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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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poetische Schaffen der Deutschen in dem Gegensatz zwischen gelehrter Bildung
und volksthümlichen Wesen sich bewegte. Mit dem Christenthum und der
geistigen Abhängigkeit von Rom kamen die römische Sprache, die Trümmer
antiker Bildung auch nach Deutschland. In den Klöstern und an den Höfen
der Fürsten entwickelte sich daraus ein Kreis von Anschauungen und Kennt¬
nissen, die Anfänge einer eigenthümlichen Bildung, welche zwar ihren Niederschlag
unaufhörlich auch in die Herzen deS Volks ablagerte, zu. jeder Zeit aber als ein
Besttzthum Bevorzugter der Empfindung und Sprechweise des Volks gegen¬
überstand. Der gebildete Chronist und Dichter des 9. und 1t). Jahrhunderts
schrieb und dichtete in der Regel lateinisch, und wo er die deutsche Sprache
gebrauchte, trug er mit oder ohne Absicht einiges von dem Stil und der
Seele der Gelehrtensprache in die deutschen Poesien über. Als im 11. und
12. Jahrhundert die große Erhebung der europäischen Völker den Ritterstand
emporhob und zum Hauptträger damaliger eleganter Bildung machte, wurden
außer dem Lateinischen auch die gallischen Sprachen, besonders das nord-
französische und ihre sittlichen und poetischen Vorstellungen Ingredienzen der
deutschen Bildung, und über der lateinischen Mönchspoesie entwickelte sich Epik
und Lyrik der höfischen Dichter wieder in eigenthümlicher Erclusivität, in einem
bestimmten Kreise von Anschauungen und conventionellen Formen. Als aber
nach den Kreuzzügen der Adel zerfiel und neben ihm der Bürgerstand der
Städte zur Herrschaft herauswuchs, da wurde eine ungleich größere Schicht
deS Volkes Träger der traditionellen Bildung, die Masse des Volks fing an,
mit ihren Sympathien, Stimmungen, mit ihren Bildern, Melodien und Weisen
dem Culturleben näher zu rücken. Und was bis dahin einander in ziemlich strenger
Geschiedenheit gegenübergestanden hatte, die Poesie der Mönche und Ritter und
die der untern Schichten des Volks, das begann sich stärker zu kreuzen und zu
verbinden, so daß beides durch die Berührung mit dem andern verändert
wurde. -- Denn das Volk hatte gegenüber den Privilegirten in den vorhergehenden
Jahrhunderten einen großen und durchaus nicht den schlechtesten Theil deutscher
productiver Kraft in seiner Weise offenbart. Zugleich zäh und treu hatte es
lange an den Formen und Stoffen der deutschen heidnischen Poesie festgehalten
und wie sehr ein starker Drang, Neues zu schassen, und die Niederschläge der vor¬
nehmen Bildung die uralten Dichtungen und Melodien umwandelten, die Volks¬
poesie bewahrte doch ihre Originalität, ihre Fortentwicklung geschah langsam und
allmälig, aber gesunder und origineller, als die der gebildeten Poesie. Viel trug
dazu bei, daß eine eigne, wenig geachtete Classe von Spielern, Musikern und
Sängern, die fahrenden Leute des Mittelalters, als Verbreiter der Volks¬
poesien sich gegenüber dem Haß der Kirche und der Verachtung der Vor¬
nehmen erhielt. So reich aber der Schatz von epischen Gedichten ist, welcher uns
aus dem Volksleben deS Mittelalters erhalten blieb, so gering ist bie lyrische


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poetische Schaffen der Deutschen in dem Gegensatz zwischen gelehrter Bildung
und volksthümlichen Wesen sich bewegte. Mit dem Christenthum und der
geistigen Abhängigkeit von Rom kamen die römische Sprache, die Trümmer
antiker Bildung auch nach Deutschland. In den Klöstern und an den Höfen
der Fürsten entwickelte sich daraus ein Kreis von Anschauungen und Kennt¬
nissen, die Anfänge einer eigenthümlichen Bildung, welche zwar ihren Niederschlag
unaufhörlich auch in die Herzen deS Volks ablagerte, zu. jeder Zeit aber als ein
Besttzthum Bevorzugter der Empfindung und Sprechweise des Volks gegen¬
überstand. Der gebildete Chronist und Dichter des 9. und 1t). Jahrhunderts
schrieb und dichtete in der Regel lateinisch, und wo er die deutsche Sprache
gebrauchte, trug er mit oder ohne Absicht einiges von dem Stil und der
Seele der Gelehrtensprache in die deutschen Poesien über. Als im 11. und
12. Jahrhundert die große Erhebung der europäischen Völker den Ritterstand
emporhob und zum Hauptträger damaliger eleganter Bildung machte, wurden
außer dem Lateinischen auch die gallischen Sprachen, besonders das nord-
französische und ihre sittlichen und poetischen Vorstellungen Ingredienzen der
deutschen Bildung, und über der lateinischen Mönchspoesie entwickelte sich Epik
und Lyrik der höfischen Dichter wieder in eigenthümlicher Erclusivität, in einem
bestimmten Kreise von Anschauungen und conventionellen Formen. Als aber
nach den Kreuzzügen der Adel zerfiel und neben ihm der Bürgerstand der
