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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Fortdauer des römischen MunicipalsystemS, die Ansammlungen der Bevölkerung
um die Schlösser der einzelnen Herren, die von denselben im Austausch gegen
bestimmte Leistungen gewisse Concessionen erhielten, endlich die eigentlichen
Communen, die mit bewaffneter Hand sich die Freiheit erkämpften. Die Ge¬
schichte des Bürgerstandes fällt mit der Geschichte der Communalfreiheit keines¬
wegs zusammen, im Gegentheil beginnt seine Blüte erst, als die letztere ge¬
brochen war. Mehr des Anstands wegen setzt Guizot hinzu, eS sei das ein
beklagenswerther Umstand; eigentlich ist er damit völlig zufrieden, denn im
Begriff der staatlichen Centralisation steht er auf einer Stufe mit seinen
Landsleuten.

Leider brechen hier die Vorlesungen ab. Guizot wurde zum Deputirten
gewählt, und die Kirchen- und Literaturgeschichte des Mittelalters blieb unge¬
schrieben. Sein Ehrgeiz trieb ihn in die Politik, weder zu seinem Glück, noch
zum Gedeihen seines Landes. Hätte er seinen wahren Beruf richtig erkannt, so
wären wir um ein classisches Geschichtswerk reicher geworden, dessen Torso uns
die größte Achtung abnöthigt.

Wir wenden uns noch einmal zur Geschichte der europäischen Civilisation
zurück. Das System des Mittelalters mußte gebrochen werden, weil eS aus¬
schließlich dem Particularismus und dem Privatrecht huldigte. Die nationale
Einheit, das Staatsrecht und die gemeinsame Bildung waren durch die vor¬
übergehende Herrschaft der absoluten Monarchie nicht zu theuer erkauft. --
Bei der Charakteristik der Reformation hatte Guizot als Protestant einem
katholischen Pubttcum gegenüber eine schwierige Lage. Er ist sich derselben
wohl bewußt und tritt im Anfang sehr vorsichtig auf, mit einer Menge Restrik¬
tionen und Cautelen. Er scheint im Anfang seinen Zuhörern das 16. Jahr¬
hundert in keiner andern Beziehung, als seiner interessanten Aufregungen wegen
empfehlen zu wollen. Aber bald bricht seine Ueberzeugung durch. Er weist
zuerst die Nothwendigkeit einer kirchlichen Reform nach; dann zeigt er, daß
die Reformation ihrem innern Geist nach nichts Anderes war, als der Auf¬
schwung der geistigen Freiheit, des Gedankens und der sittlichen Autonomie
gegen die äußerliche Autorität; daß überall, wo die Reformation durchdrang,
oder auch nur zu einem ehrlichen Kampf zugelassen wurde, die Freiheit, der
natürliche Fortschritt und die Größe der Völker gefördert wurden, während die
Hauptvertreter der katholischen Kirche nicht nur Böses gewirkt haben, nicht
nur in ihrer Hauptaufgabe scheiterten, sondern auf eine klägliche, unwürdige
Weise scheiterten. Als Ludwig XIV. das Edict von Nantes aufhob, setzte vie
antichristliche Philosophie den Kampf fort und führte endlich zur Revolution.
Uebrigens schildert er den staatlichen Absolutismus Ludwigs XIV. im Gegen¬
satz zu der rohen Despotie Philipps it. in seiner Bedeutung für die Geschichte
der Civilisation in kräftigen Farben und deutet zum Schluß darauf hin, daß


Fortdauer des römischen MunicipalsystemS, die Ansammlungen der Bevölkerung
um die Schlösser der einzelnen Herren, die von denselben im Austausch gegen
bestimmte Leistungen gewisse Concessionen erhielten, endlich die eigentlichen
Communen, die mit bewaffneter Hand sich die Freiheit erkämpften. Die Ge¬
schichte des Bürgerstandes fällt mit der Geschichte der Communalfreiheit keines¬
wegs zusammen, im Gegentheil beginnt seine Blüte erst, als die letztere ge¬
brochen war. Mehr des Anstands wegen setzt Guizot hinzu, eS sei das ein
beklagenswerther Umstand; eigentlich ist er damit völlig zufrieden, denn im
Begriff der staatlichen Centralisation steht er auf einer Stufe mit seinen
Landsleuten.

Leider brechen hier die Vorlesungen ab. Guizot wurde zum Deputirten
gewählt, und die Kirchen- und Literaturgeschichte des Mittelalters blieb unge¬
schrieben. Sein Ehrgeiz trieb ihn in die Politik, weder zu seinem Glück, noch
zum Gedeihen seines Landes. Hätte er seinen wahren Beruf richtig erkannt, so
wären wir um ein classisches Geschichtswerk reicher geworden, dessen Torso uns
die größte Achtung abnöthigt.

