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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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fort in das Gailthal zurück und wandern auf dem hohen Rücken der karnischen
Alpen neben dem welschen Nachbar in das Gebiet der tridentiner Alpen. Briren
gegenüber wenden wir uns mit der Eisack südlich und schreiten das Etschthal
hinab bis in unsre letzte Station Salurn, etwa drei Fünftel deS Weges von
Botzen nach Trient. Vor dreihundert Jahren reichte das Deutsche bis gegen
diese Bischofs, und Concilsstadt selbst; seitdem ist das Italienische langsam, aber
sicher gen Norden ins Thal hinaufgerückt und hat trotz allen Geschreis der
tiroler Schützen keine Lust stille zu stehn. Der Welschtiroler ist hartnäckig und
schlau. Die deutschen Dörfer im Gebirge um Trient, die dreizehn Gemeinden
bei Verona und die sieben bei Roveredo gehen ebenfalls ihrem Untergange ent¬
gegen. Die Republik Venedig sorgte für deutsche Priester dieser Dörfer; jetzt
geschieht das nicht!----

Von Salurn ab geht das Deutsche auf dem Gebirgszuge bis zur Ortles¬
spitze. Zwischen ihr und dem Se. Gotthard hat sich das Welsche tief in daS
oberste Jnnthal, und am Vorderrhein bis gegen Chur hineingewühlt. Als
Zeugin der früheren Bevölkerung ist die deutsche Insel am oberen Hinterrhein
zu betrachten. Vom Se. Gotthard dringen wir wieder vor; der oberste Lauf der
Rhone bis nach Leut ist deutsch. Und hier kommen wir nach langer Wanderung zu
dem Monte Rosa zurück, unserm festen Wächter gegen Italiener und Franzosen.

Das Reich ist groß, um dessen Grenzen wir gewandert und gesegelt sind.
Jeder weiß, wie mannigfaltig die Redeweise, wie abweichend die sprachlichen
Eigenschaften der einzelnen Provinzen sind. Bis in das 16. Jahrhundert, theil¬
weise bis in daS 17. konnte man von zwei Sprachen reden, die sich in den
Besitz Deutschlands theilten, der hochdeutschen und der niederdeutschen. Seit¬
dem ist aber die letztere ohne literarische Pflege geblieben und zum Dialekt
herabgesunken, zum Besten der geistigen Einheit des gesammten Vaterlandes.
Nur der westliche Zweig, das Niederländische, hat sich auf Grund der politischen
Absonderung als Sprache behauptet, und seit Belgiens Erhebung sucht daS
Flaemische eine ähnlich selbstständige Stellung dem Niederländischen gegenüber
zu erringen, wie dieses gegen das Deutsche.

Die Grenzen der deutschen Dialekte lassen sich nicht durchgängig mit
voller Sicherheit bestimmen, die Schranken der Mundarten nur in einzelnen
Fällen. Auf diesem Felde unsrer Sprachwissenschaft ist noch unendlich viel
zu arbeiten; nur einzelne deutsche Landschaften sind bis jetzt wissenschaftlich
nach dieser Seite Gegenstand der Forschung geworden, so viele auch schon
Wörtersammlungen und Sprachproben aufweisen können. Erst wenn das große
Werk Jakob Grimms weiter geführt ist, wenn die geschichtliche Grammatik die
nöthigen Aus- und Zubauten erhalten haben wird, können in die innere
Sprachkarte Deutschlands die vielen fehlenden Linien eingetragen werden. DaS
Folgende enthält nur allgemeine Fingerzeige.


fort in das Gailthal zurück und wandern auf dem hohen Rücken der karnischen
Alpen neben dem welschen Nachbar in das Gebiet der tridentiner Alpen. Briren
gegenüber wenden wir uns mit der Eisack südlich und schreiten das Etschthal
hinab bis in unsre letzte Station Salurn, etwa drei Fünftel deS Weges von
Botzen nach Trient. Vor dreihundert Jahren reichte das Deutsche bis gegen
diese Bischofs, und Concilsstadt selbst; seitdem ist das Italienische langsam, aber
sicher gen Norden ins Thal hinaufgerückt und hat trotz allen Geschreis der
tiroler Schützen keine Lust stille zu stehn. Der Welschtiroler ist hartnäckig und
schlau. Die deutschen Dörfer im Gebirge um Trient, die dreizehn Gemeinden
bei Verona und die sieben bei Roveredo gehen ebenfalls ihrem Untergange ent¬
gegen. Die Republik Venedig sorgte für deutsche Priester dieser Dörfer; jetzt
geschieht das nicht!----

Von Salurn ab geht das Deutsche auf dem Gebirgszuge bis zur Ortles¬
spitze. Zwischen ihr und dem Se. Gotthard hat sich das Welsche tief in daS
oberste Jnnthal, und am Vorderrhein bis gegen Chur hineingewühlt. Als
Zeugin der früheren Bevölkerung ist die deutsche Insel am oberen Hinterrhein
zu betrachten. Vom Se. Gotthard dringen wir wieder vor; der oberste Lauf der
Rhone bis nach Leut ist deutsch. Und hier kommen wir nach langer Wanderung zu
dem Monte Rosa zurück, unserm festen Wächter gegen Italiener und Franzosen.

