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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Blätter, welche solche Volkslieder enthalten, einen Einfluß auf die öffentliche
Meinung, welcher sich fast mit dem unserer Zeitungen vergleichen läßt, sie
sind noch für uns vom höchsten Werth, weil durch sie in die Stimmungen
und das Parteitreiben der Masse überraschende Einblicke gewonnen werden.

Nach dem dreißigjährigen Kriege aber beginnt auch diese productive
Kraft zu schwinden. Das Volk versinkt in stummes Schweigen, die Gebil¬
deten ziehen sich unter der Herrschaft der französischen Mode in die ge¬
schlossene Gesellschaft einer neuen deutschen Kunstpoesie zurück. Wieder tritt
eine merkwürdig strenge Trennung zwischen dem poetischen Schaffen der Ge¬
bildeten und der volksmäßigen Darstellung ein. Nur wenige kräftige Naturen
unter den Gebildeten wagen noch volksmäßig zuschreiben, und solchen begegnet
es/ daß die gesammte gelehrte Kritik von ihnen nicht die mindeste Notiz nimmt.
So geschah es dem bedeutendsten deutschen Erzähler in der zweiten Hälfte
des -17. Jahrhunderts, Grimmelshausen, dessen Name erst in unserer Zeit
wieder gefunden wurde. Aber auch was diese Wenigen schrieben, war von
epischer Art und konnte alle Spuren der schweren Zeit nicht verleugnen, in
welcher das freieste Gemüth es nicht weiterbrachte, als zu einer Prosaerzählung
aus der herben Wirklichkeit, in welcher Laune und Satire derb und cynisch
das rohe Stoffliche verarbeiten. Neue volksmäßige Lieder und Melodien
entstanden zunächst nur in den stehenden Heeren der Fürsten, derbe Soldaten¬
lieder oder -- als eine eigenthümliche Zwischenstufe zwischen Volks- und Ge-
lehttenpoeste, -- in den bescheidenen Wohnungen musikalischer Schullehrer und
Kirchensänger; und diese letztern, eine merkwürdige und zahlreiche Classe,
welche manches Holde und Vortreffliche enthält, entbehren noch sehr der ge¬
nügenden Beachtung. Doch blieb das Volk in dieser trüben Zeit nicht lieder¬
los. Ein großer, ja unübersehbarer Schatz von alten Liedern war ihm geblieben,
und anch in den engen Kreisen, in welche das deutsche Leben sich zurückgezogen
hatte, dauerte das Schaffen wol noch fort. Der Bursche und sein Mädchen,
der Handwerksgesell in der Fremde sangen zu dem alten Vorrath auch Neues,
und in einzelnen Gegenden, vornehmlich den oberdeutschen Gebirgen, in wei-
, chen Kampf und Streit der schweren Zeit nicht so viel verwüstet hatte, sprang
ein kleiner Quell von Dichtung noch lustig fort, ja die gemüthliche Anlage
dazu hat sich in diesen Gegenden bis zur Gegenwart erhalten.

Im Ganzen aber ist nichts mehr geeignet, von den fürchterlichen Wir¬
kungen der Kriege im 17. Jahrhundert einen Begriffs zu geben, als das
Schwinden und Ausdörren der Volkspoesie. Die verbrannten Gebäude sind
seit jener Zeit mehr als einmal wiederhergestellt worden, die weiten Wüste¬
neien sind wieder mit ackerbauenden Männern und weidenden Vieh besetzt,
aber ein Verlust, welchen die Seele des deutschen Volkes damals erhalten,
ist nicht wieder ersetzt worden. Allerdings ist es ungenau, dem politischen


Blätter, welche solche Volkslieder enthalten, einen Einfluß auf die öffentliche
Meinung, welcher sich fast mit dem unserer Zeitungen vergleichen läßt, sie
sind noch für uns vom höchsten Werth, weil durch sie in die Stimmungen
und das Parteitreiben der Masse überraschende Einblicke gewonnen werden.

Nach dem dreißigjährigen Kriege aber beginnt auch diese productive
Kraft zu schwinden. Das Volk versinkt in stummes Schweigen, die Gebil¬
deten ziehen sich unter der Herrschaft der französischen Mode in die ge¬
schlossene Gesellschaft einer neuen deutschen Kunstpoesie zurück. Wieder tritt
eine merkwürdig strenge Trennung zwischen dem poetischen Schaffen der Ge¬
bildeten und der volksmäßigen Darstellung ein. Nur wenige kräftige Naturen
unter den Gebildeten wagen noch volksmäßig zuschreiben, und solchen begegnet
es/ daß die gesammte gelehrte Kritik von ihnen nicht die mindeste Notiz nimmt.
So geschah es dem bedeutendsten deutschen Erzähler in der zweiten Hälfte
des -17. Jahrhunderts, Grimmelshausen, dessen Name erst in unserer Zeit
wieder gefunden wurde. Aber auch was diese Wenigen schrieben, war von
epischer Art und konnte alle Spuren der schweren Zeit nicht verleugnen, in
welcher das freieste Gemüth es nicht weiterbrachte, als zu einer Prosaerzählung
aus der herben Wirklichkeit, in welcher Laune und Satire derb und cynisch
das rohe Stoffliche verarbeiten. Neue volksmäßige Lieder und Melodien
entstanden zunächst nur in den stehenden Heeren der Fürsten, derbe Soldaten¬
lieder oder — als eine eigenthümliche Zwischenstufe zwischen Volks- und Ge-
lehttenpoeste, — in den bescheidenen Wohnungen musikalischer Schullehrer und
Kirchensänger; und diese letztern, eine merkwürdige und zahlreiche Classe,
welche manches Holde und Vortreffliche enthält, entbehren noch sehr der ge¬
nügenden Beachtung. Doch blieb das Volk in dieser trüben Zeit nicht lieder¬
los. Ein großer, ja unübersehbarer Schatz von alten Liedern war ihm geblieben,
und anch in den engen Kreisen, in welche das deutsche Leben sich zurückgezogen
hatte, dauerte das Schaffen wol noch fort. Der Bursche und sein Mädchen,
der Handwerksgesell in der Fremde sangen zu dem alten Vorrath auch Neues,
und in einzelnen Gegenden, vornehmlich den oberdeutschen Gebirgen, in wei-
, chen Kampf und Streit der schweren Zeit nicht so viel verwüstet hatte, sprang
ein kleiner Quell von Dichtung noch lustig fort, ja die gemüthliche Anlage
dazu hat sich in diesen Gegenden bis zur Gegenwart erhalten.