Wir wenden uns noch einmal zur Geschichte der europäischen Civilisation
zurück. Das System des Mittelalters mußte gebrochen werden, weil eS aus¬
schließlich dem Particularismus und dem Privatrecht huldigte. Die nationale
Einheit, das Staatsrecht und die gemeinsame Bildung waren durch die vor¬
übergehende Herrschaft der absoluten Monarchie nicht zu theuer erkauft. —
Bei der Charakteristik der Reformation hatte Guizot als Protestant einem
katholischen Pubttcum gegenüber eine schwierige Lage. Er ist sich derselben
wohl bewußt und tritt im Anfang sehr vorsichtig auf, mit einer Menge Restrik¬
tionen und Cautelen. Er scheint im Anfang seinen Zuhörern das 16. Jahr¬
hundert in keiner andern Beziehung, als seiner interessanten Aufregungen wegen
empfehlen zu wollen. Aber bald bricht seine Ueberzeugung durch. Er weist
zuerst die Nothwendigkeit einer kirchlichen Reform nach; dann zeigt er, daß
die Reformation ihrem innern Geist nach nichts Anderes war, als der Auf¬
schwung der geistigen Freiheit, des Gedankens und der sittlichen Autonomie
gegen die äußerliche Autorität; daß überall, wo die Reformation durchdrang,
oder auch nur zu einem ehrlichen Kampf zugelassen wurde, die Freiheit, der
natürliche Fortschritt und die Größe der Völker gefördert wurden, während die
Hauptvertreter der katholischen Kirche nicht nur Böses gewirkt haben, nicht
nur in ihrer Hauptaufgabe scheiterten, sondern auf eine klägliche, unwürdige
Weise scheiterten. Als Ludwig XIV. das Edict von Nantes aufhob, setzte vie
antichristliche Philosophie den Kampf fort und führte endlich zur Revolution.
Uebrigens schildert er den staatlichen Absolutismus Ludwigs XIV. im Gegen¬
satz zu der rohen Despotie Philipps it. in seiner Bedeutung für die Geschichte
der Civilisation in kräftigen Farben und deutet zum Schluß darauf hin, daß


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[0380] Fortdauer des römischen MunicipalsystemS, die Ansammlungen der Bevölkerung um die Schlösser der einzelnen Herren, die von denselben im Austausch gegen bestimmte Leistungen gewisse Concessionen erhielten, endlich die eigentlichen Communen, die mit bewaffneter Hand sich die Freiheit erkämpften. Die Ge¬ schichte des Bürgerstandes fällt mit der Geschichte der Communalfreiheit keines¬ wegs zusammen, im Gegentheil beginnt seine Blüte erst, als die letztere ge¬ brochen war. Mehr des Anstands wegen setzt Guizot hinzu, eS sei das ein beklagenswerther Umstand; eigentlich ist er damit völlig zufrieden, denn im Begriff der staatlichen Centralisation steht er auf einer Stufe mit seinen Landsleuten. Leider brechen hier die Vorlesungen ab. Guizot wurde zum Deputirten gewählt, und die Kirchen- und Literaturgeschichte des Mittelalters blieb unge¬ schrieben. Sein Ehrgeiz trieb ihn in die Politik, weder zu seinem Glück, noch zum Gedeihen seines Landes. Hätte er seinen wahren Beruf richtig erkannt, so wären wir um ein classisches Geschichtswerk reicher geworden, dessen Torso uns die größte Achtung abnöthigt. Wir wenden uns noch einmal zur Geschichte der europäischen Civilisation zurück. Das System des Mittelalters mußte gebrochen werden, weil eS aus¬ schließlich dem Particularismus und dem Privatrecht huldigte. Die nationale Einheit, das Staatsrecht und die gemeinsame Bildung waren durch die vor¬ übergehende Herrschaft der absoluten Monarchie nicht zu theuer erkauft. — Bei der Charakteristik der Reformation hatte Guizot als Protestant einem katholischen Pubttcum gegenüber eine schwierige Lage. Er ist sich derselben wohl bewußt und tritt im Anfang sehr vorsichtig auf, mit einer Menge Restrik¬ tionen und Cautelen. Er scheint im Anfang seinen Zuhörern das 16. Jahr¬ hundert in keiner andern Beziehung, als seiner interessanten Aufregungen wegen empfehlen zu wollen. Aber bald bricht seine Ueberzeugung durch. Er weist zuerst die Nothwendigkeit einer kirchlichen Reform nach; dann zeigt er, daß die Reformation ihrem innern Geist nach nichts Anderes war, als der Auf¬ schwung der geistigen Freiheit, des Gedankens und der sittlichen Autonomie gegen die äußerliche Autorität; daß überall, wo die Reformation durchdrang, oder auch nur zu einem ehrlichen Kampf zugelassen wurde, die Freiheit, der natürliche Fortschritt und die Größe der Völker gefördert wurden, während die Hauptvertreter der katholischen Kirche nicht nur Böses gewirkt haben, nicht nur in ihrer Hauptaufgabe scheiterten, sondern auf eine klägliche, unwürdige Weise scheiterten. Als Ludwig XIV. das Edict von Nantes aufhob, setzte vie antichristliche Philosophie den Kampf fort und führte endlich zur Revolution. Uebrigens schildert er den staatlichen Absolutismus Ludwigs XIV. im Gegen¬ satz zu der rohen Despotie Philipps it. in seiner Bedeutung für die Geschichte der Civilisation in kräftigen Farben und deutet zum Schluß darauf hin, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/380>, abgerufen am 23.07.2024.