Das Reich ist groß, um dessen Grenzen wir gewandert und gesegelt sind.
Jeder weiß, wie mannigfaltig die Redeweise, wie abweichend die sprachlichen
Eigenschaften der einzelnen Provinzen sind. Bis in das 16. Jahrhundert, theil¬
weise bis in daS 17. konnte man von zwei Sprachen reden, die sich in den
Besitz Deutschlands theilten, der hochdeutschen und der niederdeutschen. Seit¬
dem ist aber die letztere ohne literarische Pflege geblieben und zum Dialekt
herabgesunken, zum Besten der geistigen Einheit des gesammten Vaterlandes.
Nur der westliche Zweig, das Niederländische, hat sich auf Grund der politischen
Absonderung als Sprache behauptet, und seit Belgiens Erhebung sucht daS
Flaemische eine ähnlich selbstständige Stellung dem Niederländischen gegenüber
zu erringen, wie dieses gegen das Deutsche.

Die Grenzen der deutschen Dialekte lassen sich nicht durchgängig mit
voller Sicherheit bestimmen, die Schranken der Mundarten nur in einzelnen
Fällen. Auf diesem Felde unsrer Sprachwissenschaft ist noch unendlich viel
zu arbeiten; nur einzelne deutsche Landschaften sind bis jetzt wissenschaftlich
nach dieser Seite Gegenstand der Forschung geworden, so viele auch schon
Wörtersammlungen und Sprachproben aufweisen können. Erst wenn das große
Werk Jakob Grimms weiter geführt ist, wenn die geschichtliche Grammatik die
nöthigen Aus- und Zubauten erhalten haben wird, können in die innere
Sprachkarte Deutschlands die vielen fehlenden Linien eingetragen werden. DaS
Folgende enthält nur allgemeine Fingerzeige.


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[0334] fort in das Gailthal zurück und wandern auf dem hohen Rücken der karnischen Alpen neben dem welschen Nachbar in das Gebiet der tridentiner Alpen. Briren gegenüber wenden wir uns mit der Eisack südlich und schreiten das Etschthal hinab bis in unsre letzte Station Salurn, etwa drei Fünftel deS Weges von Botzen nach Trient. Vor dreihundert Jahren reichte das Deutsche bis gegen diese Bischofs, und Concilsstadt selbst; seitdem ist das Italienische langsam, aber sicher gen Norden ins Thal hinaufgerückt und hat trotz allen Geschreis der tiroler Schützen keine Lust stille zu stehn. Der Welschtiroler ist hartnäckig und schlau. Die deutschen Dörfer im Gebirge um Trient, die dreizehn Gemeinden bei Verona und die sieben bei Roveredo gehen ebenfalls ihrem Untergange ent¬ gegen. Die Republik Venedig sorgte für deutsche Priester dieser Dörfer; jetzt geschieht das nicht!---- Von Salurn ab geht das Deutsche auf dem Gebirgszuge bis zur Ortles¬ spitze. Zwischen ihr und dem Se. Gotthard hat sich das Welsche tief in daS oberste Jnnthal, und am Vorderrhein bis gegen Chur hineingewühlt. Als Zeugin der früheren Bevölkerung ist die deutsche Insel am oberen Hinterrhein zu betrachten. Vom Se. Gotthard dringen wir wieder vor; der oberste Lauf der Rhone bis nach Leut ist deutsch. Und hier kommen wir nach langer Wanderung zu dem Monte Rosa zurück, unserm festen Wächter gegen Italiener und Franzosen. Das Reich ist groß, um dessen Grenzen wir gewandert und gesegelt sind. Jeder weiß, wie mannigfaltig die Redeweise, wie abweichend die sprachlichen Eigenschaften der einzelnen Provinzen sind. Bis in das 16. Jahrhundert, theil¬ weise bis in daS 17. konnte man von zwei Sprachen reden, die sich in den Besitz Deutschlands theilten, der hochdeutschen und der niederdeutschen. Seit¬ dem ist aber die letztere ohne literarische Pflege geblieben und zum Dialekt herabgesunken, zum Besten der geistigen Einheit des gesammten Vaterlandes. Nur der westliche Zweig, das Niederländische, hat sich auf Grund der politischen Absonderung als Sprache behauptet, und seit Belgiens Erhebung sucht daS Flaemische eine ähnlich selbstständige Stellung dem Niederländischen gegenüber zu erringen, wie dieses gegen das Deutsche. Die Grenzen der deutschen Dialekte lassen sich nicht durchgängig mit voller Sicherheit bestimmen, die Schranken der Mundarten nur in einzelnen Fällen. Auf diesem Felde unsrer Sprachwissenschaft ist noch unendlich viel zu arbeiten; nur einzelne deutsche Landschaften sind bis jetzt wissenschaftlich nach dieser Seite Gegenstand der Forschung geworden, so viele auch schon Wörtersammlungen und Sprachproben aufweisen können. Erst wenn das große Werk Jakob Grimms weiter geführt ist, wenn die geschichtliche Grammatik die nöthigen Aus- und Zubauten erhalten haben wird, können in die innere Sprachkarte Deutschlands die vielen fehlenden Linien eingetragen werden. DaS Folgende enthält nur allgemeine Fingerzeige.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/334>, abgerufen am 23.07.2024.