Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

für ihn nicht, weil sie in der französischen Geschichte nicht eristirt. Er betrachtet
die allgemeine Civilisation ausschließlich vom Standpunkt eines Franzosen,
und man wird es gerechtfertigt finden, wenn wir die allgemeine Geschichte bei
Seite lassen und sofort zur Geschichte der französischen Civilisation über¬
gehen.-Z'in^ ^i^es'ijsS^lmj."Zs-j"gHiÄ ?i<A,',,

Die Vorlesungen des Jahres 1829 beschäftigen sich mit der ersten Periode
des Mittelalters, mit dem Zeitalter der Merovinger und Karolinger. Zuerst
analysirt Guizot die drei Elemente der Gesellschaft im Augenblick der Eroberung.
Die Darstellung der Reste des römischen Lebens in der Provinz ist muster¬
haft. Ueber die Zustände der christlichen Kirche im vierten Jahrhundert ent¬
hält das Buch gleichfalls interessante Notizen, namentlich über das Verhältniß
der heidnischen, pantheistischen Philosophie zu der christlichen, und den Einfluß
der einen auf die andere. Diese Notizen, in denen Guizot durchweg auf die
Quellen zurückgeht, haben das Eigenthümliche, daß von der übersinnlichen
Bedeutung des Christenthums nicht die Rede ist. Die christliche Kirche wird
als geschichtliche Thatsache betrachtet, und ihr Einfluß auf die allgemeine Civi¬
lisation nach rein irdischen Gesichtspunkten erörtert. Bei uns kann sich der
radikalste Philosoph, wenn er auf diesen Gegenstand zu sprechen kommt, einer
gewissen Symbolik nicht erwehren. Den unmittelbarsten Antheil nehmen wir
an der Darstellung der germanischen Gesellschaft. Durch eine Reihe Parallel¬
stellen, wo Tacitus mit den Reisebeschreibern verglichen wird, die über die
Indianer berichten, sucht Guizot nachzuweisen, daß die Deutschen vor der
Völkerwanderung und während derselben als Barbaren im strengsten Sinn
des Worts aufzufassen sind. Für die Franken, die er hier wol ausschließlich
im Auge hat, ist der Beweis aus eine überzeugende Art geführt. Der Fehler
liegt wieder darin, daß er zu schnell seine Studien über die Franken auf alle
Germanen ausdehnt. -- Einen bei weitem höhern Werth hat die Darstellung
des sechsten Jahrhunderts, die Besitznahme der bisherigen römischen Provinzen
durch die deutschen Stämme. Man erlaube uns hier auf das Urtheil Thierrys
zurückzugehen, dem wir in jedem Punkt beipflichten. Er schildert die Verwirrung
der frühern historischen Schule und den bleibenden Fortschritt!, den die Ge¬
schichte seit Guizot gemacht hat. "Guizot erhebt sich zu einer Gesammtschau,
die von den einzelnen Ereignissen rein absieht, die den zwiefachen Vorzug hat,
wie ein Lichtstrahl den gewöhnlichen Verstand zu treffen und in den Augen
der genauen und bis ins Kleinliche dringenden Wissenschaft untadelig zu blei¬
ben. Mit einem wunderbaren analytischen Talent begabt, dringt er wie
spielend Durch die dunkeln Epochen, durch diese Fülle von Widersprüchen, wo
die Elemente der Gesellschaft einander bestreiten, oder sich kaum unterscheiden
lassen. Er beschreibt ganz ausgezeichnet das Ordnungslose, das Flüchtige, das
Unvollständige im gesellschaftlichen Zustand, er läßt herausfühlen und begreifen,


für ihn nicht, weil sie in der französischen Geschichte nicht eristirt. Er betrachtet
die allgemeine Civilisation ausschließlich vom Standpunkt eines Franzosen,
und man wird es gerechtfertigt finden, wenn wir die allgemeine Geschichte bei
Seite lassen und sofort zur Geschichte der französischen Civilisation über¬
gehen.-Z'in^ ^i^es'ijsS^lmj.«Zs-j»gHiÄ ?i<A,',,

Die Vorlesungen des Jahres 1829 beschäftigen sich mit der ersten Periode
des Mittelalters, mit dem Zeitalter der Merovinger und Karolinger. Zuerst
analysirt Guizot die drei Elemente der Gesellschaft im Augenblick der Eroberung.
