Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.sind. Das Bedürfniß der Gläubigen nach diesen Legenden war unersättlich, Wenn der Glaube, den die katholische Heiligenlegende im Mittelalter sind. Das Bedürfniß der Gläubigen nach diesen Legenden war unersättlich, Wenn der Glaube, den die katholische Heiligenlegende im Mittelalter <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0300" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103433"/> <p xml:id="ID_1075" prev="#ID_1074"> sind. Das Bedürfniß der Gläubigen nach diesen Legenden war unersättlich,<lb/> aber die mythenbildende Substanz war nicht minder unerschöpflich in seiner<lb/> Befriedigung. Die große holländische Sammlung von Lebensgeschichten der<lb/> Heiligen, die das ganze Jahr umfassen sollte, erstreckt sich nur aus die neun<lb/> ersten Monate von Januar bis October, die dreiundfünfzig Foliobände ein¬<lb/> nehmen. Der Monat April füllt drei Bände und gibt die Biographien von<lb/> 1472 Heiligen. Hätte sich die Sammlung über das ganze Jahr erstreckt, so<lb/> würde die Gesammtzahl der Biographien mindestens 23,000, vielleicht noch<lb/> mehr betragen haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1076" next="#ID_1077"> Wenn der Glaube, den die katholische Heiligenlegende im Mittelalter<lb/> fand, völlig dem Glauben der Griechen im mythenbildenden Zeitalter an ihre<lb/> Heldensage entspricht, so gleicht sich auch die Kritik, die spätere ungläubige<lb/> Perioden in Bezug auf beide Gattungen der Sage geübt haben, außerordent¬<lb/> lich. Diese Kritik findet eine Intervention der.Gottheit in außerordentlichen<lb/> Fällen und bei großen Ereignissen glaubwürdig oder doch wenigstens motivirt,<lb/> aber ein fortwährendes Eingreifen in den naturgemäßen Gang der Dinge er¬<lb/> scheint ihr nicht mit der göttlichen Würde verträglich. Der geistvolle Literar¬<lb/> historiker Ampere findet es in der Legende des heiligen Columbanus kindisch,<lb/> daß ein Rabe dem Heiligen seine Handschuhe holt. Aber dieser Zug ist ganz<lb/> im Charakter des mythenbildenden Zeitalters. Nach einer griechischen Sage,<lb/> die Hestod erzählt, wurde Apollo von der Untreue einer Geliebten durch einen<lb/> Naben benachrichtigt. Pindar, der einen sehr hohen Begriff von der Würde<lb/> der Götter hatte, fand dieses mit der Allwissenheit des Orakelgottes nicht ver¬<lb/> einbar und ließ es aus; wofür er von einem altgriechischen Commentator sehr<lb/> gelobt wird, der ganz wie Ampere die Geschichte mit einem Naben für kindisch<lb/> erklärt. Sobald man einmal Wunder statuirt, muß es in der That dem Ge¬<lb/> fühl jedes Einzelnen überlassen bleiben, welche Erscheinung er zu den wunder¬<lb/> baren, und welche zu den natürlichen rechnen will. Die Worte des alten Ge¬<lb/> schichtschreibers Dionysius von Halikarnaß über ein Wunder, das Vesta geschehen<lb/> ließ, um eine ungerecht beschuldigte Jungfrau .von der Anklage zu reinigen,<lb/> könnten heute von einem katholischen Geistlichen geschrieben sein, wenn man<lb/> überall statt „die Götter", Gott oder die Heiligen setzt. „Die Anhänger der<lb/> atheistischen Formen der Philosophie (wenn wir diese Philosophie nennen<lb/> dürfen), die alle sichtbaren Offenbarungen der Götter unter Griechen und<lb/> Barbaren verspotten, werden natürlich auch diese Erzählungen ins Lächerliche<lb/> ziehen, und sie dem eiteln Gerede der Menschen zuschreiben, als wenn über¬<lb/> haupt keiner der Götter sich um die Menschheit kümmere. Diejenigen aber,<lb/> die ihre Forschungen weiter fortgeführt haben und glauben, daß die Götter<lb/> nicht gegen die menschlichen Angelegenheiten gleichgiltig, sondern dem Guten<lb/> geneigt und dem Schlechten feindlich gesinnt seien, diese werden solche -sicht-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0300]
sind. Das Bedürfniß der Gläubigen nach diesen Legenden war unersättlich,
aber die mythenbildende Substanz war nicht minder unerschöpflich in seiner
Befriedigung. Die große holländische Sammlung von Lebensgeschichten der
Heiligen, die das ganze Jahr umfassen sollte, erstreckt sich nur aus die neun
ersten Monate von Januar bis October, die dreiundfünfzig Foliobände ein¬
nehmen. Der Monat April füllt drei Bände und gibt die Biographien von
1472 Heiligen. Hätte sich die Sammlung über das ganze Jahr erstreckt, so
würde die Gesammtzahl der Biographien mindestens 23,000, vielleicht noch
mehr betragen haben.
