unserer modernen poetischen Bildung sich noch lebendig im Munde des Volkes vor- Grciizboten. I. -I8S7. - 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/457>, abgerufen am 23.07.2024.