Die Darstellung der Reste des römischen Lebens in der Provinz ist muster¬
haft. Ueber die Zustände der christlichen Kirche im vierten Jahrhundert ent¬
hält das Buch gleichfalls interessante Notizen, namentlich über das Verhältniß
der heidnischen, pantheistischen Philosophie zu der christlichen, und den Einfluß
der einen auf die andere. Diese Notizen, in denen Guizot durchweg auf die
Quellen zurückgeht, haben das Eigenthümliche, daß von der übersinnlichen
Bedeutung des Christenthums nicht die Rede ist. Die christliche Kirche wird
als geschichtliche Thatsache betrachtet, und ihr Einfluß auf die allgemeine Civi¬
lisation nach rein irdischen Gesichtspunkten erörtert. Bei uns kann sich der
radikalste Philosoph, wenn er auf diesen Gegenstand zu sprechen kommt, einer
gewissen Symbolik nicht erwehren. Den unmittelbarsten Antheil nehmen wir
an der Darstellung der germanischen Gesellschaft. Durch eine Reihe Parallel¬
stellen, wo Tacitus mit den Reisebeschreibern verglichen wird, die über die
Indianer berichten, sucht Guizot nachzuweisen, daß die Deutschen vor der
Völkerwanderung und während derselben als Barbaren im strengsten Sinn
des Worts aufzufassen sind. Für die Franken, die er hier wol ausschließlich
im Auge hat, ist der Beweis aus eine überzeugende Art geführt. Der Fehler
liegt wieder darin, daß er zu schnell seine Studien über die Franken auf alle
Germanen ausdehnt. — Einen bei weitem höhern Werth hat die Darstellung
des sechsten Jahrhunderts, die Besitznahme der bisherigen römischen Provinzen
durch die deutschen Stämme. Man erlaube uns hier auf das Urtheil Thierrys
zurückzugehen, dem wir in jedem Punkt beipflichten. Er schildert die Verwirrung
der frühern historischen Schule und den bleibenden Fortschritt!, den die Ge¬
schichte seit Guizot gemacht hat. „Guizot erhebt sich zu einer Gesammtschau,
die von den einzelnen Ereignissen rein absieht, die den zwiefachen Vorzug hat,
wie ein Lichtstrahl den gewöhnlichen Verstand zu treffen und in den Augen
der genauen und bis ins Kleinliche dringenden Wissenschaft untadelig zu blei¬
ben. Mit einem wunderbaren analytischen Talent begabt, dringt er wie
spielend Durch die dunkeln Epochen, durch diese Fülle von Widersprüchen, wo
die Elemente der Gesellschaft einander bestreiten, oder sich kaum unterscheiden
lassen. Er beschreibt ganz ausgezeichnet das Ordnungslose, das Flüchtige, das
Unvollständige im gesellschaftlichen Zustand, er läßt herausfühlen und begreifen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0374" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103507"/>
            <p xml:id="ID_1343" prev="#ID_1342"> für ihn nicht, weil sie in der französischen Geschichte nicht eristirt. Er betrachtet<lb/>
die allgemeine Civilisation ausschließlich vom Standpunkt eines Franzosen,<lb/>
und man wird es gerechtfertigt finden, wenn wir die allgemeine Geschichte bei<lb/>
Seite lassen und sofort zur Geschichte der französischen Civilisation über¬<lb/>
gehen.-Z'in^ ^i^es'ijsS^lmj.«Zs-j»gHiÄ ?i&lt;A,',,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1344" next="#ID_1345"> Die Vorlesungen des Jahres 1829 beschäftigen sich mit der ersten Periode<lb/>
des Mittelalters, mit dem Zeitalter der Merovinger und Karolinger. Zuerst<lb/>
analysirt Guizot die drei Elemente der Gesellschaft im Augenblick der Eroberung.<lb/>
Die Darstellung der Reste des römischen Lebens in der Provinz ist muster¬<lb/>
haft. Ueber die Zustände der christlichen Kirche im vierten Jahrhundert ent¬<lb/>
hält das Buch gleichfalls interessante Notizen, namentlich über das Verhältniß<lb/>
der heidnischen, pantheistischen Philosophie zu der christlichen, und den Einfluß<lb/>
der einen auf die andere. Diese Notizen, in denen Guizot durchweg auf die<lb/>
Quellen zurückgeht, haben das Eigenthümliche, daß von der übersinnlichen<lb/>
Bedeutung des Christenthums nicht die Rede ist. Die christliche Kirche wird<lb/>
als geschichtliche Thatsache betrachtet, und ihr Einfluß auf die allgemeine Civi¬<lb/>
lisation nach rein irdischen Gesichtspunkten erörtert. Bei uns kann sich der<lb/>
radikalste Philosoph, wenn er auf diesen Gegenstand zu sprechen kommt, einer<lb/>
gewissen Symbolik nicht erwehren. Den unmittelbarsten Antheil nehmen wir<lb/>
an der Darstellung der germanischen Gesellschaft. Durch eine Reihe Parallel¬<lb/>
stellen, wo Tacitus mit den Reisebeschreibern verglichen wird, die über die<lb/>
Indianer berichten, sucht Guizot nachzuweisen, daß die Deutschen vor der<lb/>
Völkerwanderung und während derselben als Barbaren im strengsten Sinn<lb/>
des Worts aufzufassen sind. Für die Franken, die er hier wol ausschließlich<lb/>