Städte zur Herrschaft herauswuchs, da wurde eine ungleich größere Schicht
deS Volkes Träger der traditionellen Bildung, die Masse des Volks fing an,
mit ihren Sympathien, Stimmungen, mit ihren Bildern, Melodien und Weisen
dem Culturleben näher zu rücken. Und was bis dahin einander in ziemlich strenger
Geschiedenheit gegenübergestanden hatte, die Poesie der Mönche und Ritter und
die der untern Schichten des Volks, das begann sich stärker zu kreuzen und zu
verbinden, so daß beides durch die Berührung mit dem andern verändert
wurde. — Denn das Volk hatte gegenüber den Privilegirten in den vorhergehenden
Jahrhunderten einen großen und durchaus nicht den schlechtesten Theil deutscher
productiver Kraft in seiner Weise offenbart. Zugleich zäh und treu hatte es
lange an den Formen und Stoffen der deutschen heidnischen Poesie festgehalten
und wie sehr ein starker Drang, Neues zu schassen, und die Niederschläge der vor¬
nehmen Bildung die uralten Dichtungen und Melodien umwandelten, die Volks¬
poesie bewahrte doch ihre Originalität, ihre Fortentwicklung geschah langsam und
allmälig, aber gesunder und origineller, als die der gebildeten Poesie. Viel trug
dazu bei, daß eine eigne, wenig geachtete Classe von Spielern, Musikern und
Sängern, die fahrenden Leute des Mittelalters, als Verbreiter der Volks¬
poesien sich gegenüber dem Haß der Kirche und der Verachtung der Vor¬
nehmen erhielt. So reich aber der Schatz von epischen Gedichten ist, welcher uns
aus dem Volksleben deS Mittelalters erhalten blieb, so gering ist bie lyrische


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[0451] poetische Schaffen der Deutschen in dem Gegensatz zwischen gelehrter Bildung und volksthümlichen Wesen sich bewegte. Mit dem Christenthum und der geistigen Abhängigkeit von Rom kamen die römische Sprache, die Trümmer antiker Bildung auch nach Deutschland. In den Klöstern und an den Höfen der Fürsten entwickelte sich daraus ein Kreis von Anschauungen und Kennt¬ nissen, die Anfänge einer eigenthümlichen Bildung, welche zwar ihren Niederschlag unaufhörlich auch in die Herzen deS Volks ablagerte, zu. jeder Zeit aber als ein Besttzthum Bevorzugter der Empfindung und Sprechweise des Volks gegen¬ überstand. Der gebildete Chronist und Dichter des 9. und 1t). Jahrhunderts schrieb und dichtete in der Regel lateinisch, und wo er die deutsche Sprache gebrauchte, trug er mit oder ohne Absicht einiges von dem Stil und der Seele der Gelehrtensprache in die deutschen Poesien über. Als im 11. und 12. Jahrhundert die große Erhebung der europäischen Völker den Ritterstand emporhob und zum Hauptträger damaliger eleganter Bildung machte, wurden außer dem Lateinischen auch die gallischen Sprachen, besonders das nord- französische und ihre sittlichen und poetischen Vorstellungen Ingredienzen der deutschen Bildung, und über der lateinischen Mönchspoesie entwickelte sich Epik und Lyrik der höfischen Dichter wieder in eigenthümlicher Erclusivität, in einem bestimmten Kreise von Anschauungen und conventionellen Formen. Als aber nach den Kreuzzügen der Adel zerfiel und neben ihm der Bürgerstand der Städte zur Herrschaft herauswuchs, da wurde eine ungleich größere Schicht deS Volkes Träger der traditionellen Bildung, die Masse des Volks fing an, mit ihren Sympathien, Stimmungen, mit ihren Bildern, Melodien und Weisen dem Culturleben näher zu rücken. Und was bis dahin einander in ziemlich strenger Geschiedenheit gegenübergestanden hatte, die Poesie der Mönche und Ritter und die der untern Schichten des Volks, das begann sich stärker zu kreuzen und zu verbinden, so daß beides durch die Berührung mit dem andern verändert wurde. — Denn das Volk hatte gegenüber den Privilegirten in den vorhergehenden Jahrhunderten einen großen und durchaus nicht den schlechtesten Theil deutscher productiver Kraft in seiner Weise offenbart. Zugleich zäh und treu hatte es lange an den Formen und Stoffen der deutschen heidnischen Poesie festgehalten und wie sehr ein starker Drang, Neues zu schassen, und die Niederschläge der vor¬ nehmen Bildung die uralten Dichtungen und Melodien umwandelten, die Volks¬ poesie bewahrte doch ihre Originalität, ihre Fortentwicklung geschah langsam und allmälig, aber gesunder und origineller, als die der gebildeten Poesie. Viel trug dazu bei, daß eine eigne, wenig geachtete Classe von Spielern, Musikern und Sängern, die fahrenden Leute des Mittelalters, als Verbreiter der Volks¬ poesien sich gegenüber dem Haß der Kirche und der Verachtung der Vor¬ nehmen erhielt. So reich aber der Schatz von epischen Gedichten ist, welcher uns aus dem Volksleben deS Mittelalters erhalten blieb, so gering ist bie lyrische 56*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/451>, abgerufen am 23.07.2024.