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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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den Ottonen kräftiger gewordenen Marken Thüringens ging, wie schon früher
gesagt ist, die Wiedereroberung der Mittelelbe aus/ Die Marken Lands-
berg, Meißen, Bautzen, Görlitz wurden von Thüringern besetzt, und sie haben
auch nach Schlesien starke Züge von Einwanderern entsandt, zu denen manche
fränkische gestoßen sein mögen. Die Mundarten aller dieser Landschaften
hängen mit dem thüringischen Dialekte zusammen; man kann sie unter dem
Namen der obersächsischen zusammenfassen.

Fünf Gruppen der deutschen Dialekte haben sich uns hierdurch dar¬
gestellt :

/>) niederdeutsch, mit dem Niederländischen (Nederduitsch).
2) Fränkisch (Niederrheinisch, Mittelrheinisch, Ostfränkisch, Hessisch).
3) Thüringisch (Thüringisch, Meißnisch, Lausitzisch, Schlesisch).
i) Alemannisch (Oberrheinisch, schwäbisch, Elsässtsch).
ü) Bairisch (Bairisch, Nordgauisch, Oestreichisch, Tirolisch, Steirisch,
Kärntisch).

Aus der engen Beziehung der Dialekte auf die alten Stammverhältnisse
ergibt sich ihre Wichtigkeit sür die deutsche Geschichte. So wie diese um Unter¬
stützung für ihre Erforschung angegangen werden muß, so werden sie oft da
Auskunft geben, wo alle Geschichtschreiber und Urkunden schweigen. Der
Unterschied in den Lauten und Bildungen, die Abweichung in dem Wortvorrath
läßt auf verschiedene Herkunft schließen; doch ist dabei nicht außer Acht zu
lassen, wie die Mundarten mit den Jahren sich ebenso vervielfältigen, wie die
Gaue und Stämme ineinanderrannen. Boden und Lust wirken auf die Sprach¬
organe und damit auf die Mundarten kräftiger ein, als diejenigen glauben
mögen, welche auf solches nie achteten. Nicht genug, daß Gebirgsrücken,
große Wälder oder Gewässer Sprachscheiden bilden; selbst kleine Bäche, die
im Sommer versiegen, trennen in ein und demselben Dorfe nicht selten zwei
Mundarten, die auf keiner verschiedenen Abstammung beruhen.

Aus solchen Wahrnehmungen gewinnen diese Forschungen neue Reize.
Die Physiologie der Sprache findet in den Mundarten einen unerschöpflichen
Stoff, der sich weit dankbarer als die Schriftsprachen erweist, weil die Ursachen
den Wirkungen noch näher und erkennbarer liegen.

Und dazu tritt der sprachgeschichtliche Gehalt in seiner unermeßlichen Fülle.
So wenig auch unsere Schriftsprache abgeschlossen ist, fo hat sie doch ein be¬
grenztes Bereich, aus dem sie ihr Material zieht. Im Lauf der Jahrhunderte
sind ganze Geschlechter von Worten abgestorben und ein jüngerer Nachwuchs
emporgeschossen. Viele Reihen haben andere Bedeutungen angenommen; neue
geistige Verbindungen sind geschlossen worden und was der Erzeugnisse deS
nimmerruhenden Sprachgeistes mehr sind. In den Mundarten waltet ein
solcher Wechsel nicht; sie lassen sich der Stetigkeit bäuerlicher Wirthschaft


den Ottonen kräftiger gewordenen Marken Thüringens ging, wie schon früher
gesagt ist, die Wiedereroberung der Mittelelbe aus/ Die Marken Lands-
berg, Meißen, Bautzen, Görlitz wurden von Thüringern besetzt, und sie haben
auch nach Schlesien starke Züge von Einwanderern entsandt, zu denen manche
fränkische gestoßen sein mögen. Die Mundarten aller dieser Landschaften
hängen mit dem thüringischen Dialekte zusammen; man kann sie unter dem
Namen der obersächsischen zusammenfassen.

Fünf Gruppen der deutschen Dialekte haben sich uns hierdurch dar¬
gestellt :

/>) niederdeutsch, mit dem Niederländischen (Nederduitsch).
2) Fränkisch (Niederrheinisch, Mittelrheinisch, Ostfränkisch, Hessisch).
3) Thüringisch (Thüringisch, Meißnisch, Lausitzisch, Schlesisch).
i) Alemannisch (Oberrheinisch, schwäbisch, Elsässtsch).
ü) Bairisch (Bairisch, Nordgauisch, Oestreichisch, Tirolisch, Steirisch,
Kärntisch).