im Auge hat, ist der Beweis aus eine überzeugende Art geführt. Der Fehler<lb/>
liegt wieder darin, daß er zu schnell seine Studien über die Franken auf alle<lb/>
Germanen ausdehnt. &#x2014; Einen bei weitem höhern Werth hat die Darstellung<lb/>
des sechsten Jahrhunderts, die Besitznahme der bisherigen römischen Provinzen<lb/>
durch die deutschen Stämme. Man erlaube uns hier auf das Urtheil Thierrys<lb/>
zurückzugehen, dem wir in jedem Punkt beipflichten. Er schildert die Verwirrung<lb/>
der frühern historischen Schule und den bleibenden Fortschritt!, den die Ge¬<lb/>
schichte seit Guizot gemacht hat. &#x201E;Guizot erhebt sich zu einer Gesammtschau,<lb/>
die von den einzelnen Ereignissen rein absieht, die den zwiefachen Vorzug hat,<lb/>
wie ein Lichtstrahl den gewöhnlichen Verstand zu treffen und in den Augen<lb/>
der genauen und bis ins Kleinliche dringenden Wissenschaft untadelig zu blei¬<lb/>
ben. Mit einem wunderbaren analytischen Talent begabt, dringt er wie<lb/>
spielend Durch die dunkeln Epochen, durch diese Fülle von Widersprüchen, wo<lb/>
die Elemente der Gesellschaft einander bestreiten, oder sich kaum unterscheiden<lb/>
lassen. Er beschreibt ganz ausgezeichnet das Ordnungslose, das Flüchtige, das<lb/>
Unvollständige im gesellschaftlichen Zustand, er läßt herausfühlen und begreifen,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0374] für ihn nicht, weil sie in der französischen Geschichte nicht eristirt. Er betrachtet die allgemeine Civilisation ausschließlich vom Standpunkt eines Franzosen, und man wird es gerechtfertigt finden, wenn wir die allgemeine Geschichte bei Seite lassen und sofort zur Geschichte der französischen Civilisation über¬ gehen.-Z'in^ ^i^es'ijsS^lmj.«Zs-j»gHiÄ ?i<A,',, Die Vorlesungen des Jahres 1829 beschäftigen sich mit der ersten Periode des Mittelalters, mit dem Zeitalter der Merovinger und Karolinger. Zuerst analysirt Guizot die drei Elemente der Gesellschaft im Augenblick der Eroberung. Die Darstellung der Reste des römischen Lebens in der Provinz ist muster¬ haft. Ueber die Zustände der christlichen Kirche im vierten Jahrhundert ent¬ hält das Buch gleichfalls interessante Notizen, namentlich über das Verhältniß der heidnischen, pantheistischen Philosophie zu der christlichen, und den Einfluß der einen auf die andere. Diese Notizen, in denen Guizot durchweg auf die Quellen zurückgeht, haben das Eigenthümliche, daß von der übersinnlichen Bedeutung des Christenthums nicht die Rede ist. Die christliche Kirche wird als geschichtliche Thatsache betrachtet, und ihr Einfluß auf die allgemeine Civi¬ lisation nach rein irdischen Gesichtspunkten erörtert. Bei uns kann sich der radikalste Philosoph, wenn er auf diesen Gegenstand zu sprechen kommt, einer gewissen Symbolik nicht erwehren. Den unmittelbarsten Antheil nehmen wir an der Darstellung der germanischen Gesellschaft. Durch eine Reihe Parallel¬ stellen, wo Tacitus mit den Reisebeschreibern verglichen wird, die über die Indianer berichten, sucht Guizot nachzuweisen, daß die Deutschen vor der Völkerwanderung und während derselben als Barbaren im strengsten Sinn des Worts aufzufassen sind. Für die Franken, die er hier wol ausschließlich im Auge hat, ist der Beweis aus eine überzeugende Art geführt. Der Fehler liegt wieder darin, daß er zu schnell seine Studien über die Franken auf alle Germanen ausdehnt. — Einen bei weitem höhern Werth hat die Darstellung des sechsten Jahrhunderts, die Besitznahme der bisherigen römischen Provinzen durch die deutschen Stämme. Man erlaube uns hier auf das Urtheil Thierrys zurückzugehen, dem wir in jedem Punkt beipflichten. Er schildert die Verwirrung der frühern historischen Schule und den bleibenden Fortschritt!, den die Ge¬ schichte seit Guizot gemacht hat. „Guizot erhebt sich zu einer Gesammtschau, die von den einzelnen Ereignissen rein absieht, die den zwiefachen Vorzug hat, wie ein Lichtstrahl den gewöhnlichen Verstand zu treffen und in den Augen der genauen und bis ins Kleinliche dringenden Wissenschaft untadelig zu blei¬ ben. Mit einem wunderbaren analytischen Talent begabt, dringt er wie spielend Durch die dunkeln Epochen, durch diese Fülle von Widersprüchen, wo die Elemente der Gesellschaft einander bestreiten, oder sich kaum unterscheiden lassen. Er beschreibt ganz ausgezeichnet das Ordnungslose, das Flüchtige, das Unvollständige im gesellschaftlichen Zustand, er läßt herausfühlen und begreifen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/374
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/374>, abgerufen am 23.07.2024.