Im Ganzen aber ist nichts mehr geeignet, von den fürchterlichen Wir¬
kungen der Kriege im 17. Jahrhundert einen Begriffs zu geben, als das
Schwinden und Ausdörren der Volkspoesie. Die verbrannten Gebäude sind
seit jener Zeit mehr als einmal wiederhergestellt worden, die weiten Wüste¬
neien sind wieder mit ackerbauenden Männern und weidenden Vieh besetzt,
aber ein Verlust, welchen die Seele des deutschen Volkes damals erhalten,
ist nicht wieder ersetzt worden. Allerdings ist es ungenau, dem politischen


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[0453] Blätter, welche solche Volkslieder enthalten, einen Einfluß auf die öffentliche Meinung, welcher sich fast mit dem unserer Zeitungen vergleichen läßt, sie sind noch für uns vom höchsten Werth, weil durch sie in die Stimmungen und das Parteitreiben der Masse überraschende Einblicke gewonnen werden. Nach dem dreißigjährigen Kriege aber beginnt auch diese productive Kraft zu schwinden. Das Volk versinkt in stummes Schweigen, die Gebil¬ deten ziehen sich unter der Herrschaft der französischen Mode in die ge¬ schlossene Gesellschaft einer neuen deutschen Kunstpoesie zurück. Wieder tritt eine merkwürdig strenge Trennung zwischen dem poetischen Schaffen der Ge¬ bildeten und der volksmäßigen Darstellung ein. Nur wenige kräftige Naturen unter den Gebildeten wagen noch volksmäßig zuschreiben, und solchen begegnet es/ daß die gesammte gelehrte Kritik von ihnen nicht die mindeste Notiz nimmt. So geschah es dem bedeutendsten deutschen Erzähler in der zweiten Hälfte des -17. Jahrhunderts, Grimmelshausen, dessen Name erst in unserer Zeit wieder gefunden wurde. Aber auch was diese Wenigen schrieben, war von epischer Art und konnte alle Spuren der schweren Zeit nicht verleugnen, in welcher das freieste Gemüth es nicht weiterbrachte, als zu einer Prosaerzählung aus der herben Wirklichkeit, in welcher Laune und Satire derb und cynisch das rohe Stoffliche verarbeiten. Neue volksmäßige Lieder und Melodien entstanden zunächst nur in den stehenden Heeren der Fürsten, derbe Soldaten¬ lieder oder — als eine eigenthümliche Zwischenstufe zwischen Volks- und Ge- lehttenpoeste, — in den bescheidenen Wohnungen musikalischer Schullehrer und Kirchensänger; und diese letztern, eine merkwürdige und zahlreiche Classe, welche manches Holde und Vortreffliche enthält, entbehren noch sehr der ge¬ nügenden Beachtung. Doch blieb das Volk in dieser trüben Zeit nicht lieder¬ los. Ein großer, ja unübersehbarer Schatz von alten Liedern war ihm geblieben, und anch in den engen Kreisen, in welche das deutsche Leben sich zurückgezogen hatte, dauerte das Schaffen wol noch fort. Der Bursche und sein Mädchen, der Handwerksgesell in der Fremde sangen zu dem alten Vorrath auch Neues, und in einzelnen Gegenden, vornehmlich den oberdeutschen Gebirgen, in wei- , chen Kampf und Streit der schweren Zeit nicht so viel verwüstet hatte, sprang ein kleiner Quell von Dichtung noch lustig fort, ja die gemüthliche Anlage dazu hat sich in diesen Gegenden bis zur Gegenwart erhalten. Im Ganzen aber ist nichts mehr geeignet, von den fürchterlichen Wir¬ kungen der Kriege im 17. Jahrhundert einen Begriffs zu geben, als das Schwinden und Ausdörren der Volkspoesie. Die verbrannten Gebäude sind seit jener Zeit mehr als einmal wiederhergestellt worden, die weiten Wüste¬ neien sind wieder mit ackerbauenden Männern und weidenden Vieh besetzt, aber ein Verlust, welchen die Seele des deutschen Volkes damals erhalten, ist nicht wieder ersetzt worden. Allerdings ist es ungenau, dem politischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/453>, abgerufen am 23.07.2024.