Wenn der Glaube, den die katholische Heiligenlegende im Mittelalter
fand, völlig dem Glauben der Griechen im mythenbildenden Zeitalter an ihre
Heldensage entspricht, so gleicht sich auch die Kritik, die spätere ungläubige
Perioden in Bezug auf beide Gattungen der Sage geübt haben, außerordent¬
lich. Diese Kritik findet eine Intervention der.Gottheit in außerordentlichen
Fällen und bei großen Ereignissen glaubwürdig oder doch wenigstens motivirt,
aber ein fortwährendes Eingreifen in den naturgemäßen Gang der Dinge er¬
scheint ihr nicht mit der göttlichen Würde verträglich. Der geistvolle Literar¬
historiker Ampere findet es in der Legende des heiligen Columbanus kindisch,
daß ein Rabe dem Heiligen seine Handschuhe holt. Aber dieser Zug ist ganz
im Charakter des mythenbildenden Zeitalters. Nach einer griechischen Sage,
die Hestod erzählt, wurde Apollo von der Untreue einer Geliebten durch einen
Naben benachrichtigt. Pindar, der einen sehr hohen Begriff von der Würde
der Götter hatte, fand dieses mit der Allwissenheit des Orakelgottes nicht ver¬
einbar und ließ es aus; wofür er von einem altgriechischen Commentator sehr
gelobt wird, der ganz wie Ampere die Geschichte mit einem Naben für kindisch
erklärt. Sobald man einmal Wunder statuirt, muß es in der That dem Ge¬
fühl jedes Einzelnen überlassen bleiben, welche Erscheinung er zu den wunder¬
baren, und welche zu den natürlichen rechnen will. Die Worte des alten Ge¬
schichtschreibers Dionysius von Halikarnaß über ein Wunder, das Vesta geschehen
ließ, um eine ungerecht beschuldigte Jungfrau .von der Anklage zu reinigen,
könnten heute von einem katholischen Geistlichen geschrieben sein, wenn man
überall statt „die Götter", Gott oder die Heiligen setzt. „Die Anhänger der
atheistischen Formen der Philosophie (wenn wir diese Philosophie nennen
dürfen), die alle sichtbaren Offenbarungen der Götter unter Griechen und
Barbaren verspotten, werden natürlich auch diese Erzählungen ins Lächerliche
ziehen, und sie dem eiteln Gerede der Menschen zuschreiben, als wenn über¬
haupt keiner der Götter sich um die Menschheit kümmere. Diejenigen aber,
die ihre Forschungen weiter fortgeführt haben und glauben, daß die Götter
nicht gegen die menschlichen Angelegenheiten gleichgiltig, sondern dem Guten
geneigt und dem Schlechten feindlich gesinnt seien, diese werden solche -sicht-
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