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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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müssen die Italiener über das Schicksal ihres Vaterlandes vergießen, sagt
Gioberti, wenn ein solcher Geist fortdauern sollte.

Aber nicht allein diese municipale Engherzigkeit ist Schuld an dem Un¬
glück Italiens, auch die Vernachlässigung der nationalen Religion, Litera¬
tur, der Mangel an politischer Bildung tragen wesentlich zum Verfall der
Nation bei.

"Die Selbstständigkeit eines Volkes," sagt Gioberti, "beruht vor allem
auf der Originalität und Eigenthümlichkeit seines Geistes, und dieser Geist hat
zum Ausdruck nicht allein die Gesetze und Institutionen, sondern auch den
Stand der allgemeinen Bildung, den Stand der Religion und Literatur. Wo
ist nun unser religiöser Glaube? Wir verachten die Religion unserer Väter,
statt sie fortzubilden und zu reinigen, statt die Schätze zu benutzen, von denen
sie voll ist, und wir vergessen, daß dies der einzige Rest jener alten Ober¬
herrschaft und jenes alten Kosmopolitismus ist, die wir in der Welt ausgeübt
haben!" Merkwürdig genug ist die katholische Religion am wenigsten in dem
Lande geachtet, welches die Metropole dieser Religion in sich schließt. Unter
allen katholischen Staaten sind die italienischen am wenigsten mit dem römischen
Hofe in Einverständniß. Weder Frankreich noch Oestreich haben Streitigkeiten
mit Rom gehabt, wie sie in letzter Zeit zwischen Rom und Sardinien, zwischen
Rom und Neapel vorgekommen sind. Daß aber der katholische Glaube im
Volke tief erschüttert ist, daß er in Italien weniger Wurzel hat, als in Frank¬
reich und Oestreich, ist bekannt, und wird auch von Gioberti bestätigt.

In gleichem Zustande befindet sich die Literatur. "Während die uns
benachbarten großen Nationen," bemerkt Gioberti, "ihre nationale Einheit
dadurch beginnen oder befestigen, daß sie eine eigenthümliche Literatur bilden
oder unterhalten, lassen wir den zweifachen Schatz verfallen und verkümmern,
den wir von unsern Vätern und Ahnen ererbt haben." Es ist Thatsache, daß
seit sechzig Jahren, seit Alfieri, die Originalität der italienischen Literatur
verschwunden ist. Kein großes Werk der Literatur ist seitdem erschienen. Die
Schriftsprache hat ihre Reinheit verloren und ist mit Gallicismen und Ger¬
manismen versetzt; die Artikel der Zeitungen lesen sich wie Uebersetzungen aus
dem Französischen. Von diesem literarischen Trabantenthum ssg-tellisio) ist
Gioberti selbst nicht frei, obgleich er gegen dasselbe eifert. Das Studium der
hegelschen Philosophie hat seinen Stil bisweilen dunkel und gezwungen ge¬
macht, und wie Ranalli über ihn urtheilt, hat er die abscheuliche Gewohnheit,
die gewöhnlichsten Ideen in abstrakten und unverständlichen Formen darzu¬
stellen.

Nicht minder folgt Italien in der Politik den Eingebungen des Auslandes.
Die erste französische Revolution unterbrach gewaltsam die Reformen, welche
damals die Fürsten begonnen hatten, und die französische Revolution von


SS*

müssen die Italiener über das Schicksal ihres Vaterlandes vergießen, sagt
Gioberti, wenn ein solcher Geist fortdauern sollte.

Aber nicht allein diese municipale Engherzigkeit ist Schuld an dem Un¬
glück Italiens, auch die Vernachlässigung der nationalen Religion, Litera¬
tur, der Mangel an politischer Bildung tragen wesentlich zum Verfall der
Nation bei.

„Die Selbstständigkeit eines Volkes," sagt Gioberti, „beruht vor allem
auf der Originalität und Eigenthümlichkeit seines Geistes, und dieser Geist hat
zum Ausdruck nicht allein die Gesetze und Institutionen, sondern auch den
Stand der allgemeinen Bildung, den Stand der Religion und Literatur. Wo
ist nun unser religiöser Glaube? Wir verachten die Religion unserer Väter,
statt sie fortzubilden und zu reinigen, statt die Schätze zu benutzen, von denen
sie voll ist, und wir vergessen, daß dies der einzige Rest jener alten Ober¬
herrschaft und jenes alten Kosmopolitismus ist, die wir in der Welt ausgeübt
haben!" Merkwürdig genug ist die katholische Religion am wenigsten in dem
Lande geachtet, welches die Metropole dieser Religion in sich schließt. Unter
allen katholischen Staaten sind die italienischen am wenigsten mit dem römischen
Hofe in Einverständniß. Weder Frankreich noch Oestreich haben Streitigkeiten
mit Rom gehabt, wie sie in letzter Zeit zwischen Rom und Sardinien, zwischen
Rom und Neapel vorgekommen sind. Daß aber der katholische Glaube im
Volke tief erschüttert ist, daß er in Italien weniger Wurzel hat, als in Frank¬
reich und Oestreich, ist bekannt, und wird auch von Gioberti bestätigt.

