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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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bringt lediglich der Religion und öffentlichen Moral einen schweren und furcht¬
baren Schaden. Es ist ein Vorurtheil zu glauben, daß die Staatsraison Acte
sittlich zu machen vermag, welche die Privatmoral verdammt. Die öffentlichen
Beispiele sprechen noch viel lauter als die Privathandlungen und wenn es
wahr ist, daß eine schlechte Regierung in der Regel die Wirkung der Verderb-
niß deS Volkes ist, so ist es ebenso wahr, daß die Verderbniß des Volkes
unter einer schlechten Regierung nur noch steigt. Die Massen reflectiren wie
Spiegel in größerem oder kleinerem Maßstab die Laster ihrer Regierer. Wenn
sie sehen, daß die Regierenden um die beschworenen Eide sich nicht kümmern,
ungerecht und rachsüchtig sind, so neigen sie sich ebenfalls zur Unredlichkeit,
Treulosigkeit, Anmaßung, zum Zorn und zur Rache. Allmälig lösen und
lockern sich alsdann die Bande der Religion und Moral, diese Grundfesten
jeder menschlichen Gesellschaft. Man jammert darüber nutzlos und zu spät und
man schreibt die Ursache dieser Erscheinung den revolutionären Wühlereien des
Pöbels zu. Aber das ist ein Irrthum: die wahre Ursache jener Wühlereien
ist die bestehende Corruption, ohne welche die Wühlereien wirkungslos sein
und ohne welche auch die Revolutionen nicht stattfinden oder doch friedlich und
zur Befriedigung aller enden würden. Man kann daher unbedenklich ver¬
sichern, daß, wenn bei einer neuen Veränderung der öffentlichen Zustände,
was Gott verhüte, die Zügellostgkeit statt der Freiheit siegt, die Hauptschuld
denjenigen Regierungen beigemessen werden muß, welche überall und auf alle
Weise die Corruption säen. Diese Regierungen sagen sich zwar, daß die Re¬
volutionen, mit denen man sie bedroht und diese selbst durch Nährung des Zwie¬
spalts und des Hasses schüren, Excesse begehen werden, welche die Rückkehr der
Tyrannei wieder nothwendig machen werden; aber mögen sie sich hüten, unter
den Ruinen begraben zu werden, die sie vorbereitet haben und die Hoffnungen
der Restauration, welche sie nähren, theuer zu bezahlen."

So Ranalli. Die piemontesische Schule, welche er vertritt, besitzt jedoch
nicht mehr denselben Einfluß als vor zehn Jahren. Sie ist in den Hinter¬
grund gedrängt worden durch eine neue politische Schule, die von Gioberti
selbst, dem Vater dieser piemontesischen Schule, gegründet wurde. Bis zum
Jahre 1848 hatte Gioberti zu den Grundsätzen sich bekannt, welche noch heute
Ranalli vertheidigt. Aber das Unheil und die Täuschungen, die er in jenem
Jahr erlebte, führten ihn zu andern Ideen, die er in seinem letzten Werke,
dem "Kilinovsmento civile ä'Italia" entwickelte, nach dessen Abfassung er ge¬
storben ist und das sein politisches Testament bildet. Die piemontesische Schule,
sagt Gioberti in diesem Werke, hat sich überlebt. Sie erstrebte die Wieder¬
erstehung (Ki8c>rAimönto) Italiens durch Mittel, deren Vergeblichkeit die Er¬
fahrung gelehrt hat und die ferner anzuwenden chimärisch sein würde. Das
Risorgimento gründete sich im Innern auf die patriotische Einigung der italie-


bringt lediglich der Religion und öffentlichen Moral einen schweren und furcht¬
baren Schaden. Es ist ein Vorurtheil zu glauben, daß die Staatsraison Acte
sittlich zu machen vermag, welche die Privatmoral verdammt. Die öffentlichen
Beispiele sprechen noch viel lauter als die Privathandlungen und wenn es
wahr ist, daß eine schlechte Regierung in der Regel die Wirkung der Verderb-
niß deS Volkes ist, so ist es ebenso wahr, daß die Verderbniß des Volkes
unter einer schlechten Regierung nur noch steigt. Die Massen reflectiren wie
Spiegel in größerem oder kleinerem Maßstab die Laster ihrer Regierer. Wenn
sie sehen, daß die Regierenden um die beschworenen Eide sich nicht kümmern,
ungerecht und rachsüchtig sind, so neigen sie sich ebenfalls zur Unredlichkeit,
Treulosigkeit, Anmaßung, zum Zorn und zur Rache. Allmälig lösen und
lockern sich alsdann die Bande der Religion und Moral, diese Grundfesten
jeder menschlichen Gesellschaft. Man jammert darüber nutzlos und zu spät und
man schreibt die Ursache dieser Erscheinung den revolutionären Wühlereien des
Pöbels zu. Aber das ist ein Irrthum: die wahre Ursache jener Wühlereien
ist die bestehende Corruption, ohne welche die Wühlereien wirkungslos sein
und ohne welche auch die Revolutionen nicht stattfinden oder doch friedlich und
zur Befriedigung aller enden würden. Man kann daher unbedenklich ver¬
sichern, daß, wenn bei einer neuen Veränderung der öffentlichen Zustände,
was Gott verhüte, die Zügellostgkeit statt der Freiheit siegt, die Hauptschuld
denjenigen Regierungen beigemessen werden muß, welche überall und auf alle
Weise die Corruption säen. Diese Regierungen sagen sich zwar, daß die Re¬
volutionen, mit denen man sie bedroht und diese selbst durch Nährung des Zwie¬
spalts und des Hasses schüren, Excesse begehen werden, welche die Rückkehr der
Tyrannei wieder nothwendig machen werden; aber mögen sie sich hüten, unter
den Ruinen begraben zu werden, die sie vorbereitet haben und die Hoffnungen
der Restauration, welche sie nähren, theuer zu bezahlen."