Aus der engen Beziehung der Dialekte auf die alten Stammverhältnisse
ergibt sich ihre Wichtigkeit sür die deutsche Geschichte. So wie diese um Unter¬
stützung für ihre Erforschung angegangen werden muß, so werden sie oft da
Auskunft geben, wo alle Geschichtschreiber und Urkunden schweigen. Der
Unterschied in den Lauten und Bildungen, die Abweichung in dem Wortvorrath
läßt auf verschiedene Herkunft schließen; doch ist dabei nicht außer Acht zu
lassen, wie die Mundarten mit den Jahren sich ebenso vervielfältigen, wie die
Gaue und Stämme ineinanderrannen. Boden und Lust wirken auf die Sprach¬
organe und damit auf die Mundarten kräftiger ein, als diejenigen glauben
mögen, welche auf solches nie achteten. Nicht genug, daß Gebirgsrücken,
große Wälder oder Gewässer Sprachscheiden bilden; selbst kleine Bäche, die
im Sommer versiegen, trennen in ein und demselben Dorfe nicht selten zwei
Mundarten, die auf keiner verschiedenen Abstammung beruhen.

Aus solchen Wahrnehmungen gewinnen diese Forschungen neue Reize.
Die Physiologie der Sprache findet in den Mundarten einen unerschöpflichen
Stoff, der sich weit dankbarer als die Schriftsprachen erweist, weil die Ursachen
den Wirkungen noch näher und erkennbarer liegen.

Und dazu tritt der sprachgeschichtliche Gehalt in seiner unermeßlichen Fülle.
So wenig auch unsere Schriftsprache abgeschlossen ist, fo hat sie doch ein be¬
grenztes Bereich, aus dem sie ihr Material zieht. Im Lauf der Jahrhunderte
sind ganze Geschlechter von Worten abgestorben und ein jüngerer Nachwuchs
emporgeschossen. Viele Reihen haben andere Bedeutungen angenommen; neue
geistige Verbindungen sind geschlossen worden und was der Erzeugnisse deS
nimmerruhenden Sprachgeistes mehr sind. In den Mundarten waltet ein
solcher Wechsel nicht; sie lassen sich der Stetigkeit bäuerlicher Wirthschaft


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[0338] den Ottonen kräftiger gewordenen Marken Thüringens ging, wie schon früher gesagt ist, die Wiedereroberung der Mittelelbe aus/ Die Marken Lands- berg, Meißen, Bautzen, Görlitz wurden von Thüringern besetzt, und sie haben auch nach Schlesien starke Züge von Einwanderern entsandt, zu denen manche fränkische gestoßen sein mögen. Die Mundarten aller dieser Landschaften hängen mit dem thüringischen Dialekte zusammen; man kann sie unter dem Namen der obersächsischen zusammenfassen. Fünf Gruppen der deutschen Dialekte haben sich uns hierdurch dar¬ gestellt : />) niederdeutsch, mit dem Niederländischen (Nederduitsch). 2) Fränkisch (Niederrheinisch, Mittelrheinisch, Ostfränkisch, Hessisch). 3) Thüringisch (Thüringisch, Meißnisch, Lausitzisch, Schlesisch). i) Alemannisch (Oberrheinisch, schwäbisch, Elsässtsch). ü) Bairisch (Bairisch, Nordgauisch, Oestreichisch, Tirolisch, Steirisch, Kärntisch). Aus der engen Beziehung der Dialekte auf die alten Stammverhältnisse ergibt sich ihre Wichtigkeit sür die deutsche Geschichte. So wie diese um Unter¬ stützung für ihre Erforschung angegangen werden muß, so werden sie oft da Auskunft geben, wo alle Geschichtschreiber und Urkunden schweigen. Der Unterschied in den Lauten und Bildungen, die Abweichung in dem Wortvorrath läßt auf verschiedene Herkunft schließen; doch ist dabei nicht außer Acht zu lassen, wie die Mundarten mit den Jahren sich ebenso vervielfältigen, wie die Gaue und Stämme ineinanderrannen. Boden und Lust wirken auf die Sprach¬ organe und damit auf die Mundarten kräftiger ein, als diejenigen glauben mögen, welche auf solches nie achteten. Nicht genug, daß Gebirgsrücken, große Wälder oder Gewässer Sprachscheiden bilden; selbst kleine Bäche, die im Sommer versiegen, trennen in ein und demselben Dorfe nicht selten zwei Mundarten, die auf keiner verschiedenen Abstammung beruhen. Aus solchen Wahrnehmungen gewinnen diese Forschungen neue Reize. Die Physiologie der Sprache findet in den Mundarten einen unerschöpflichen Stoff, der sich weit dankbarer als die Schriftsprachen erweist, weil die Ursachen den Wirkungen noch näher und erkennbarer liegen. Und dazu tritt der sprachgeschichtliche Gehalt in seiner unermeßlichen Fülle. So wenig auch unsere Schriftsprache abgeschlossen ist, fo hat sie doch ein be¬ grenztes Bereich, aus dem sie ihr Material zieht. Im Lauf der Jahrhunderte sind ganze Geschlechter von Worten abgestorben und ein jüngerer Nachwuchs emporgeschossen. Viele Reihen haben andere Bedeutungen angenommen; neue geistige Verbindungen sind geschlossen worden und was der Erzeugnisse deS nimmerruhenden Sprachgeistes mehr sind. In den Mundarten waltet ein solcher Wechsel nicht; sie lassen sich der Stetigkeit bäuerlicher Wirthschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/338>, abgerufen am 23.07.2024.