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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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und durch die locale Zerstreuung wurde auch das gemeinsame sittliche Band,
die annäherungsweise sreie und volksthümliche Verfassung gelockert.

Was nun die gelehrte Begründung dieser Ansichten betrifft, so hatte
Guizot bereits in seinen Essais namentlich über die Entwicklung der Rechts¬
verhältnisse vieles gegeben. In den Vorlesungen fügt er theils im Tert, theils
im Anhang eine sehr reichliche Nachlese hinzu. In Bezug auf eine der wich¬
tigsten Streitfragen, das salische Gesetz, schließt er sich den Forschungen
WiardaS an; er faßt es nicht als eine ofstcielle Gesetzgebung auf, sondern als
eine Privatsammlung von Rechsgewohnheiten, deren Redaction erst in die Zeit
nach der Eroberung fällt. Ueberall sucht er nachzuweisen, daß der Respect
vor dem germanischen Recht auf Vorurtheilen beruht. Desto beredter wird er,
wenn er auf die Fortdauer des römischen Rechts in den Municipien zu sprechen
kommt; und das ist überhaupt die hervorragende Seite seiner Forschungen.
So unparteiisch er allen Momenten der Cultur gegenübertritt, so hält er doch
die Reste der römischen Cultur für die Hauptsache der modernen Entwicklung.
In jener Streitfrage stützt er sich hauptsächlich auf Savigny, da er die Ein¬
seitigkeit Naynouards in der Ausdehnung des Municipalrechts über ganz
Frankreich durchschaut. Uebrigens hebt er die Schwächen Savignys sehr
scharf hervor, wie er sich gegen seine Vorgänger im Allgemeinen nicht liebens¬
würdig zeigt: er hätte bei aller Kritik in der Anerkennung ihrer Verdienste
wärmer sein können.

Ein vorzüglicher Abschnitt ist die Geschichte der Kirche unter den Mero-
vingern. Er zeigt, daß dieses Institut in dem Augenblick, wo die politische
Gesellschaft sich in ihre Elemente auflöste, einer kräftigen Einheit zustrebte und
durch dieses feste Band den Zusammenhang zwischen der alten und modernen
Cultur vermittelte. Eine interessante Episode ist die Geschichte der Einführung
des Mönchswesens in das Abendland. Obgleich sich die alten Kirchenlehrer
ziemlich bitter über die Ausschweifungen dieses Lebens aussprachen, boten sie
dennoch alle Kräfte auf, ihm Eingang zu verschaffen. Der Grund lag darin,
daß sie durch die Klöster, die zwar ursprünglich nicht zur Geistlichkeit gehörten,
ihrer eignen christlichen Gesellschaft einen Zuwachs verschafften und ihn der
heidnischen, die der erstem äußerlich noch immer gegenüberstand, entzogen.
Hauptsächlich von den Klöstern aus verbreitete sich jene Lehre vom passiven
Gehorsam, die im römischen Kaiserreich etwas Natürliches war, die aber den
Sitten der Germanen widersprach. Auch in dieser Beziehung haben die Klöster
zur Romanisirung des neuen Europa beigetragen..

Die geistliche Literatur jener Zeit verließ ganz den Pfad der Speculation;
sie wurde praktisch, und in ihrer Beredtsamkeit erhob sie sich zuweilen zu einem
Pathos, das an die besten Stellen in Milton erinnert. Die Hauptmasse der
Literatur bildeten aber die Legenden. Um von der Masse derselben einen Be-


und durch die locale Zerstreuung wurde auch das gemeinsame sittliche Band,
die annäherungsweise sreie und volksthümliche Verfassung gelockert.

Was nun die gelehrte Begründung dieser Ansichten betrifft, so hatte
Guizot bereits in seinen Essais namentlich über die Entwicklung der Rechts¬
verhältnisse vieles gegeben. In den Vorlesungen fügt er theils im Tert, theils
im Anhang eine sehr reichliche Nachlese hinzu. In Bezug auf eine der wich¬
tigsten Streitfragen, das salische Gesetz, schließt er sich den Forschungen
WiardaS an; er faßt es nicht als eine ofstcielle Gesetzgebung auf, sondern als
eine Privatsammlung von Rechsgewohnheiten, deren Redaction erst in die Zeit
nach der Eroberung fällt. Ueberall sucht er nachzuweisen, daß der Respect
vor dem germanischen Recht auf Vorurtheilen beruht. Desto beredter wird er,
wenn er auf die Fortdauer des römischen Rechts in den Municipien zu sprechen
kommt; und das ist überhaupt die hervorragende Seite seiner Forschungen.
So unparteiisch er allen Momenten der Cultur gegenübertritt, so hält er doch
die Reste der römischen Cultur für die Hauptsache der modernen Entwicklung.
In jener Streitfrage stützt er sich hauptsächlich auf Savigny, da er die Ein¬
seitigkeit Naynouards in der Ausdehnung des Municipalrechts über ganz
Frankreich durchschaut. Uebrigens hebt er die Schwächen Savignys sehr
scharf hervor, wie er sich gegen seine Vorgänger im Allgemeinen nicht liebens¬
würdig zeigt: er hätte bei aller Kritik in der Anerkennung ihrer Verdienste
wärmer sein können.