In gleichem Zustande befindet sich die Literatur. „Während die uns
benachbarten großen Nationen," bemerkt Gioberti, „ihre nationale Einheit
dadurch beginnen oder befestigen, daß sie eine eigenthümliche Literatur bilden
oder unterhalten, lassen wir den zweifachen Schatz verfallen und verkümmern,
den wir von unsern Vätern und Ahnen ererbt haben." Es ist Thatsache, daß
seit sechzig Jahren, seit Alfieri, die Originalität der italienischen Literatur
verschwunden ist. Kein großes Werk der Literatur ist seitdem erschienen. Die
Schriftsprache hat ihre Reinheit verloren und ist mit Gallicismen und Ger¬
manismen versetzt; die Artikel der Zeitungen lesen sich wie Uebersetzungen aus
dem Französischen. Von diesem literarischen Trabantenthum ssg-tellisio) ist
Gioberti selbst nicht frei, obgleich er gegen dasselbe eifert. Das Studium der
hegelschen Philosophie hat seinen Stil bisweilen dunkel und gezwungen ge¬
macht, und wie Ranalli über ihn urtheilt, hat er die abscheuliche Gewohnheit,
die gewöhnlichsten Ideen in abstrakten und unverständlichen Formen darzu¬
stellen.

Nicht minder folgt Italien in der Politik den Eingebungen des Auslandes.
Die erste französische Revolution unterbrach gewaltsam die Reformen, welche
damals die Fürsten begonnen hatten, und die französische Revolution von


SS*
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[0419] müssen die Italiener über das Schicksal ihres Vaterlandes vergießen, sagt Gioberti, wenn ein solcher Geist fortdauern sollte. Aber nicht allein diese municipale Engherzigkeit ist Schuld an dem Un¬ glück Italiens, auch die Vernachlässigung der nationalen Religion, Litera¬ tur, der Mangel an politischer Bildung tragen wesentlich zum Verfall der Nation bei. „Die Selbstständigkeit eines Volkes," sagt Gioberti, „beruht vor allem auf der Originalität und Eigenthümlichkeit seines Geistes, und dieser Geist hat zum Ausdruck nicht allein die Gesetze und Institutionen, sondern auch den Stand der allgemeinen Bildung, den Stand der Religion und Literatur. Wo ist nun unser religiöser Glaube? Wir verachten die Religion unserer Väter, statt sie fortzubilden und zu reinigen, statt die Schätze zu benutzen, von denen sie voll ist, und wir vergessen, daß dies der einzige Rest jener alten Ober¬ herrschaft und jenes alten Kosmopolitismus ist, die wir in der Welt ausgeübt haben!" Merkwürdig genug ist die katholische Religion am wenigsten in dem Lande geachtet, welches die Metropole dieser Religion in sich schließt. Unter allen katholischen Staaten sind die italienischen am wenigsten mit dem römischen Hofe in Einverständniß. Weder Frankreich noch Oestreich haben Streitigkeiten mit Rom gehabt, wie sie in letzter Zeit zwischen Rom und Sardinien, zwischen Rom und Neapel vorgekommen sind. Daß aber der katholische Glaube im Volke tief erschüttert ist, daß er in Italien weniger Wurzel hat, als in Frank¬ reich und Oestreich, ist bekannt, und wird auch von Gioberti bestätigt. In gleichem Zustande befindet sich die Literatur. „Während die uns benachbarten großen Nationen," bemerkt Gioberti, „ihre nationale Einheit dadurch beginnen oder befestigen, daß sie eine eigenthümliche Literatur bilden oder unterhalten, lassen wir den zweifachen Schatz verfallen und verkümmern, den wir von unsern Vätern und Ahnen ererbt haben." Es ist Thatsache, daß seit sechzig Jahren, seit Alfieri, die Originalität der italienischen Literatur verschwunden ist. Kein großes Werk der Literatur ist seitdem erschienen. Die Schriftsprache hat ihre Reinheit verloren und ist mit Gallicismen und Ger¬ manismen versetzt; die Artikel der Zeitungen lesen sich wie Uebersetzungen aus dem Französischen. Von diesem literarischen Trabantenthum ssg-tellisio) ist Gioberti selbst nicht frei, obgleich er gegen dasselbe eifert. Das Studium der hegelschen Philosophie hat seinen Stil bisweilen dunkel und gezwungen ge¬ macht, und wie Ranalli über ihn urtheilt, hat er die abscheuliche Gewohnheit, die gewöhnlichsten Ideen in abstrakten und unverständlichen Formen darzu¬ stellen. Nicht minder folgt Italien in der Politik den Eingebungen des Auslandes. Die erste französische Revolution unterbrach gewaltsam die Reformen, welche damals die Fürsten begonnen hatten, und die französische Revolution von SS*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/419>, abgerufen am 22.12.2024.