So Ranalli. Die piemontesische Schule, welche er vertritt, besitzt jedoch
nicht mehr denselben Einfluß als vor zehn Jahren. Sie ist in den Hinter¬
grund gedrängt worden durch eine neue politische Schule, die von Gioberti
selbst, dem Vater dieser piemontesischen Schule, gegründet wurde. Bis zum
Jahre 1848 hatte Gioberti zu den Grundsätzen sich bekannt, welche noch heute
Ranalli vertheidigt. Aber das Unheil und die Täuschungen, die er in jenem
Jahr erlebte, führten ihn zu andern Ideen, die er in seinem letzten Werke,
dem „Kilinovsmento civile ä'Italia" entwickelte, nach dessen Abfassung er ge¬
storben ist und das sein politisches Testament bildet. Die piemontesische Schule,
sagt Gioberti in diesem Werke, hat sich überlebt. Sie erstrebte die Wieder¬
erstehung (Ki8c>rAimönto) Italiens durch Mittel, deren Vergeblichkeit die Er¬
fahrung gelehrt hat und die ferner anzuwenden chimärisch sein würde. Das
Risorgimento gründete sich im Innern auf die patriotische Einigung der italie-


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[0422] bringt lediglich der Religion und öffentlichen Moral einen schweren und furcht¬ baren Schaden. Es ist ein Vorurtheil zu glauben, daß die Staatsraison Acte sittlich zu machen vermag, welche die Privatmoral verdammt. Die öffentlichen Beispiele sprechen noch viel lauter als die Privathandlungen und wenn es wahr ist, daß eine schlechte Regierung in der Regel die Wirkung der Verderb- niß deS Volkes ist, so ist es ebenso wahr, daß die Verderbniß des Volkes unter einer schlechten Regierung nur noch steigt. Die Massen reflectiren wie Spiegel in größerem oder kleinerem Maßstab die Laster ihrer Regierer. Wenn sie sehen, daß die Regierenden um die beschworenen Eide sich nicht kümmern, ungerecht und rachsüchtig sind, so neigen sie sich ebenfalls zur Unredlichkeit, Treulosigkeit, Anmaßung, zum Zorn und zur Rache. Allmälig lösen und lockern sich alsdann die Bande der Religion und Moral, diese Grundfesten jeder menschlichen Gesellschaft. Man jammert darüber nutzlos und zu spät und man schreibt die Ursache dieser Erscheinung den revolutionären Wühlereien des Pöbels zu. Aber das ist ein Irrthum: die wahre Ursache jener Wühlereien ist die bestehende Corruption, ohne welche die Wühlereien wirkungslos sein und ohne welche auch die Revolutionen nicht stattfinden oder doch friedlich und zur Befriedigung aller enden würden. Man kann daher unbedenklich ver¬ sichern, daß, wenn bei einer neuen Veränderung der öffentlichen Zustände, was Gott verhüte, die Zügellostgkeit statt der Freiheit siegt, die Hauptschuld denjenigen Regierungen beigemessen werden muß, welche überall und auf alle Weise die Corruption säen. Diese Regierungen sagen sich zwar, daß die Re¬ volutionen, mit denen man sie bedroht und diese selbst durch Nährung des Zwie¬ spalts und des Hasses schüren, Excesse begehen werden, welche die Rückkehr der Tyrannei wieder nothwendig machen werden; aber mögen sie sich hüten, unter den Ruinen begraben zu werden, die sie vorbereitet haben und die Hoffnungen der Restauration, welche sie nähren, theuer zu bezahlen." So Ranalli. Die piemontesische Schule, welche er vertritt, besitzt jedoch nicht mehr denselben Einfluß als vor zehn Jahren. Sie ist in den Hinter¬ grund gedrängt worden durch eine neue politische Schule, die von Gioberti selbst, dem Vater dieser piemontesischen Schule, gegründet wurde. Bis zum Jahre 1848 hatte Gioberti zu den Grundsätzen sich bekannt, welche noch heute Ranalli vertheidigt. Aber das Unheil und die Täuschungen, die er in jenem Jahr erlebte, führten ihn zu andern Ideen, die er in seinem letzten Werke, dem „Kilinovsmento civile ä'Italia" entwickelte, nach dessen Abfassung er ge¬ storben ist und das sein politisches Testament bildet. Die piemontesische Schule, sagt Gioberti in diesem Werke, hat sich überlebt. Sie erstrebte die Wieder¬ erstehung (Ki8c>rAimönto) Italiens durch Mittel, deren Vergeblichkeit die Er¬ fahrung gelehrt hat und die ferner anzuwenden chimärisch sein würde. Das Risorgimento gründete sich im Innern auf die patriotische Einigung der italie-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/422>, abgerufen am 22.12.2024.