Ein vorzüglicher Abschnitt ist die Geschichte der Kirche unter den Mero-
vingern. Er zeigt, daß dieses Institut in dem Augenblick, wo die politische
Gesellschaft sich in ihre Elemente auflöste, einer kräftigen Einheit zustrebte und
durch dieses feste Band den Zusammenhang zwischen der alten und modernen
Cultur vermittelte. Eine interessante Episode ist die Geschichte der Einführung
des Mönchswesens in das Abendland. Obgleich sich die alten Kirchenlehrer
ziemlich bitter über die Ausschweifungen dieses Lebens aussprachen, boten sie
dennoch alle Kräfte auf, ihm Eingang zu verschaffen. Der Grund lag darin,
daß sie durch die Klöster, die zwar ursprünglich nicht zur Geistlichkeit gehörten,
ihrer eignen christlichen Gesellschaft einen Zuwachs verschafften und ihn der
heidnischen, die der erstem äußerlich noch immer gegenüberstand, entzogen.
Hauptsächlich von den Klöstern aus verbreitete sich jene Lehre vom passiven
Gehorsam, die im römischen Kaiserreich etwas Natürliches war, die aber den
Sitten der Germanen widersprach. Auch in dieser Beziehung haben die Klöster
zur Romanisirung des neuen Europa beigetragen..

Die geistliche Literatur jener Zeit verließ ganz den Pfad der Speculation;
sie wurde praktisch, und in ihrer Beredtsamkeit erhob sie sich zuweilen zu einem
Pathos, das an die besten Stellen in Milton erinnert. Die Hauptmasse der
Literatur bildeten aber die Legenden. Um von der Masse derselben einen Be-


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[0376] und durch die locale Zerstreuung wurde auch das gemeinsame sittliche Band, die annäherungsweise sreie und volksthümliche Verfassung gelockert. Was nun die gelehrte Begründung dieser Ansichten betrifft, so hatte Guizot bereits in seinen Essais namentlich über die Entwicklung der Rechts¬ verhältnisse vieles gegeben. In den Vorlesungen fügt er theils im Tert, theils im Anhang eine sehr reichliche Nachlese hinzu. In Bezug auf eine der wich¬ tigsten Streitfragen, das salische Gesetz, schließt er sich den Forschungen WiardaS an; er faßt es nicht als eine ofstcielle Gesetzgebung auf, sondern als eine Privatsammlung von Rechsgewohnheiten, deren Redaction erst in die Zeit nach der Eroberung fällt. Ueberall sucht er nachzuweisen, daß der Respect vor dem germanischen Recht auf Vorurtheilen beruht. Desto beredter wird er, wenn er auf die Fortdauer des römischen Rechts in den Municipien zu sprechen kommt; und das ist überhaupt die hervorragende Seite seiner Forschungen. So unparteiisch er allen Momenten der Cultur gegenübertritt, so hält er doch die Reste der römischen Cultur für die Hauptsache der modernen Entwicklung. In jener Streitfrage stützt er sich hauptsächlich auf Savigny, da er die Ein¬ seitigkeit Naynouards in der Ausdehnung des Municipalrechts über ganz Frankreich durchschaut. Uebrigens hebt er die Schwächen Savignys sehr scharf hervor, wie er sich gegen seine Vorgänger im Allgemeinen nicht liebens¬ würdig zeigt: er hätte bei aller Kritik in der Anerkennung ihrer Verdienste wärmer sein können. Ein vorzüglicher Abschnitt ist die Geschichte der Kirche unter den Mero- vingern. Er zeigt, daß dieses Institut in dem Augenblick, wo die politische Gesellschaft sich in ihre Elemente auflöste, einer kräftigen Einheit zustrebte und durch dieses feste Band den Zusammenhang zwischen der alten und modernen Cultur vermittelte. Eine interessante Episode ist die Geschichte der Einführung des Mönchswesens in das Abendland. Obgleich sich die alten Kirchenlehrer ziemlich bitter über die Ausschweifungen dieses Lebens aussprachen, boten sie dennoch alle Kräfte auf, ihm Eingang zu verschaffen. Der Grund lag darin, daß sie durch die Klöster, die zwar ursprünglich nicht zur Geistlichkeit gehörten, ihrer eignen christlichen Gesellschaft einen Zuwachs verschafften und ihn der heidnischen, die der erstem äußerlich noch immer gegenüberstand, entzogen. Hauptsächlich von den Klöstern aus verbreitete sich jene Lehre vom passiven Gehorsam, die im römischen Kaiserreich etwas Natürliches war, die aber den Sitten der Germanen widersprach. Auch in dieser Beziehung haben die Klöster zur Romanisirung des neuen Europa beigetragen.. Die geistliche Literatur jener Zeit verließ ganz den Pfad der Speculation; sie wurde praktisch, und in ihrer Beredtsamkeit erhob sie sich zuweilen zu einem Pathos, das an die besten Stellen in Milton erinnert. Die Hauptmasse der Literatur bildeten aber die Legenden. Um von der Masse derselben einen Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/376>, abgerufen am 23.07.2024.